Abschiebeoffensive in Pakistan - Frist für afghanische Flüchtlinge abgelaufen

Pakistan hatte afghanischen Flüchtlingen eine Frist für die Rückkehr in ihre Heimat gesetzt. Diese ist nun abgelaufen. Offenbar plant das Land deshalb, 1,7 Millionen Menschen zwangsweise abzuschieben. Die europäischen Staatschefs täten gut daran, sich mit Kritik zurückzuhalten.

Menschen ohne gültigen Papiere werden in Karachi festgenommen / picture alliance
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Shantanu Patni studiert Osteuropa-Studien an der Freien Universität Berlin. 

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Anfang Oktober kündigte die pakistanische Übergangsregierung an, dass alle afghanischen Flüchtlinge, die sich illegal im Land aufhalten, Pakistan bis Ende des Monats verlassen müssen. Nach Angaben des pakistanischen Innenministeriums sind in den vergangenen zwei Monaten bereits rund 200.000 Menschen freiwillig in ihre Heimat zurückgekehrt. Insgesamt leben jedoch rund vier Millionen Afghanen in Pakistan. Viele von ihnen haben ihr ganzes Leben dort verbracht. Schätzungsweise 1,7 Millionen von ihnen leben ohne jegliche Papiere.

Die pakistanische Menschenrechtskommission (Human Rights Commission of Pakistan, HRCP) äußerte sich besorgt über die Entscheidung der Regierung und forderte den UN-Flüchtlingskommissar auf, Druck auf die Regierung auszuüben. „Wir glauben, dass humanitäre Belange Vorrang vor Sicherheitsinteressen haben müssen.“ Die Menschenrechtskommission beklagte, dass Pakistan über kein nationales Asylsystem verfügt und Fragen im Zusammenhang mit afghanischen Flüchtlingen durch „Ad-hoc- und Ermessensmaßnahmen“ beantwortet.

Spannungen zwischen Islamabad und Kabul

Seit der erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern stetig verschlechtert. Im Mittelpunkt dieses Streits steht eine Gruppe namens „Tehrik-i-Taliban“ (TTP), die eine Vielzahl radikal-islamischer Separatistengruppen und Aufständischer umfasst und oft als „pakistanische Taliban“ bezeichnet wird. Die Organisation ist zwar mit den afghanischen Taliban verbündet, da sie dieselbe Ideologie teilen, handelt aber unabhängig von der Regierung in Kabul. Aus Ärger über die Zusammenarbeit Pakistans mit Washington im Kampf gegen den Terrorismus hat sich die Gruppe 2007 offiziell gegründet, um zum einen gegen Pakistan zu arbeiten und zum anderen die Taliban gegen die US- und Nato-Truppen zu unterstützen.

Die TTP-Terroristen versteckten sich früher im Nordwesten Pakistans in ihren Stammesgebieten und fanden bei Bedarf Zuflucht in Afghanistan, lebten aber meist auf der Flucht. Nach ihrer Machtübernahme begannen die Taliban, der TTP offen Unterschlupf zu gewähren. Die afghanischen Taliban ließen auch TTP-Führer und -Kämpfer frei, die von Vorgängerregierungen in Kabul verhaftet worden waren. Infolgedessen ist die Gruppe risikobereiter geworden. Die Zwischenfälle entlang der Grenze haben erheblich zugenommen. In diesem Jahr gab es etwa 28 Selbstmordattentate. Mehr als die Hälfte davon wurde nach Angaben der pakistanischen Regierung von Personen afghanischer Nationalität verübt. Das Hauptziel sind die pakistanischen Sicherheitsdienste.

Die Taliban wurden folglich von der pakistanischen Regierung unter Druck gesetzt, denjenigen, die auf pakistanischem Boden Terroranschläge verübt haben, keinen sicheren Hafen mehr zu bieten. Die Taliban haben Islamabad wiederholt versichert, dass sie niemandem, einschließlich der TTP, erlauben, von Afghanistan aus Angriffe auf die pakistanischen Sicherheitskräfte zu verüben. Doch die pakistanischen Behörden glauben das nicht. Worte und Taten der Taliban stimmen miteinander nicht überein, ist die Regierung in Islamabad überzeugt.

