Polen und die PiS - Warum Morawieckis Machtverlust verzögert wird

Staatspräsident Andrzej Duda hat den bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki (PiS) mit der Regierungsbildung beauftragt, obwohl der so gut wie keine Chance hat, eine Mehrheit im Parlament zusammenzubekommen. Diese Verzögerungstaktik hat auch mit internen Machtkämpfen in der PiS-Partei zu tun.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki / picture alliance
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Die Pressemappe, die Mateusz Morawiecki an diesem Mittwochmorgen von seinen Sekretären vorgelegt bekam, konnte ihn wenig erfreuen: Auf der Titelseite der linksliberalen Polityka, des auflagenstärksten Magazins im Lande, ist er mit langer spitzer Nase gezeichnet, dazu in polnischer Schreibweise die Schlagzeile „Ciao Pinokio!“. Die Analyse im Innern des Blatts führt eine ganze Reihe von Fällen an, in denen er die Fakten offenkundig verdreht hat, meist hat er von Erfolgen seines Kabinetts schwadroniert und dem Oppositionsführer Donald Tusk Misswirtschaft in dessen Amtszeit als Premierminister (2007–2014) vorgeworfen. In zwei Fällen hat sogar ein Gericht festgestellt, dass Morawiecki gelogen hat – ein Beleg, dass es der PiS in den acht Jahren seit ihrem Wahlsieg 2015 doch nicht gelungen ist, die Justiz vollständig unter Kontrolle zu bringen.

Erst am Montagabend hatte Staatspräsident Andrzej Duda angekündigt, dass er Morawiecki erneut mit der Bildung der Regierung beauftragen werde. Allerdings verfügt die bisherige nationalpopulistische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) lediglich über 194 der 460 Mandate im Sejm, und ein Koalitionspartner ist nicht in Sicht. Dagegen kommt das heterogene Wahlbündnis aus der vom früheren Premier Donald Tusk geführten liberalkonservativen Bürgerkoalition (PO), dem konservativen Block Dritter Weg und der Neuen Linken auf 248 Sitze, 17 mehr als die erforderliche Mehrheit.

Gerüchte über korrumpierende Angebote

Die Tagespresse und die Internetportale überbieten sich mit der Wiedergabe von Gerüchten, wie die PiS, unterstützt von den Geheimdiensten, versucht, mit Korruptionsangeboten und Erpressung doch noch eine Mehrheit für Morawiecki zusammenzubekommen. Der umstrittene rechtsextreme Justizminister Zbigniew Ziobro hat angeblich seit Jahren „Kompromat“, belastendes Material, über alle wichtigen Politiker gesammelt, auch über die aus den eigenen Reihen. Auch kann die PiS mit üppig dotierten Posten in den Aufsichtsräten und Vorständen der Staatskonzerne für sich werben.

In den Focus der Spekulationen geraten ist dabei die traditionsreiche Bauernpartei (PSL), die dem Dritten Weg angehört. Ihre Vertreter stehen mit ihrem konservativen Katholizismus und der Betonung nationaler Traditionen weltanschaulich der PiS am nächsten. Doch beide Gruppierungen trennt die Haltung zur EU: Die PSL ist proeuropäisch, ihre Klientel ist die Berufsgruppe in Polen, die neben den Straßenbauern am meisten von Geld aus Brüssel profitiert. Duda hat nach Informationen aus der PSL versucht, deren Vorsitzenden Władysław Kosiniak-Kamysz für eine Koalitionsregierung mit der PiS zu gewinnen; Morawiecki schob hinterher, er sei bereit, sich unter einem Premier Kosiniak-Kamysz mit einem Ministerprosten zu begnügen. Doch dieser erteilte Duda und Morawiecki öffentlich eine Abfuhr: Er stehe zu seinem Wort, eine Koalition mit Tusk zu bilden.

Duda wird ein ganzes Bündel von Gründen unterstellt, warum er Morawiecki noch einmal nominiert, obwohl das Verhältnis beider offenkundig von gegenseitiger Antipathie geprägt und überdies dessen Niederlage im neuen Sejm höchst wahrscheinlich ist. Er braucht ihn noch, um die von ihm abgenickten Attacken der PiS auf die Gewaltenteilung abzusichern – „Rechtsverletzungen betonieren“, so nennt es das linksliberale Internetprotal Oko.Press.

