Schreitet Frankreich mal wieder voran? - Die Gewaltexzesse in Frankreich sind Vorboten für Europa

Der Bundeskanzler gibt sich sicher, dass massenhafte Gewaltexzesse wie in Frankreich hier nicht geschehen werden. Für diese Erwartung gibt es keinen Grund. Frankreich ist seinen europäischen Nachbarn womöglich nur mal wieder ein wenig voraus, wie schon so oft in der Geschichte.

Feurwehrleute löschen ein in Brand gesetzes Auto in Lyon, 03.07.2023 / picture alliance
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Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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Frankreich atmet langsam auf: Nur noch drei verletzte Polizisten, nur noch 157 Festnahmen, nur noch 297 ausgebrannte Autos, nur noch 34 Brandstiftungen an Gebäuden in der vergangenen Nacht. Es war die vierte Nacht der Zerstörung und Gewalt nach der Erschießung eines 17-Jährigen Sohnes nordafrikanischer Einwanderer in Nanterre.

Die Gewaltexplosion blieb im Großen und Ganzen auf Frankreich beschränkt. Und dennoch waren diese Nächte des Feuers nicht nur ein französisches, sondern auch ein europäisches Ereignis mit großen emotionalen und auch politischen Auswirkungen auf andere Länder.
   
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hat das im Rahmen des zeitgleich stattfindenden EU-Gipfels in einen Tweet deutlich gemacht: Genau das, was in Frankreich passiert, wollen Polen und Ungarn eben nicht. „Geplünderte Geschäfte, abgefackelte Polizeiautos, Barrikaden auf den Straßen – so sieht es derzeit im Zentrum von Paris und vielen anderen französischen Städten aus. Wir wollen solche Szenen nicht in den Straßen Polens. Wir wollen keine solchen Szenen in irgendeiner europäischen Stadt“, twitterte Morawiecki. Und weiter: „Stoppen Sie die illegale Migration. Sicherheit steht an erster Stelle.“

Und Deutschland? Es ist bizarr, wie verspätet deutsche Medienmacher und auch Politiker erst wahrgenommen haben, was da im Nachbarland los ist. Nach den ersten beiden Gewaltnächten legten viele deutsche Medien, wenn sie überhaupt berichteten, den Fokus auf „Polizeigewalt“ und „Protest“ – als ob da nur ein paar Demonstranten ein bisschen über die Stränge geschlagen hätten. So schnell lässt man sich die geliebten Narrative eben nicht kaputtmachen. Erst die Wucht der Bilder der brennenden französischen Städte und von jungen Eingewanderten, die nicht nur Geschäfte plünderten, sondern in erster Linie die Autos ihrer Nachbarn und öffentliche Einrichtungen zerstörten, die für sie selbst da sind, hat schließlich mittlerweile auch die deutsche Öffentlichkeit und Politik entsetzt. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai fordert in der Bild-Zeitung: „Die Politik in Deutschland sollte sich intensiv mit den Ereignissen in Frankreich beschäftigen.“ Denn: „Unkontrollierte Zuwanderung und enorme Defizite in der Integrationspolitik sind eine Bedrohung für die innere Sicherheit.“

Kanzler Olaf Scholz dagegen scheint die emotionale Bedeutung der Gewaltexplosion in Frankreich noch kaum verstanden zu haben, jedenfalls nicht öffentlich. Er spricht im Sommer-Interview in der ARD gewohnt phrasenhaft von „bedrückenden Bildern“ und behauptet, es gebe „keine Anzeichen“ für die Gefahr von ähnlichen Ausschreitungen in Deutschland. Woher er diese vermeintliche Sicherheit bezieht, sagte er nicht. Eine weitere Phrase reicht ihm: „Wir müssen alles dafür tun, dass der Zusammenhalt in unseren Gesellschaften gut funktioniert.“

Eine Intifada in Frankreich?

