Wirtschaftskompetenzen - Wettbewerb für ein besseres Deutschland

Was beeinflusst die Wahlentscheidungen der Menschen? Es zeigt sich, dass in puncto Wirtschaft, Finanzen, Staatsschulden „Sachthemen“ fast keine Rolle spielen. Wichtiger sind Faktoren, die eine emotionale Bindung der Wähler zu „ihren“ Parteien und den prominenten Repräsentanten zum Ausdruck bringen.

Die Dax-Kurve im Handelssaal der Deutschen Börse AG in Frankfurt am Main / dpa
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Autoreninfo

Rainer Hank (Foto dpa) ist Publizist und regelmäßiger Kolumnist im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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Liest jemand Parteiprogramme? Seit dem Internetzeitalter loggen die Bürger sich lieber in einen Wahl-O-Mat ein, kreuzen dort ihre Präferenzen an (oder das, was sie dafür halten) und hoffen, dass am Ende jene Partei oben aufpoppt, die sie vorher schon zu wählen vorhatten. Wähler sind konservative Wesen. Wenn in der Wahlnacht viel von Wählerwanderung die Rede ist, dann verzerrt das diese Beharrungskräfte.

Tatsächlich unterscheiden sich die fiskal- und wirtschaftspolitischen Programme der Parteien in diesem Jahr mehr als sonst. Schließlich geht es darum, wie die Lasten der Pandemie verteilt und die Kosten der Klimakrise geschultert werden. Grob gesagt steht ein liberal-­konservativer Block aus Union und Freien Demokraten einem linken Bündnis von Grünen, SPD und Linken gegenüber. Während die Liberal-Konservativen stärker auf die Wahlfreiheit des Einzelnen und die Kräfte des Marktes setzen, verhält sich das linke Lager paternalistisch und verspricht einen weiteren Ausbau des Sozialstaats durch massive Umverteilung von Steuergeld. 

Die AfD ist wahlpolitisch eine Art Zwitter: Hier streiten sich die marktliberalen Veteranen aus der Gründungsgeschichte der konservativen Professorenpartei mit national-sozialen Ideologen, die für mehr Umverteilung plädieren – mit entsprechenden Privilegien für die (Volks)deutschen. Wegen dieser Vieldeutigkeit und auch weil niemand mit der AfD koalieren wird, soll hier das Programm der Gauland-Weidel-Partei nur am Rande in die Analyse miteinbezogen werden.

Wahlprogramme lesen

Wie liest man Parteiprogramme? Dem Wähler bringt es wenig, wenn er weiß, dass eine Partei den Spitzensteuersatz von 42 auf 43,5 Prozent anheben will, der aber von einem höheren Einkommen an greifen soll, während zugleich der Kinderfreibetrag erhöht und die Rentenbeiträge gesenkt werden sollen. Niemand weiß danach, wie sich die Vorschläge in seiner familiären Situation und bei seinem Einkommen ganz konkret in seinem Geldbeutel niederschlagen. Meist bleibt dann nur der ein oder andere einzelne spektakuläre Vorschlag im Gedächtnis („Soli ganz abschaffen“), dessen Bedeutung überbewertet und dessen Wirkung auf die Bürger unklar ist. 

Besser ist es, Profiteure und Verlierer der Wahlversprechen zu identifizieren. Das hat das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) getan. Das Ergebnis: Die von Union und FDP versprochenen Steuerentlastungen bedeuten deutliche finanzielle Vorteile für Besserverdiener. Die Programme von SPD, Linken und Grünen bringen hingegen für untere und mittlere Einkommen einen Zuwachs beim verfügbaren Einkommen aus Nettolohn und Sozialtransfers. Für die Berechnungen des ZEW berücksichtigt wurden die zentralen Reformvorschläge zu Steuern, Mindestlohn, Mini- und Midijobs, Sozialversicherung und Familienpolitik. Dort, wo die Vorschläge vage blieben, trafen die Forscher plausible Annahmen auf der Basis von Beschlüssen und Äußerungen der Parteien. Nicht berücksichtigt ist, ob sich die Reformen positiv oder negativ auf das Wirtschaftswachstum und mögliche Steuermehr- oder -mindereinnahmen auswirken. Programme sind statisch, haben keinen Sinn für – intendierte oder unintendierte – Dynamiken, die sie auslösen.

