Europäisches Parlament beschließt Asylreform - „Offizielle Bankrotterklärung linker Migrationspolitik“

Das Europäische Parlament beschloss am vergangenen Mittwoch ein schärferes Asylrecht. Der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt ist sich im Interview dennoch sicher, dass die Asylreform nur als erster Schritt verstanden werden kann.

Migranten befinden sich südlich der Insel Lampedusa auf einem Boot / picture alliance
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Werner J. Patzelt ist einer der bekanntesten Politikwissenschaftler in Deutschland. Von 1991 bis 2019 war er Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Derzeit ist er Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegium in Brüssel.

Herr Patzelt, am vergangenen Mittwoch hat das Europäische Parlament für ein schärferes Asylrecht gestimmt. Was beinhaltet die neue Asylreform?

Erstens verstärken die Staaten an den Außengrenzen der EU ihre Grenzkontrollen. Die Identität von Migranten wird verlässlich festgestellt. Man bringt sie grenznah unter und klärt in einem schnellen Verfahren, ob sie überhaupt die Chance auf Bleiberecht in der EU haben. Bislang wurde allerdings behauptet, das alles ginge gar nicht. Fortan soll die gigantisch lange Grenze der EU trotzdem so gesichert werden.

Zweitens sollen bleibeberechtigte Migranten nach einem vorab festgelegten Schlüssel auf die Staaten der EU verteilt werden. Drittens sollen jene Staaten Strafzahlungen an die EU leisten, die ihre Quote an Migranten nicht aufnehmen wollen.

Werner J. Patzelt / dpa

Wie bewerten Sie die Asylreform?

Es ist der Beginn des Überganges von einer ideologischen Phase europäischer Migrationspolitik hin zu einer realistischen Phase. Das ist ein erforderlicher und im Grunde richtiger Schritt. Diese Reform führt aber noch lange nicht zu einer EU-weit akzeptierten Politik.

Sind die angekündigten Maßnahmen ausreichend, um die anhaltend hohe Migration in die Europäische Union zu begrenzen?

Vorab: Eine Begrenzung von Migration nach Europa wird nur dann gelingen, wenn die EU-Außengrenzen abschreckend wirken, nämlich so: Eine Ankunft am EU-Gebiet führt nur dann zu einem längeren Aufenthalt in der EU, wenn man unmittelbar kriegsbedroht ist oder persönlich politisch verfolgt wird oder schon mit Einreisegenehmigung kommt. Das klingt hart. Doch solange es keinen starken Rückgang der Migrantenzahlen gibt, kann weder eine grenznahe Unterbringung von Migranten durchgehalten noch deren quotierte Verteilung durchgesetzt werden. Also ist die Reform nicht umsetzbar, solange die Zahl der selbstermächtigt Zuwanderenden deutlich über dem Millionenbereich liegt. Doch die neue Regelung entfaltet nicht nur auf dem Papier keine Abschreckung, sondern wird in Deutschland unmittelbar auch wenig ändern.

Was meinen Sie damit?

Beschlüsse des Europäischen Parlaments werden nicht automatisch zu nationalem Recht. Sie in solches umzusetzen, kann lange dauern. Weder werden wir rasch wissen, wie das neue Asylsystem in der Praxis aussehen wird, noch absehen können, wie es konkret wirken wird. Außerdem gibt es viele NGOs und nationale Parteien, denen die neuen Asylregeln ohnehin nicht gefallen. Sie werden jede Möglichkeit nutzen, durch Klageerhebung beim Europäischen Gerichtshof oder auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die von der EU – oder entsprechend von EU-Staaten – gesetzten Rechtsnormen praktisch unwirksam zu machen. Solche strategische Prozessherbeiführung ist inzwischen ohnehin üblich: Wer eine bestimmte EU-Politik nicht will, der zieht vor einen passenden europäischen Gerichtshof – und bekommt dort, dank einer bislang eher „progressiven“ Zusammensetzung der Richterschaft, dann oft genug Recht.

Haben Sie ein Beispiel?

In der letzten Woche wurde die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dazu verurteilt, endlich Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, weil ihre bisherige Politik Menschenrechte älterer Frauen verletze.

Insbesondere in osteuropäischen Ländern wie Polen oder Ungarn ist die deutsche Migrationspolitik scharf kritisiert und ein stärkerer Abschottungskurs auf europäischer Ebene gefordert worden. Wie blicken diese Länder auf das neue Asylrecht der Europäischen Union? Ist der innereuropäische Streit damit ausgeräumt?

In Ungarn, Polen, der Slowakei und Tschechien hält man die Verschärfung des Asylrechts für eine Bestätigung ihrer jahrelangen migrationsabweisenden Haltung sowie der von ihnen ergriffenen Maßnahmen. Vor allem die ungarische Regierung fühlt sich nun ins Recht gesetzt und hofft, dass es bald auch auf anderen Politikfeldern zur EU-Angleichung an bislang kritisierte eigene Politik kommen wird.

