Welternährungsbericht der Vereinten Nationen - Es droht eine historische Hungerkrise

Laut neuestem UN-Welternährungsbericht ist die Zahl der Hungernden und Unterernährten auf bis zu 828 Millionen Menschen angestiegen. Doch die eingängige Deutung, die Globalisierung sei das Kernproblem, verkennt die wahren Zusammenhänge. Die Hungerkatastrophe hat ihren Hauptgrund nämlich im Zusammenbruch des globalen Handels – und die Welternährung hängt an fossilen Energieträgern.

Eine unterernährte Familie im Norden Kenias. Die Hungerkrise in der Welt spitzt sich dramatisch zu / dpa
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Autoreninfo

Jan Grossarth ist Professor für Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft an der Hochschule Biberach. Von ihm erschien 2019 das Buch ,,Future Food - Die Zukunft der Welternährung" (wbg Theiss).

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Die Welt blickt auf eine historische Ernährungskatastrophe. Die Zahl der Hungernden und chronisch Unterernährten ist laut dem an diesem Mittwoch veröffentlichten neuesten Welternährungsbericht der Vereinten Nationen auf bis zu 828 Millionen Menschen angestiegen. Rund jeder Zehnte hat also nicht das Nötigste, um ohne ernährungsbedingten Mangel überleben zu können. 
  
Die Zahl enthält die aktuellen Kriegsfolgen aber noch nicht, denn sie betrifft das Jahr 2021. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in diesem Jahr nochmals deutlich höher liegt. Denn ein Kreislauf der Krisen, die einander selbst verstärken, ist in Gang geraten: Der russische Krieg blockiert die Getreideausfuhr der Ukraine. Aus politischer Furcht vor einer langen Handelsblockade im Schwarzen Meer beginnen Staaten, die selbst vom Import abhängen, Grundnahrungsmittel zu horten. Indien stoppte die Ausfuhr von Weizen. Arabische Empfängerländer, von Katar bis Ägypten, blicken mit Schrecken auf das Geschehen. Die Nahrungsmittelpreise stiegen im Libanon im Jahresvergleich fast um mehr als das Dreifache, in Sudan um 145 Prozent, in der Türkei um 89 Prozent. 
  
Der Ukrainekrieg ist auch ein Krieg um das Brot für die Welt. Er bedroht die globale Ernährung direkt und indirekt. Viele der betroffenen und von Unruhen bedrohten Länder des arabischen und asiatischen Raumes schauen als dabei als möglichst neutrale Beobachter zu, als wollten sie nach Kriegsende bevorzugt vom Sieger beliefert werden.  
  
Welche politischen Schlussfolgerungen sind, aus europäischer Sicht, aus der globalen Hungerkrise zu ziehen? Die medial besonders resonanzstarken Deutungsgroßmächte der Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam und Greenpeace zeichnen ein nicht verkehrtes, aber allzu eindeutiges Bild: Der Fokus liegt auf einem Stopp des Klimawandels durch Dekarbonisierung, auf einer Rückabwicklung des „unfairen“ Welthandels, sowie eine Reise Rückwärts der afrikanischen Landwirtschaften vom Anbau der globalen Marktfrüchte Mais und Weizen zu dort länger etabliertem, mehr trockenresistentem Getreide wie Hirse oder Maniok.  

Agrarische Industrialisierung und Welthandel sind eine historische Erfolgsgeschichte

Der letzte Punkt ist ziemlich unstrittig. Doch die Welternährungsfrage ist nur zu beantworten, wenn man darüber einige – medial stark vereinfachte oder vernachlässigte – Zusammenhänge näher betrachtet. Denn in der eingängigen Deutung, die Globalisierung sei das Kernproblem, kommt eine gewisse Ignoranz wesentlicher Zusammenhänge zum Ausdruck. Die Hungerkatastrophe hat ihren Hauptgrund nämlich nicht in der Globalisierung der Ernährung, sondern im Gegenteil im Zusammenbruch des globalen Handels
  
Die historische Gewordenheit der heutigen Welternährung lässt sich nicht wie im Planspiel einfach rückabwickeln. Wenn ein Bevölkerungswachstum in Staaten wie Ägypten über viele Jahre nur durch importierte Nahrungsmittel ermöglicht wird, gibt es kein einfaches Zurück. Globaler Lebensmittelhandel und Versorgung sind auf mittlere Sicht untrennbar miteinander verbunden. Der Handel wird der Grund sein, sollte das UN-Entwicklungsziel des Grundrechts auf Nahrung – zumindest verspätet, im Jahr X nach Kriegsende – doch noch verwirklicht werden.  

 

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Diese These in Zahlen unterfüttert: Bis zum Jahr 2017 machte die Entwicklung der Weltversorgung tatsächlich sehr gute Fortschritte. Das machte kaum Schlagzeilen. In langer historischer Sicht steht die Welt derzeit am vorläufigen Endpunkt einer historischen humanitären Erfolgsgeschichte: Von Jahr zu Jahr war die Zahl der Unterernährten gefallen, bei steigender Weltbevölkerung. 615 Millionen Unterernährte markieren in 2017 den langjährigen Tiefstand, so die Daten der Welternährungsbehörde der Vereinten Nationen (FAO). 
  
Immer mehr Menschen hatten genug auf dem Teller. Erstmals wohl in der Geschichte der zivilisierten Menschheit mussten in den 2010er-Jahren mehr als 90 Prozent der Erdbewohner keinen Mangel mehr leiden. Agrarische Industrialisierung und Welthandel sind – in dieser Perspektive – eine historische Erfolgsgeschichte, mit einer prekären und vielleicht tragischen Abhängigkeit von Industrie und globalem Warenaustausch als Folge. Erst 2018 markiert die Umkehr des positiven Trends in die umgekehrte Richtung. Der erste Schock, der den langjährigen Trend umdrehte, war die Covid-Krise, der die globalen Lieferketten stocken lässt. Der zweite rollte in Gestalt russischer Panzer heran. Der Anteil der Mangelernährten liegt nun wieder bei 10 Prozent der Menschen. 