Breites Spektrum

Würden die Wahlprogramme des linken Lagers umgesetzt, so wäre ein Ehepaar mit zwei Kindern in den unteren Einkommensschichten deutlich bessergestellt als heute: Ihnen stünden bei einem Bruttoeinkommen von 40.000 Euro jährlich rund 3.300 (Grün), 4.000 (SPD) oder sogar 5.100 (Linke) Euro mehr im Jahr zur Verfügung. Bei Union und FDP schrumpft der Einkommenszuwachs dieses Haushalts auf mehr oder weniger 900 Euro. Anstelle einer Umverteilung von oben nach unten planen Union und FDP, alle Haushalte zu entlasten, jedoch Haushalte mit höherem Einkommen stärker: Ein besser verdienendes Ehepaar mit zwei Kindern erhielte bei einem Familieneinkommen von 300.000 Euro ein finanzielles Plus von 11.000 bis 18.000 Euro. Dasselbe Ehepaar müsste, käme der linke Block an die Macht, künftig mit weniger Geld auskommen: Einbußen von 12.000 Euro sind es bei SPD und Grünen. Unfassbare 190.000 Euro will die Linke dem Paar wegnehmen, was vor allem auf die Einführung einer konfiskatorischen Vermögenssteuer zurückgeht. Überraschung am Rande: Alleinerziehende mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 20.000 Euro erhalten von der FDP den größten Aufschlag von 3.080 Euro.

Das sind Extreme, die gewiss so nie Realität werden. Sie zeigen indes, wie groß das Spektrum der Wahlversprechen ist – größer als auf allen anderen politischen Feldern. So gehen alle Parteien (mit Ausnahme der AfD) davon aus, dass die Klimakrise die größte Herausforderung der kommenden Jahre werden wird und dass gegen die Erderwärmung schwerwiegende politische Eingriffe unumgänglich werden. Die Programme unterscheiden sich in der Wahl der Instrumente: Union und FDP setzen auf CO2-Steuern und den Anreizmechanismus des Emissionshandels am Markt. Der linke Block hantiert mit Geboten und Verboten (Kerosinsteuer, Flugverbot, Verbot des Verbrennungsmotors) – und will zudem, dass alles viel schneller geht. Populärer bei den Bürgern ist eine interventionistische Klimapolitik: Das sieht kraftvoll aus und verschleiert, wer für die Kosten aufkommt. Die CO2-Preise werden direkt an der Tankstelle oder mit der Stromrechnung fällig. Das mögen die Leute nicht: Sie fürchten den Klimawandel, womöglich fürchten sie noch mehr die Konsequenzen der Klimaneutralität.

FDP und CDU stricken mit heißer Nadel

Wer zahlt am Ende die Rechnung? Hier ist das linke Lager ehrlicher und brutaler zugleich: Sie holen sich die Entlastungen der Ärmeren von einer stärkeren Besteuerung der Reichen, was zudem noch einen Milliardenüberschuss brächte, der für Corona-Schäden und Klimapolitik zur Verfügung stünde. Die Konservativen haben sich in eine Falle manövriert, die ihnen den Vorwurf der Unaufrichtigkeit einbringt. Die Umsetzung des FDP-Programms würde den Staatshaushalt mit 88 Milliarden Euro belasten; bei der Union ergäbe sich ein Haushaltsloch von 33 Milliarden Euro.

Das liberal-konservative Bündnis will, wie gezeigt, alle Einkommensschichten entlasten, dafür aber die Steuern nicht erhöhen – womöglich sogar noch senken – und zugleich an der Schuldenbremse festhalten. Das wird ökonomisch nur dann gut gehen, wenn das Wirtschaftswachstum derart anspringt, dass die Steuern von allein sprudeln. Und wenn zugleich die Zinsen langfristig niedriger bleiben als das Wachstum, damit die Schuldenquote zurückgeht und der Schuldendienst, den der Staat bei seinen Anleihegläubigern bedienen muss, den Haushalt nicht zusätzlich belastet.

