Staatsschulden wegzaubern? - Ein Tabubruch namens Schuldenschnitt

Praktisch alle Industrieländer sind dramatisch überschuldet. Das bringt manche auf eine gefährliche Idee: Die Zentralbanken könnten Staatsanleihen in einer Hauruck-Aktion einfach aus ihren Bilanzen streichen.

Die EZB könnte den riesigen Berg an Staatsanleihen aus seiner Bilanz streichen / dpa
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Dirk Notheis ist Mitherausgeber von Cicero und Gründer des Mittelstands­finanzierers Rantum Capital.

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Eines Tages werden wir alle aufwachen, geweckt von einer Push-Meldung auf unseren Smartphones, die in schlichten Worten Fundamentales vermeldet: „Die führenden Zentralbanken der Welt haben in einer konzertierten Aktion Staatsanleihen von ihren Bilanzen gestrichen.“ Noch im Halbschlaf, gähnend gelangweilt von der Abstraktheit dieser Schlagzeile, werden wir uns nach der ersten Tasse Kaffee überrascht die Augen reiben und kopfschüttelnd zugleich die Frage stellen: Staatsverschuldung, ein Phänomen von gestern? 

Käme es zu dieser Aktion, würde sich ein ökonomisch-tektonischer Tabubruch mit fundamentaler Veränderungsqualität vollziehen, den man gemeinhin auch als Schuldenschnitt bezeichnen kann. Kurz und schmerzlos nach dem Motto eines Abzählreims aus unseren Kindertagen:„Ene, mene, meck – und du bist weg!“ Kurz vielleicht, aber wäre das wirklich auch schmerzlos? 

Riesige Schuldenberge

Der Reihe nach: Die Staatsverschuldung ist in den vergangenen zehn Jahren in allen großen Industrienationen der Erde und ganz besonders im Euroraum explosionsartig angestiegen. So wird im Jahr 2021 der Schuldenstand in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt in Deutschland immerhin 80 Prozent, in Frankreich 118 Prozent, in Italien 159 Prozent und in Griechenland, selbst nach dem bereits erfolgten ersten Schuldenschnitt im Zuge der Griechenlandkrise, schon wieder weit über 200 Prozent betragen. 

Zur Erinnerung: Der Vertrag von Maastricht sieht eine Schuldenquote von maximal 60 Prozent vor. Parallel dazu hat die EZB die Zentralbankgeldmenge von vormals 900 Milliarden seit 2008 auf mehr als sieben Billionen Euro in 2021 gesteigert, also nominal mehr als eine Versiebenfachung. In Japan beträgt die Ausweitung der Zentralbankgeldmenge im gleichen Zeitraum sogar mehr als das Zehnfache. Großbritannien hat seit 2016 dazu einfach die Statistik ausgesetzt, und es liegen heute keine öffentlichen Zahlen mehr zur Zentralbankgeldmenge der Bank of England vor. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die Geldflut

Ursache dieser enormen Geldmen­genausweitung ist die Politik des Quantitative Easing, also des Flutens der Kapitalmärkte mit Liquidität, mit dem Argument, die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise monetär abzufedern. Neben dem Aufkauf einer Vielzahl von Wertpapieren sind dabei von den Zentralbanken vor allem Staatsanleihen erworben worden. Dies erfolgte nicht zuletzt, um den nicht zu bändigenden Ausgaben- und Verschuldungshunger der Regierungen zu stillen. Gut für die Staaten, denn für die ausgelobten Niedrigzinsen wären wohl kaum private Marktteilnehmer bereit gewesen, die Staatstitel bei ihrer zum Teil mediokren Bonität in solchem Umfang zu erwerben. 

Seither liegen sie auf den Bilanzen der Zentralbanken und fristen ihr schlecht verzinstes Dasein, was Kritiker mit solider Berechtigung als indirekte Staatsfinanzierung geißeln. Eine Politik, die eigentlich nach der Verfassung der EZB unzulässig ist und die mehrfach vonseiten des Bundesverfassungsgerichts gerügt würde.