„Reparatur der Justiz“

Überraschend hatte Duda am Montag mitteilen lassen, dass er eine Änderung der Geschäftsordnung des Obersten Gerichts anstrebe: Bei Entscheidungen solle in Zukunft die Beteiligung der Hälfte der Richter ausreichend sein, bislang waren zwei Drittel vorgeschrieben. Die Hälfte der Richter wurde indes unter Bruch der einschlägigen Bestimmungen der Verfassung ernannt, nicht nur die Opposition, sondern auch der Europäische Gerichtshof nennt sie Neo-Richter. Nach der Änderung der Geschäftsordnung, die auch der Regierungschef abzeichnen muss (was Morawieckis Aufgabe wäre), könnten diese von der PiS benannten Juristen im Obersten Gericht ungehindert schalten und walten, der neuen Regierung würde die „Reparatur der Justiz“, die die EU verlangt und die Tusk angekündigt hat, erheblich erschwert.

Einen weiteren Grund für die Nominierung Morawieckis sehen viele Kommentatoren in den persönlichen Ambitionen Dudas: Dieser möchte sehen, dass Morawiecki im Sejm untergeht. In zwei Jahren endet Dudas zweite Kadenz als Präsident, er hätte somit einen Konkurrenten im Kampf um die Nachfolge des gesundheitlich stark angeschlagenen PiS-Chefs Jarosław Kaczyński elegant ausgeschaltet. Vor allem aber verschafft er der PiS nun noch einmal rund einen Monat, um belastendes Material zu beseitigen. Denn so lange würden alle parlamentarischen Prozeduren dauern, bis Morawiecki beim Misstrauensvotum gescheitert und eine von Tusk geführte Koalitionsregierung installiert wäre.

Presseberichten zufolge hat eine Regierungsagentur 55 Aktenschredder bestellt; die Opposition hatte der PiS vorgeworfen, Millionen und Abermillionen aus den Staatsfinanzen gesetzwidrig an ihr weltanschaulich nahestehende Organisationen und Medien überwiesen zu haben. Auch habe sie den Inlandsgeheimdienst ABW eingesetzt, um Führer der Opposition abzuhören.

 

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Vor allem aber braucht die PiS noch Zeit, um Verträge und Bonuszahlungen für ihre Gefolgsleute in den Staatsbetrieben auf den Weg zu bringen. Sieben der 20 im Warschauer Aktienindex WIG gelisteten Konzerne sind Staatsbetriebe, an mehr als 400 Unternehmen ist der Staat beteiligt. Dazu gehören Großbetriebe wie die Staatsbahn PKP, der öffentlich-rechtliche Sender TVP mit allen regionalen Ablegern, Banken, Versicherungen, Stromversorger, der Ölmonopolist Orlen, der dem Konzern Passauer Neue Presse ein Dutzend polnischer Regionalzeitungen abgekauft hat, Chefredakteure wurden PiS-Sympathisanten.

Kaczyński, der Feudalherr

Hinzu kommt, dass die Woiwodschaften der Regierung unterstehen, jeder Woiwode (Regierungspräsident) hat seine eigene Verwaltung mit Parteifreunden und deren Familienmitgliedern besetzt. Wie ein Feudalherr hat den Berichten zufolge Kaczyński persönlich über die Vergabe der Spitzenposten gewacht, Unterwürfige belohnt, Aufmüpfige in den eigenen Reihen durch den Entzug des Lehens bestraft. Es stehen nun mehrere Tausend Spitzenposten im ganzen Land zur Disposition, diesen Personalaustausch möchte die Partei möglichst lange herauszögern. Rechtsexperten sagen voraus, dass das von Tusk und seinen künftigen Koalitionspartnern angekündigte „Großreinemachen“ alles andere als einfach sein werde, denn es müssten juristisch wasserfeste Gründe gefunden werden, Tausende von Verträgen aufzuheben.

Die zahllosen Medienberichte über den Nepotismus nie gekannten Ausmaßes in den Staatsbetrieben und der Staatsverwaltung haben nicht wenig zum Misserfolg der PiS bei den Wahlen beigetragen. Morawiecki, der als Zyniker gilt, dem die für Kaczyński so wichtigen Bekenntnisse zu Kirche und Nation persönlich wohl herzlich egal sind, führt nun wahrscheinlich sein letztes Gefecht in der Politik. Polityka berichtet in der aktuellen Ausgabe über das Gerücht, er wolle aus der Politik aussteigen und sich in Spanien niederlassen. Mit Immobiliengeschäften vor seinem Eintritt in die Regierung waren seine Frau und er Multimillionäre geworden. Dass er sich als eine Art Volkstribun inszeniert hat, der für die „kleinen Leute“ kämpft, hatte ihm schon vor geraumer Zeit im Volksmund das Etikett „Pinokio“ eingebracht.

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