Schulden bremsen oder machen?

Um die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, die dem Bund neue Schulden nur in ganz geringem Umfang erlaubt, ist nicht erst seit Corona ein Streit entbrannt, der nach der Wahl mit ziemlicher Sicherheit noch deutlich schärfer werden dürfte. Die Kritiker der Selbstverpflichtung sind der Meinung, die Schuldenbremse stranguliere den Staat bei den notwendigen Investitionen. Ursprünglich eingeführt, um künftigen Generationen die Belastung mit Milliardenschulden zu ersparen, die sie über ihre Steuern tilgen müssten, kehrt sich in den Augen der Kritiker die Wirkung der Schuldenbremse in ihr Gegenteil: Sie verhindert Investitionen zum Nutzen der Nachkommen (nicht zuletzt beim Klima). Denn wenn weniger Geld zur Verfügung steht, denken die heutigen Politiker eher an ihre heutigen Wähler als an kommende Generationen. 

Ohnehin, so die Auffassung einer Gruppe sezessionistischer Ökonomen, werde die Gefahr der Staatsverschuldung sträflich überzeichnet. Solange das Wirtschaftswachstum über den Zinsen liege, blieben die Schulden tragfähig, weil damit die Schuldenquote von allein rückläufig wird, erst recht bei langlaufenden Staatsanleihen. Zum Beweis für diese Prognose dient die gute Entwicklung der Staatsfinanzen in den zurückliegenden zehn Jahren trotz Finanz- und Eurokrise. Als letzte Instanz gebe es die Europäische Zentralbank, deren Macht zur unbegrenzten Geldschöpfung das entstandene Defizit unbegrenzt ausgleichen würde. Solcherlei ökonomische Vorstellungen finden unter Politikern viel Zuspruch, versprechen sie doch ein finanzpolitisches Schlaraffenland, in dem der alte Grundsatz außer Kraft gesetzt wäre, dass es nichts umsonst gibt im Leben.

Politik fürs andere Klientel

Ganz so unproblematisch sind Staatsschulden indes nicht. Erhebliche Risiken kommen von der Entwicklung der Zinsen. Gerade die angekündigten hohen öffentlichen Investitionen – meist schwammig vom Konsum abgegrenzt – werden die Kapitalnachfrage an den Finanzmärkten erhöhen und damit den Zins genannten Preis für das Kapital nicht dauerhaft auf niedrigem Stand belassen. Früher oder später müsste daraus Inflation entstehen, was das schöne Perpetuum Mobile der gefahrlosen Staatsverschuldung im Schlaraffenland rasch ans Ende brächte. Dass seit geraumer Zeit wieder auffallend oft von Inflation die Rede ist, ist per se ein gefährliches Zeichen, das Politiker aller Parteien jedoch, solange es geht, verdrängen werden.

Überraschend und zugleich paradox ist, dass die Wahlversprechen der Parteien gar nicht in erster Linie ihren eigenen Wählern zugutekommen. Auch das ist das Ergebnis der Berechnungen des ZEW in Mannheim. Die Wahlklientel der Parteien profitiert in barer Münze sehr unterschiedlich von den jeweiligen Programmen. So entlastet die FDP die Wähler der Grünen mit durchschnittlich 6,2 Prozent am stärksten und die eigene Klientel mit 5,9 Prozent erst an zweiter Stelle. 

Das kann nur daran liegen, dass unter den Wählern der Grünen sich mehr Angehörige der oberen Mittelschicht finden als bei den FDP-Wählern. Die Grünen hingegen stellen ihre Wähler mit 1,1 Prozent Zuwachs des durchschnittlich verfügbaren Einkommens auf die vierte Position. Dagegen profitieren AfD-Wähler mit 2,9 Prozent bei ihnen am stärksten, ebenso bei SPD (2,7 Prozent) und Linke (6,9 Prozent). 

