Afghanistan nach dem Abzug der Alliierten - Warum der Westen mit den Taliban kooperieren sollte

Die Taliban haben wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Jetzt stellt sich die Frage: Wie soll man mit den neuen Herrschern umgehen? Realistischerweise haben nicht nur Russland oder China ein Interesse an vernünftigen Beziehungen zu ihnen. Sondern insbesondere auch die Staaten Europas und der EU.

Ein afghanischer Taliban-Kämpfer mit Taliban-Flagge in Kabul / picture alliance
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Autoreninfo

Ridvan Bari Urcosta ist Research Fellow am Institut für internationale Beziehungen der Universität Warschau und Analyst bei Geopolitical Futures.

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Da die Taliban in Afghanistan wieder einmal zu einer politischen Institution werden, stellt sich die Frage, welche Art von Regierung sie sein wollen. Die Innenpolitik ist eine Sache, ihre Außenpolitik (falls sie diese überhaupt anstreben) eine ganz andere. Werden sie sich beispielsweise ins regionale System der zentralasiatischen Autarkien einfügen? Oder entwickelt sich Afghanistan unter der Taliban-Herrschaft doch wieder zu einer Basis für den weltweiten islamischen Radikalismus? 

Die Antworten darauf werden erhebliche Auswirkungen auf Russland, China und in geringerem Maße auch auf Indien und die Türkei haben. Denn diese Länder haben ein Interesse daran, die Beziehungen zu einer Taliban-Regierung aufrechtzuerhalten, auch wenn sie sich ernsthaft Sorgen darüber machen, was eine gestärkte Taliban-Regierung für ihre eigenen Territorien bedeuten könnte.

Die Taliban und der Islamische Staat

Es ist bekannt, dass Taliban-Führer Mullah Mohammed Omar Afghanistan vor der Invasion im Jahr 2001 nach den Grundsätzen der Scharia regierte. Aber es gilt auch zu bedenken, dass Afghanistan zu dieser Zeit ein islamischer Staat war, nicht der Islamische Staat. Die Taliban haben ihre Fahne nie weit über ihre Landesgrenzen hinaus getragen (was freilich nicht daran lag, dass sie es nicht versucht hätten). 1998 erklärte Omar, Ziel seiner Bewegung sei es, „das Unheil im Land zu beenden, Frieden und Sicherheit zu schaffen, Leben, Reichtum und Ehre zu schützen und die Scharia durchzusetzen, den Dschihad gegen die nach Macht strebenden Führer zu führen und das Land Afghanistan zu einem vorbildlichen Staat zu machen“. 

Als Experiment des transnationalen Dschihadismus mag Afghanistan gescheitert sein, jedoch wurde es zu einem der wichtigsten Zufluchtsorte für terroristische Gruppen in der ganzen Welt.

Mitte der 2010er Jahre trat der Islamische Staat im Irak auf den Plan. Davor gab es viele andere islamistische Gruppen – al-Qaida, Hamas, die Muslimbruderschaft, die Taliban, die Hisbollah, den Palästinensischen Islamische Dschihad, den Ägyptischen Islamischen Dschihad, Boko Haram, Hizb ut-Tahrir und das Kaukasus-Emirat, um nur einige zu nennen. Aber keine davon stellte eine derart systemische Bedrohung dar wie der IS. Für die anderen Gruppen war das Kalifat zweitrangig – nicht weil sie es nicht wollten, sondern weil sie glaubten, die historischen Bedingungen dafür seien noch nicht gegeben. 

Außerdem wurden viele dieser Gruppen aus geografischen und ethnischen Gründen gegründet und waren daher nicht unmittelbar an einer globalen Vorherrschaft interessiert. Als extraterritoriale Einheit war der IS anders und für diejenigen, die von seinen Anschlägen bedroht waren, beängstigender. Jetzt, da die Taliban wieder an der Macht sind, lassen in Afghanistan operierende Gruppen wie der Islamische Staat-Khorasan (IS-K) diese Ängste wieder aufleben.