Vielleicht ist es ein purer zeitlicher Zufall, dass ausgerechnet in diesen Tagen die AfD nach dem Gewinn des ersten Landratspostens nun auch ihr erstes Rathaus in dem Örtchen Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt gewann. Diese Zufälligkeit muss Politiker der etablierten Parteien aber auch nicht davon abhalten, die politischen Botschaften aus beidem – kommunale Wahlergebnisse in Deutschland und Gewaltexzesse in Frankreich – zu ziehen. Olaf Scholz scheint als Reaktion jedoch nicht viel mehr einzufallen als seine neue Redensart von den „Schlechte-Laune-Parteien“, deren angekündigter Wut-Winter schließlich ausgebleiben sei. Genügen ihm die AfD-Erfolge in Wahlen und ihr Höhenflug in Umfragen etwa nicht als Belege für die wachsende Wut? Kann er wirklich bezweifeln, dass die schlechte Laune auch etwas mit den alltäglichen Nachrichten über Clans, Messerangriffe und Freibadtumulte zu tun hat – und sich durch die Bilder aus Frankreich wohl kaum bessern dürfte? Meint er wirklich nach der vergangenen Silvesternacht immer noch, in Deutschland könnten Exzesse wie in Frankreich niemals passieren?

Der Historiker Michael Wolffsohn interpretiert die Gewalt der jungen Einwanderersöhne als eine „Intifada“: „In Frankreich wollen die seit den 1960er-Jahren millionenfach überwiegend aus dem muslimischen Nordafrika eingewanderten vermeintlich ,schwarzen‘ Neufranzosen das abschütteln bzw. loswerden, was sie als Unterdrückung durch die ,weißen‘ Altfranzosen betrachten.“ Er lobt die im Vergleich zu Frankreich sehr viel besseren Integrationsbemühungen in Deutschland. Aber: „Wir alle müssen noch besser werden. Sonst brennt eines Tages auch Deutschland.

 

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Natürlich, besser werden ist immer gut und richtig. Aber von Unterdrückung kann, realistisch betrachtet, ebenso wenig die Rede sein, wie davon, dass Frankreich sich nicht bemüht hätte, das Los der Immigranten zu bessern, erst recht nach den Unruhen von 2005. Nein, so schlecht meinen es die Franzosen wahrlich nicht mit ihren nicht-gallischstämmigen Mitbürgern. Der französische Staat ist bekanntlich ähnlich großzügig wie der deutsche, auch wenn er weniger kümmernd auftritt, weil die Franzosen traditionellerweise gerne in Ruhe gelassen werden wollen. Frankreich ist kein Albtraum-Land für Nicht-Weiße, in dem es systemischen Rassismus gebe. Das ist, wie der französische Philosoph Pascal Bruckner richtig feststellt, ein Vorwand der radikalen Linken, um die Brutalität gegen die Einrichtungen und Vertreter des Staates zu rechtfertigen. Allein die ungebrochen weiterhin hohen Zuwanderungszahlen für Einwanderer aus Afrika und Asien widerlegen das. Auch in der Banlieue von Paris oder Marseille lässt es sich eben besser leben als in den Bergdörfern der Kabylei oder den Slums von Dakar.

Nein, Deutschland und andere europäische Einwanderungsländer haben keinen Grund, sich nun selbstgerecht einzubilden, dass so etwas wie in Frankreich in ihren Vorstädten nicht passieren könnte. Die letzte Silvesternacht in Deutschland hat davon schon einen Vorgeschmack gegeben, ebenso die jüngsten Clan-Straßenschlachten in Nordrhein-Westfalen. Vermutlich sind in Frankreich nur viele Entwicklungen etwas weiter vorangeschritten. Die Gewalt in den von Einwanderern bewohnten Vororten ist, wie Bruckner im Interview sagt, „allgegenwärtig, sie bildet ein wenig den Soundtrack des Alltags“. Auch in vielen Teilen deutscher und anderer europäischer Städte gibt es diesen Alltag bereits. Die Clan-Schlägereien nach einem Spielplatzstreit im Ruhrgebiet belegen, dass die Gewalt auch hier nur einen Anlass braucht, um loszubrechen.