Das neue Asylrecht beinhaltet allerdings auch Strafzahlungen für Länder, die im Rahmen des neuen Verteilungsmechanismus keine Migranten aufnehmen werden. Wie wird dies in den von Ihnen zuvor genannten Ländern wahrgenommen?

Gegen die reale Auferlegung von Strafzahlungen werden sich diese Länder mit Nachdruck wehren. Wie man diesen Widerstand vollzieht, muss politisch entschieden werden, und zwar entlang von strategischen und taktischen Überlegungen. Ein möglicher Spielzug wäre die Forderung, die zu zahlenden Strafbeträge mit jenen Milliardensummen zu verrechnen, die einem Staat – wie weiterhin Ungarn und vor kurzem noch Polen – im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren oder des Konditionalitätsmechanismus vorenthalten werden.

Außerdem kann man darüber streiten, bei welchen Gesetzesbeschlüssen es im Ministerrat Einstimmigkeit statt der üblichen Mehrheitsentscheidungen geben muss. Seit der „Politik des leeren Stuhls“ von General de Gaulle im Jahr 1965/66 gilt als Grundregel: Wann immer zentrale Interessen eines Mitgliedslandes der EU betroffen sind, darf ein Land auf Einstimmigkeit bestehen, sich also ein Vetorecht zuschreiben. Ob der Rat der EU entsprechende Strafzahlungen durchsetzen wird, ist also fraglich.

 

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In den vergangenen Jahren führten gerade Sozialdemokraten und Grüne oftmals das Argument an, dass der Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union unmöglich sei. Doch haben Sozialdemokraten und Grüne mehrheitlich in dieser Woche für die neue Asylreform gestimmt. Haben sie sich damit nicht selbst widerlegt?

Es ist damals der Unterschied zwischen rechtlicher und physischer Unmöglichkeit absichtlich verwischt worden. Doch manches, was rechtlich als unmöglich erschien, war physisch immer schon möglich. Nur weil man die Zurückweisung von Migranten ideologisch nicht wollte, hat man betont, das sei nicht nur rechtlich, sondern auch physisch unmöglich. Jetzt scheint man Abweisungen wollen zu müssen – und das ändert die Argumentation.

Doch warum kam es nun zu einem derartigen Richtungswechsel?

Obwohl es vielen Linken und Grünen nicht passt, dass Deutschland und die EU nicht alle selbstermächtigten Zuwanderer aufnehmen wollen, und obwohl entsprechende Kritik oft genug wirklichen moralischen Überzeugungen entspricht, haben viele eben doch inzwischen gemerkt: Die Rede von „Grenzen der Aufnahmefähigkeit“ ist keine rassistische Schutzbehauptung, sondern beschreibt schlicht, was wirklich der Fall ist. Tatsächlich sind in gar nicht wenigen Wohnvierteln und Schulen die Grenzen der Aufnahmefähigkeit klar erreicht. Mehr und mehr Kommunalpolitiker von SPD und Grünen erkennen das auch.

Im Übrigen kommt der Aufstieg der AfD wesentlich davon, dass seitens der deutschen Bundesregierungen seit über einem Jahrzehnt keine wirksamen Eindämmungsmaßnahmen selbstermächtigter Einwanderung ergriffen wurden. Ein großer Teil nicht nur der Deutschen fühlte sich deshalb von der Politik im Stich gelassen und ließ sich deshalb auf rechtspopulistische Parteien ein. Das allmählich begreifend meinen nun auch Grüne und Linke, dass sie mit diesem Trend wirkungsvoller als bislang umgehen sollten. Das aber verlangt nach Beseitigung der politischen Hauptursache des Aufstiegs der AfD, also nach einer zuwanderungsbegrenzenden Migrationspolitik.

Sie sprachen zu Beginn unseres Gespräches von einem Übergang einer ideologischen Phase der europäischen Migrationspolitik hin zu einer realistischen Phase. Erleben wir das auch mit Blick auf Deutschland?

Blicken Sie auf die Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die lehnte Grenzkontrollen zunächst ab, führte sie dann ein und verlängert sie aufgrund ihrer wünschenswerten Folgen inzwischen regelmäßig. Obendrein erklärte sie unlängst auch noch, es gebe wirklich den so lange bestrittenen Zusammenhang zwischen steigender Migration und zunehmender Kriminalität. Faktisch ist das eine offizielle Bankrotterklärung linker Migrationspolitik. Also wird die nun auch schrittweise verändert.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

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„So kann Integration nicht funktionieren“ 

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