Die Geister, die die EZB rief

Da die Staaten sich weiterhin kräftig im Schuldenmachen üben und es im Zuge der aktuell notwendigen Corona-Kompensationsmaßnahmen leider dazu wenig Alternativen gibt, können sie sich bis auf Weiteres höhere Zinsen nicht leisten. So würde ein signifikanter Zinsanstieg etwa den Staatsbankrott weiter Teile Südeuropas katalysieren, was unbestritten weder der europäischen Integration noch durch die Beschleunigung der Zentrifugalkräfte im Euroraum der Existenz des Euros zuträglich wäre. 

Für Letzteres steht aber die EZB, und so ist es nur zu verständlich, dass deren Gremien nicht bereit sind, den (Zins-)Ast zu sägen, auf dem sie selbst sitzen: Ohne Euro keine EZB, mit Zinserhöhungen keinen Euro mehr, also bis auf Weiteres keine Zinserhöhungen. 

Alternativloser Schuldenschnitt?

Unterstellt man mit Blick auf die Staatsausgaben konstantes Verhalten unserer Politiker, bleibt als Alternative zur Inflation allein der Schuldenschnitt, um die Staaten aus der selbst verschuldeten Bonitätsfalle zu befreien. Einzig der Schuldenschnitt wird den Zentralbanken wieder den Spielraum geben, sich selbst und uns aus der Nullzinsfalle herauszuführen. Nur wenn die absolute Staatsverschuldung wieder auf ein erträgliches Maß relativ zum Bruttoinlandsprodukt beziehungsweise der Größe der jeweiligen Volkswirtschaft zurückgeführt wird, verbessert sich die Bonität des Staates und entsteht für ihn damit am privaten Markt wieder neue Verschuldungskapazität zu leistbaren Zinsen, ganz wie im wahren Leben. 

Diesen Schuldenschnitt minimalinvasiv zu führen, also ohne dabei die globalen Kapitalmärkte zu erschüttern oder gar in den Abgrund zu reißen, ist die höchst diskrete und zugleich turmhohe Herausforderung, vor der die Zentralbanker und Politiker dieser Welt nun stehen und in die sie sich willentlich hineinmanövriert haben.

Alleingang unmöglich

Die Umsetzung des Schuldenschnitts über die Bilanzen der Zentralbanken kann aber nie im Alleingang funktionieren, sondern nur im stillschweigend konzertierten, hoch diskreten wie simultanen Handeln aller wesentlichen Zentralbanken der Welt. Die Fed, die EZB, die Bank of Japan oder auch die Bank of England müssen dazu abgestimmt spielen. Da alle die gleichen Probleme drücken und ihre Bilanzen vor Staatstiteln zu bersten drohen, entspräche die Konzertierung durchaus rationalem Verhalten. 

Würde etwa nur die EZB mit den ihr angeschlossenen nationalen Notenbanken die Schuldtitel der europäischen Staaten von ihren Bilanzen ausbuchen, das heißt einseitigen Schuldenverzicht zugunsten ihrer Trägerstaaten üben, dann würde sie über Nacht an den Kapitalmärkten massiv an Vertrauen verlieren. Die gestrichenen Staatspapiere würden bei der Zentralbank zu einer Bilanzverkürzung sowie signifikant negativer Eigenkapitalposition führen. Mit negativem Eigenkapital wäre weder Vertrauen zu gewinnen noch Staat zu machen, würde gar der Gang zum Insolvenzrichter drohen, gäbe es einen ebensolchen für Zentralbanken. 

Finanzmärkte als Richter

Das Gericht der Zentralbanken ist der Kapitalmarkt. Der Euro würde auf den Finanzmärkten aufgrund des Vertrauensverlusts gegenüber dem Hüter seiner Stabilität zum Zielobjekt massiver Währungsspekulationen werden, und die Welt würde sich blitzartig neben einer Eurokrise in der Folge in einer veritablen Weltwährungs- und Wirtschaftskrise wiederfinden. Nur wenn also alle mit relevanten Währungen ausgestattete Zentralbanken der Welt das Gleiche tun, das heißt abgestimmt simultan agieren, kann eine Erschütterung des Weltfinanzsystems verhindert werden. Denn selbst die Finanzmärkte können nicht gegen die Gesamtheit dessen, was sie währungsseitig selbst bedingt, spekulieren. 