Sachthemen interessieren nicht

Denken also die Parteien bei ihren Programmen zunächst an die Wähler der anderen? Wohl kaum. So viel selbstzerstörerischer Altruismus widerspräche dem rationalen Verhalten von Parteien. Dass die Wähler der Grünen nicht zur FDP umschwenken und die Anhänger der AfD nicht die Linken wählen, liegt ganz offensichtlich daran, dass es für sie wichtigere Ziele gibt als die Steuer- und Finanzpolitik: Die Grünen-Wähler sehen ihre klimapolitischen Vorstellungen bei der Umweltpartei am besten aufgehoben, beruhigen mit ihrer Stimme womöglich auch die kognitive Dissonanz ihres Alltagslebens. Bei der eher einkommensschwachen Klientel der AfD ist es noch komplizierter: Sie fühlt sich seit langem von den linken Parteien alleingelassen in ihrer Angst vor Überfremdung, eine Angst, die offenbar nicht durch das linke Versprechen von mehr Umverteilung für alle kompensiert werden kann. 

Sind die Parteien wirklich der Auffassung, fiskal-, sozial- und wirtschaftspolitische Versprechen hätten eine entscheidende Rolle für die Wahlentscheidung der Bürger in einer Demokratie? Unbeirrt hat das linke Lager bei den vergangenen Wahlen daran festgehalten, ihrer Klientel mehr Umverteilung von oben nach unten zu versprechen. Honoriert wurde dies nicht. Regiert hat am Ende stets Angela Merkel – mit einem moderat sozialdemokratischen Programm, um das sie kein großes Gewese gemacht hat. 


Der Mannheimer Politikwissenschaftler Thomas König wollte herausfinden, was wirklich die Wahlentscheidungen der Menschen beeinflusst. Das Ergebnis ist spektakulär. Sogenannte „Sachthemen“ spielen keine oder allenfalls eine sehr nebensächliche Rolle. Viel wichtiger sind affektive Faktoren, die eine emotionale Bindung der Wähler zu „ihren“ Parteien und den prominenten Repräsentanten zum Ausdruck bringen. Dabei geht es vor allem um Vertrauen und Glaubwürdigkeit, ein „Kapital“, das viel wichtiger ist als finanzielle Versprechen. Das erklärt für Sozialforscher König, warum etwa Malu Dreyer (SPD) und Winfried Kretschmann (Grüne) regelmäßig und fast schon erwartet deutlich mehr Zustimmung bekommen als ihre Parteien. König nennt Dreyer und Kretschmann „optimale Markenbotschafter ihrer Parteien“. 

Strategische Opfer

Das erklärt umgekehrt auch, warum Annalena Baerbock in der Gunst der Öffentlichkeit so dramatisch gefallen ist, obwohl die Partei beteuerte, Unstimmigkeiten beim Lebenslauf oder Abschreibereien in einem Buch seien vernachlässigbar im Vergleich zu der Expertise der Grünen beim Klimawandel. Forscher König spricht von einem „Obama-Effekt“ bei Baerbock: Ein von den Grünen genährtes Erwartungsmanagement hat mit moralischem Tremolo die Vertrauens- und Glaubwürdigkeitslatte sehr hoch gelegt. Entsprechend groß ist die Enttäuschung.

Bleibt die Frage, warum die Parteiprogramme so viele detaillierte Aussagen zur Wirtschafts- und Finanzpolitik enthalten, wenn sie doch erkennbar wenig Auswirkungen für den Wahlerfolg haben. Das müsste sich inzwischen auch bei den Wahlkämpfern herumgesprochen haben. Womöglich sind die Adressaten dieser Versprechen gar nicht so sehr die Wähler, sondern die möglichen Partner in den der Wahl folgenden Koalitionsverhandlungen? Dafür werden (Maximal-)Forderungen erhoben, um sie sodann mit großer Opfergeste um der Macht willen fallen lassen zu können? Es könnte sein, dass sich die Vermögenssteuer am Ende bei den Linken für so ein Opfer anbietet, sofern im Gegenzug die Einkommensteuer der Besserverdiener ordentlich erhöht wird. 

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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