Die Taliban und der IS

Solche Befürchtungen aber sind womöglich ein wenig unangebracht. Die Beziehungen zwischen den Taliban und dem Islamischen Staat waren von Anfang an eisig. Die Taliban betrachteten den IS stets als eine fremde Macht im Land und damit als politischen Gegner, und ihre ideologischen Unterschiede sind so groß, dass die von den Taliban praktizierten hanafitischen Grundsätze des Islam von den Salafisten des IS und anderen panislamistischen Organisationen als ketzerisch angesehen werden. Außerdem ist es für die Taliban wichtig, ein gewisses Maß an Normalisierung und Stabilität zu erreichen. Dazu könnte durchaus die Bereitschaft gehören, gegen den IS zu kämpfen.

Die neue Taliban-Regierung steht also vor zwei Herausforderungen. Die erste besteht darin, internationale Anerkennung und Legitimität zu erlangen, damit sie regieren, Handel treiben, Investitionen tätigen und am globalen System teilhaben kann (wenn sie das will). Die zweite besteht darin, extremistische Gruppen oder andere Rebellen daran zu hindern, ihre Herrschaft anzufechten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich IS-K als Teil eines künftigen Kalifats sieht und ein Großteil seiner Führung aus ehemaligen Taliban-Kämpfern besteht. Mit anderen Worten: Einige Gruppierungen der Taliban teilen die globale revolutionäre Agenda des Islamischen Staates und sind daher möglicherweise weniger geneigt, einen Nationalstaat aufzubauen.

Ob es nun gefällt oder nicht: Mit internationaler Anerkennung und Rückendeckung lassen sich diese Herausforderungen möglicherweise leichter bewältigen. Eurasische Mächte wie Russland, China, die Türkei, der Iran und die Europäische Union könnten die Taliban durchaus unterstützen, wenn sie der Gruppe zutrauen, zumindest die Stabilität wieder herzustellen – insbesondere, wenn ein halbwegs stabiles Afghanistan als Bollwerk gegen den Islamischen Staat genutzt werden kann.

Besorgnis der eurasischen Mächte

Es war nicht leicht, den Islamischen Staat zu besiegen, aber es war auch nicht schwer, eine Koalition gegen ihn zu schmieden. Als der IS im Irak an die Macht kam, befand er sich in der Nähe strategisch wichtiger Orte wie der Türkei, dem Nordkaukasus, dem Balkan und damit letztlich der gesamten EU. Der IS war auch eine existenzielle Bedrohung für die regionalen arabischen Monarchien.

Ob zu Recht oder zu Unrecht, Afghanistan selbst gilt als weniger wichtig. Niemand wird derzeit eine internationale Militärtruppe zusammenschustern, um die Taliban zu schützen oder zu vertreiben. Aber Notwendigkeiten bestimmen oft das Verhalten, und wenn die internationalen Mächte den IS für eine größere Bedrohung halten als die Taliban, könnten sie die Taliban stillschweigend unterstützen – wenn auch nicht direkt materiell.

Jede der eurasischen Großmächte hat ihre eigenen Sorgen, wenn es um Afghanistan und um das Wiederaufleben der Taliban geht. Beginnen wir mit Russland. Moskau hat eine lange Geschichte im Kampf gegen den islamischen Extremismus im Nordkaukasus, insbesondere in den unruhigen Regionen Tschetschenien und Dagestan. In den 1990er Jahren sah es sich dort mit erheblichem Widerstand der nicht-slawischen muslimischen Bevölkerung konfrontiert, und der Kreml begann sogar einen regelrechten Krieg gegen die Tschetschenen und andere Gruppen in der Region.

Pulverfass Nordkaukasus

Östlich des Nordkaukasus hat Moskau immer noch erheblichen Einfluss auf die ehemaligen Sowjetstaaten Zentralasiens. Diese Länder erlebten vor zwei Jahrzehnten, als sie gerade unabhängig wurden, selbst einen Kampf zwischen säkularen und islamischen extremistischen Kräften. Heute haben sie ebenfalls Einfluss auf das Geschehen in Russland, zumal Millionen von Migranten aus Zentralasien und Russen mit zentralasiatischen Wurzeln in Russland leben. Da drei zentralasiatische Staaten an Afghanistan grenzen, ist Moskau besorgt, dass die dortige Instabilität auf Zentralasien übergreifen und sich dann auf den Nordkaukasus ausbreiten könnte.