Instrumentalisierung der Hungerkrise für klimapolitische Zwecke

Und der Klimawandel? Der ist auf komplexe Weise mit der Ernährungsfrage verbunden. Kurzfristig nützt eine rasche Dekarbonisierung den akut Hungernden nicht. Beide Themen zu verbinden, kann auch Ausdruck einer Instrumentalisierung der Hungerkrise für klimapolitische Zwecke sein. 
  
Es ist ja wahr: Aufgrund der menschengemachten Klimakatastrophe verschlechtert sich die regionale Ernährungslage in vielen Teilen der Welt dramatisch. Die schrecklichen Dürrekatastrophen in Äthiopien, Somalia und Kenia enden seit Jahren nicht. Italien und Kalifornien leiden derzeit unter Jahrhunderttrockenheit, verbunden mit der Erwartung historischer Missernten. Es ist von ernährungspolitisch größter Bedeutung, ob es der Weltgemeinschaft gelingen wird, das Zwei-Grad-Klimaziel oder ein höheres oder niedrigeres zu erreichen. 
  
Die Klimafrage steht im Zusammenhang mit der langfristigen Entwicklung der Extremwetterereignisse, und trotzdem ist eine rasche Dekarbonisierung nicht die geeignete Antwort auf die akute Hungerkrise – und auch nicht auf diejenige der kommenden Jahre. Sofort hilft nichts als ein Aufrechterhalten globaler Handelsströme. 
  
Und bis auf Weiteres ist die Welternährung leider untrennbar von fossilen Energieträgern abhängig. Nicht nur für den Transport, sondern vor allem für die Getreideproduktion. Erdgas nutzen wir nicht nur, um im Winter heiß zu duschen, sondern es ist essenzieller Grundstoff und Energieträger für den Stickstoffdünger. Etwa jeder zweite Erdenbürger lebt derzeit vom Kunstdünger. Ein aktuelles Beispiel für dessen Bedeutung: Weil auch die Dünger-Lieferketten stocken und in Teilen Afrikas der Stickstoffdünger knapp wird, gibt es dort schon jetzt sieben Millionen Hungernde mehr als ohnehin, schätzt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.  

Krieg zwingt zu einem ungewohnten Pragmatismus

Was die „Entwicklungszusammenarbeit“ angeht, konkurriert der akademisch profunde und politisch gerechtigkeitsorientierte Ansatz des „Westens“ mit einem russischen und einem chinesischen Modell. Das lautet: militärische Hilfe Russlands für afrikanische Regime, wie in der Zentralafrikanischen Republik, durch die „Wagner“-Truppe. Und ein rasend schneller Straßen- und Stromleitungsbau durch China. Im Gegenzug strömen Kupfer, Gold oder Diamanten dorthin. Und es ist übrigens nicht der Fall, dass der Blick der afrikanischen Landbevölkerung auf die Hilfe aus durchschaubarem Eigeninteresse so einseitig negativ wäre, wie es aus europäischer Sicht logisch erscheint.  
  
Zusammengefasst: Die Welternährungsfrage steht nun für alle sichtbar in einem untrennbaren Zusammenhang eines Krieges um die geostrategische Vorherrschaft zwischen den Blöcken Europa/Nordamerika und China/Russland. Großteile Afrikas sind durch das starke Bevölkerungswachstum in eine existenzielle Abhängigkeit vom Getreideimport geraten. Der Krieg zwingt auch Europa, pragmatischer über Ernährungspolitik zu denken als in den „normalen“ Zeiten. 
  
Es gibt – trotz der Klimakatastrophe – derzeit noch kein globales Mengenproblem der Ernten. Aber es gibt zunehmende regionale Ausfälle. Die Getreidespeicher selbst in der Ukraine sind für rund drei Jahre gefüllt. Aber so lange die Kette des Hortens von Weizen anhält, müssen die übrigen Länder mehr produzieren und liefern. Solange der Krieg fortdauert, müssen große Agrarländer wie Deutschland, Frankreich oder Polen ihre Erntepotenziale ausschöpfen. Dass der agrarische „Green Deal“, der Flächen aus der Nutzung nehmen wollte, derweil pausiert, ist ein Ausdruck pragmatischer Politik. Ebenso wäre es sinnvoll gewesen, durch Ausgleichzahlungen an deutsche oder französische Bauern politisch unterstützt die Schweineanzahl während des Krieges deutlich zu verringern. Denn fast zwei Drittel des Getreides in Deutschland werden weiterhin an Tiere verfüttert. 
  
Und wie lässt sich die verheerende Abhängigkeit vom Kunstdünger lösen? Nicht per Dekret. Sie ist nur durch technologische Sprünge und historische Investitionen zu erreichen. Es braucht die große Energiewende der Ammoniaksynthese. Auf Basis von Solarstrom ist es technisch schon heute möglich, Stickstoffdünger herzustellen – jetzt braucht es viele neue, große solcher Anlagen, von Spanien bis Ägypten und Nigeria. Auch ein unideologischer Blick auf mögliche Chancen der neuen, präzisen Gentechniken ist ein Gebot der Stunde. Und nicht zuletzt bleibt die kluge europäische Einsicht wahr, dass eine faire und ökologische Gestaltung der globalen, zu größten Teilen bäuerlich basierten Landwirtschaft und Lieferketten ein sinnvolles politisches Ziel ist. Aber der Krieg zwingt für den Moment eben zu einem ungewohnten Pragmatismus.

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