Mit Abschiebungen lassen sich Wählerstimmen gewinnen

Die jüngste Ankündigung, Afghanen auszuweisen, hat jedoch mehr mit der innenpolitischen Situation Pakistans zu tun. Das Land befindet sich in einem Zustand des Aufruhrs. Die Wirtschaft liegt darnieder. Das politische System ist so gut wie zusammengebrochen. Die Wahlen, die eigentlich im November hätten stattfinden sollen, nachdem das Parlament im August aufgelöst worden war, sind nun für Januar 2024 angesetzt. Mit den Abschiebungen lassen sich Wählerstimmen gewinnen.

Der letzte demokratisch gewählte Premierminister, Imran Khan, der immer noch der beliebteste Politiker des Landes ist, sitzt wegen einer Reihe von Vorwürfen im Gefängnis. Im April 2022, kurz vor Ablauf seiner fünfjährigen Amtszeit, wurde er auf Geheiß der Armee durch ein Misstrauensvotum abgesetzt. Shehbaz Sharif, Vorsitzender der PML-N (Pakistanische Muslimliga – Nawaz) und Bruder des im Exil lebenden Ex-Premierministers Nawaz Sharif, übernahm das Amt des Staatschefs.

Im November letzten Jahres wurde ein Attentat auf Imran Khan verübt, das er überlebte. Im Mai dieses Jahres brachen dann im ganzen Land Proteste aus. Die Regierung schlug schnell und entschlossen zu. Fast 125 Millionen Menschen waren von der Entscheidung der Regierung betroffen, das mobile Breitbandnetz zu sperren und den Zugang zu sozialen Medien zu blockieren.

Deutschland sollte sich mit Kritik bedeckt halten

Im September 2020 brach in Griechenlands größtem Flüchtlingslager Moria ein Feuer aus. Das Lager war ursprünglich für etwa 3000 Flüchtlinge gebaut worden. Durch die Brände wurden alle 13.000 dort lebenden Flüchtlinge vertrieben. In den westlichen Medien kursierten Bilder von Flüchtlingen, die vor dem Feuer flohen, was einige deutsche Bundesländer und Kommunen dazu veranlasste, den Vertriebenen Unterkunft zu gewähren. Letztendlich hat Deutschland viele dieser Flüchtlinge aufgenommen. Die aktuelle Situation in Pakistan weckt Erinnerungen an Moria.

 

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Obwohl Europa, insbesondere Deutschland, bereits Zehntausende von Flüchtlingen aus Afghanistan aufgenommen hat, nachdem die Taliban das Land eroberte, ist es bisher von einer großen Flüchtlingswelle wie 2015 verschont geblieben. Die politische Diskussion im Westen, insbesondere in Deutschland, hat die selbstzerstörerische Angewohnheit, Politik fast ausschließlich aus einer moralischen Perspektive zu betrachten.

Pakistan bleibt für Europa ein wichtiger Partner

Pakistan hat lange Zeit erwiesenermaßen Terrorismus finanziert, wenn es der politischen Agenda der Regierung diente. Die Regierung untersteht dem Militär, oft sind beide kaum unterscheidbar. Trotzdem sollten sich europäische Politiker davor hüten, Pakistan allzu laut zu kritisieren. Ob es ihnen gefällt oder nicht, Pakistan ist ein sehr wichtiger Partner in einer ganzen Reihe von Punkten. Denn so lange die Europäische Union nicht bereit ist, direkt mit den Taliban zu verhandeln, ist die Kooperation Pakistans von größter Bedeutung. Ohne sie wird die Abschiebung afghanischer (oder pakistanischer) Flüchtlinge nahezu unmöglich sein.

Außerdem hat sich Indien, wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine gezeigt hat, als unzuverlässiger Partner des Westens erwiesen. Indien kann auf eine lange Tradition der geopolitischen Blockfreiheit zurückblicken, und seine führenden Politiker, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, sind bestrebt, diese historisch verankerte Politik beizubehalten.

Zwar teilen Indien und der Westen demokratische Werte und sind sich auch in geopolitischen Fragen weitgehend einig. Doch trotz gemeinsamer Interessen ist es unwahrscheinlich, dass sich Indien nahtlos in die Vision des Westens einfügt. Das Land hat seine eigenen Vorstellungen. Indien ist stolz darauf, eine führende Rolle in der Dritten Welt zu spielen.

Unter diesen Umständen besteht weiterhin Bedarf an einer Zusammenarbeit mit Pakistan, dessen Einfluss in der Region von größtem Interesse für uns sein sollte.

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