In der Tat hat sich das Profil der Terroristen in Russland in den vergangenen Jahren verändert. Die Zahl der Terroristen zentralasiatischer Herkunft hat im Vergleich zu den aus dem Nordkaukasus stammenden Terroristen zugenommen. Auch der Islamische Staat ist unter diesen Gruppen zunehmend einflussreich. Nach Angaben des russischen Geheimdienstes FSB teilten 2015 rund 20 Prozent der muslimischen Bevölkerung in der fernöstlichen Region Chabarowsk, die zumeist aus Einwanderern besteht, die Ansichten und Visionen des Islamischen Staates. 

Die zunehmenden Spannungen zwischen ethnischen Russen und Einwanderern aus Zentralasien in russischen Großstädten haben in den letzten Jahren auch zu einer weiteren Isolierung und Radikalisierung dieser Gruppen geführt. Für Moskau ist es daher entscheidend, dass säkulare Regime in Zentralasien an der Macht bleiben. Diese Regime selbst zeigten sich zunehmend besorgt über die Lage in Afghanistan, als die Regierung in Kabul zu bröckeln begann. Die von Russland geführte „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, der unter anderem drei zentralasiatische Staaten angehören, hat in den letzten Wochen in Tadschikistan nahe der afghanischen Grenze groß angelegte Militärübungen durchgeführt.

Chinas Sorgen wegen der Uiguren

Russland und die zentralasiatischen Staaten stimmten ihre Reaktionen auch eng mit China ab, dessen eigene Bedenken in Bezug auf Afghanistan mit der uigurischen Bevölkerung zusammenhängen. Die mehrheitlich muslimischen Uiguren sind in Chinas östlicher Provinz Xinjiang konzentriert, was Peking einen Vorteil gegenüber einem Land wie Russland verschafft, wo die muslimische Bevölkerung über das ganze Land verstreut ist. Dennoch ist Xinjiang über den Wakhan-Korridor mit Afghanistan verbunden, was bedeutet, dass extremistische Elemente dort immer noch eine Gefahr für Peking darstellen.

Die Besorgnis Indiens und Pakistans über das Wiedererstarken der Taliban bezieht sich auf die umstrittene Region Kaschmir. Pakistan wird von Indien wegen seiner langjährigen Unterstützung der Taliban und ähnlicher militanter Gruppen kritisiert. Der Aufstieg der Taliban hat Pakistans Position in der Region gestärkt; die extremistischen Aktivitäten in Kaschmir haben daher das Potenzial, Pakistan und Indien in eine direkte Konfrontation zu verwickeln. Pakistan unterhält auch enge Beziehungen zu China, das in der Laddakh-Region östlich von Kaschmir territoriale Streitigkeiten mit Indien hat. Indien muss daher die mögliche Reaktion Chinas auf seine Schritte gegen Pakistan berücksichtigen.

Die Türkei ist in Afghanistan nicht so gut positioniert wie die anderen eurasischen Länder, aber sie hat Maßnahmen ergriffen, um in der politischen und diplomatischen Sphäre aktiv zu bleiben. Ankara versucht, seinen Einfluss in Zentralasien durch wirtschaftliche Investitionen und durch die Nutzung seiner kulturellen Beziehungen zu anderen türkischen Nationen in der Region auszuweiten. Mit Blick auf Afghanistan macht man sich Sorgen, dass Extremisten die Probleme vor der eigenen Haustür wieder aufflammen lassen könnten. Die Hizb ut-Tahrir, eine transnationale Gruppe, die ein globales Kalifat errichten will, ist besonders besorgniserregend, weil sie versucht, die Turkvölker Zentralasiens zu vereinen.

Die eurasischen Mächte haben gegenüber den Taliban vorerst eine eher abwartende Haltung eingenommen. Obwohl die Taliban das Land zum Islamischen Emirat Afghanistan erklärt haben, ist die internationale Gemeinschaft nicht bereit, eine Kampftruppe gegen sie zusammenzustellen. Die Koalition gegen den IS wurde nicht nur wegen der terroristischen Bedrohung durch diese Gruppe gebildet. Sondern auch, weil der Westen, die eurasischen Mächte sowie die säkularen und gemäßigten muslimischen Regime im Nahen Osten eine Bewegung unterdrücken wollten, die den ersten ernsthaften Anspruch auf den Kalifatsstatus seit dem Osmanischen Reich erhob. 

Aber die Taliban sind anders. Ihre islamische Revolution beschränkt sich auf Afghanistan.

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