Frankreich als historischer Vorreiter für Europa

Frankreich ist in historischer Perspektive schon sehr lange eine Art Vorreiter und Anstoßer großer Entwicklungen. Was Frankreich vormachte, machten andere europäische Länder oft nach, manchmal sehr bald, meist ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte später. Die Franzosen selbst haben spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert das Bewusstsein, diejenigen zu sein, die etwa die Vorstellung einer Nation als erste und mustergültig erfüllen, und zu dieser Vorstellung gehört immer auch ein europäischer und universeller Anspruch. Das galt für politische Ereignisse wie die Revolution von 1789, aber auch für intellektuelle und kulturelle Entwicklungen und letztlich auch für soziale und demographische. Frankreich war das erste europäische Land, das einen deutlichen Geburtenrückgang erlebte (damals, Ende des 19. Jahrhunderts, begann Deutschland Frankreich nicht nur zahlenmäßig, sondern schnell auch ökonomisch zu überholen, was die Feindschaft anheizte, die im Ersten Weltkrieg eskalierte). Frankreich war aber auch das erste Land Europas, das eine nennenswerte Einwanderung außereuropäischer Menschen, vor allem Nordafrikaner erlebte. Das begann schon in der Zwischenkriegszeit. Deutsche Beobachter wie Friedrich Sieburg sahen das damals mit großer Skepsis. Und als ab den 1960er Jahren Deutschland zum Einwanderungsland wurde, war in Zeitungskommentaren oft vom abschreckenden Beispiel Frankreichs die Rede. Bei anhaltender Zuwanderung und mangelnder Integration würden aus deutschen Städten bald „Super-Marseilles“ werden, schrieb beispielsweise ein Zeit-Redakteur 1973.

Ebenfalls weiter vorangeschritten ist Frankreich womöglich in Sachen parteipolitischer und Wähler-Reaktionen. Emmanuel Macrons „Renaissance“ (früher „la Republique en marche“) ist eine Art Partei gewordene große Koalition des politischen Establishments, die institutionalisiert, was viele Deutsche als ideologische Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien empfinden. Einzig die deutschen Grünen sind ein politisches Phänomen, das quer steht zur These des französischen Voranschreitens. Sie sind hierzulande älter und noch deutlich einflussreicher als in Frankreich.

Das Empfinden eines Niedergangs stärkt Le Pen

Marine Le Pen und ihr Rassemblement National (RN, früher Front National) sind sozusagen das Ur-Model des Rechtspopulismus. Und die Erlebnisse der vergangenen Nächte werden womöglich noch mehr Franzosen dazu verleiten, dem RN ihre Stimmen zu geben. Immer deutlicher wird in Frankreich, dass der alte demokratisch-parlamentarische Gegensatz zwischen gemäßigter Linker und gemäßigter Rechter durch den neuen Gegensatz zwischen diesen beiden mehr oder weniger vereinigten Kräften und dem RN ersetzt wird. In Deutschland ist dieser Prozess in den neuen Bundesländern am weitesten fortgeschritten – wo absehbar ist, dass sich demnächst übergroße Koalitionen bilden müssen, weil AfD-Koalitionen unbedingt ausgeschlossen bleiben sollen. Was in Deutschland noch auf kommunale oder allenfalls Landesverhältnisse beschränkt bleibt, ist in Frankreich schon längst nationale politische Wirklichkeit: Le Pen erreichte 2022 im zweiten Wahlgang sogar 41,46 Prozent, bei der Wahl zuvor 2017 waren es im zweiten Wahlgang 33,9 Prozent.

In Frankreich ist das Empfinden eines allgemeinen Niedergangs oder gar drohenden Kollapses der eigenen Gesellschaft noch mehr als in Deutschland verbreitet. Dieses Empfinden wird durch das Erleben der tagelangen Gewaltexzesse bei vielen Franzosen sicher noch zunehmen. Wenn Präsident Emmanuel Macron es nicht schafft, den inneren Frieden zu befördern und den tiefen Pessimismus (den Scholz als schlechte Laune verharmlost) der Franzosen egal welcher Herkunft zu besänftigen, dann wird sein noch unbekannter Nachfolger an der Spitze von Renaissance in den kommenden Präsidentschaftswahlen womöglich gegen Le Pen verlieren.

Le Pen ist nicht nur deutlich charismatischer als die heute führenden Köpfe der AfD, sondern im Gegensatz zu diesen auch so klug, ihre Partei in den Forderungen und im Stil zu mäßigen. Sie hat es dadurch geschafft, den absoluten Bannstrahl der publizistischen Öffentlichkeit und der politischen Klasse, der ihren radikalen Vater traf, etwas zu entschärfen. So wie es in Italien auch Giorgia Meloni mit ihren Fratelli getan hat, die nun das drittgrößte Land der EU regiert. Diese Erkenntnis fehlt der AfD ebenso wie eine mit Le Pen oder Meloni vergleichbare Führungsfigur.

Pascal Bruckner spricht von einem Abgrund, auf den Frankreich von zwei Seiten aus zusteuere. Der Abgrund Frankreichs ist auch der Abgrund Deutschlands und Europas.

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