Gemeinsames Handeln ist folglich im Interesse aller Akteure. Die höchst diskrete Vorbereitung und plötzliche Schaffung von Fakten sind die zentralen Erfolgsfaktoren eines Umsetzens dieser Strategie und bedingen ihrerseits wiederum den Weg aus der Bonitäts- und Niedrigzinsfalle. Wenn alle wesentlichen Zentralbanken der Welt ein negatives Eigenkapital aufweisen, dann wird dies faktisch zu einer systemischen Konstante, von der als solcher keine wesentlich negativen Vertrauenswirkungen ausgehen können, zumal sie über die Zeit im Zuge der alljährlichen Verbuchung künftiger Zentralbankgewinne sublimieren wird. 

Den Staaten Zeit verschaffen

Mit der gestiegenen Bonität und Kapitalmarktfähigkeit der davon profitierenden Staaten könnten die Zentralbanken dann den notwendigen Spielraum gewinnen, um über einen längeren Zeitraum die Zinsen sukzessive wieder zu erhöhen und damit den Staaten das zumuten, was ihnen grundsätzlich zinsseitig zuzumuten sein sollte. Mit dem Verkauf der restlich auf ihren Bilanzen verbliebenen Staatsanleihen könnten die Zentralbanken die im Umlauf befindliche Geldmenge reduzieren und einer weiteren Wiederaufblähung und Hortung von Liquidität entgegenwirken. 

Eine Stimulation von Kreislaufwirtschaftsprozessen und damit Wachstumsimpulse sollten die Folge sein. Der Zins würde so über die Zeit auch seine Signalfunktion als Risikoindikator für Anlagen zurückgewinnen, und im privaten Sektor könnte endlich der massiven Enteignung von Sparern entgegengewirkt werden.

„Ene, mene, meck – und du bist weg“? Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, und wenn das Leben nicht dialektisch wäre, könnte man sich an dieser Stelle die Erörterung der unter der Decke der Push-Meldung auf unserem Mobiltelefon schlummernden Risiken ersparen. Des einen Freud ist aber bekanntlich des anderen Leid, und so würden sich künftige Zinssteigerungen zwangsläufig mit Kursverlusten bei denjenigen Anlegern niederschlagen, die Staatsanleihen im Depot haben. Da zu dieser Gruppe zuvörderst auch institutionelle Anleger wie Banken oder Versicherungen zählen, könnte dies zu sektoralen Verwerfungen führen, deren Auswirkungen a priori zu analysieren sind. Von den Verantwortlichen des Schuldenschnitts wären entsprechende Strategien zur Mitigation zu entwickeln.

Eine Strategie der Reichen

Da das Streichen von Staatsanleihen aus den Bilanzen der Zentralbanken im Wesentlichen eine Strategie der entwickelten Länder und Währungsräume wäre und zunächst exklusiv ihrem eigenen Interesse dient, bleibt zu diskutieren, welche Auswirkungen ihre Umsetzung auf die Entwicklungsländer beziehungsweise die sogenannten Emerging Markets hätte. Diese gehörten ehedem zu den Opfern der sich global vollziehenden Umverteilung von Wohlstand und Kapital infolge des Quantitative Easing und könnten mit einem einseitigen Schuldenschnitt in noch größeres Bonitäts- beziehungsweise Währungsgefälle hineingetrieben werden. 

Die Folgen wären verheerend und ethisch nicht zu vertreten. Eine Umsetzung der Strategie darf sich im Sinne globaler Verantwortung also nicht in nationalegoistischer Nabelschau ergehen, sondern muss das Abfedern von Risiken und die Sicherung von Chancen für diese Länder von vornherein im Blick haben. Dies hätte auch präventive Wirkung gegen eine drohende Emerging-Markets-Krise an den Kapitalmärkten, die wiederum weitreichende negative Folgen für alle Wirtschaftsteilnehmer auf diesem Globus, einschließlich der G-7-Staaten, hätte. 

Schuldenschnitt kann nicht die Regel werden

Der Schuldenschnitt darf auch nicht dazu führen, die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Vergangenheit ex post zu adeln und eine „Tischlein deck dich“-Illusion zu erzeugen, denn ein Perpetuum Mobile ist er keineswegs. Im Stillen abgestimmt und mit Überraschungseffekt die Kapitalmärkte überrumpelnd, mag die Strategie der Zentralbanken zunächst aufgehen. Das ewige Gedächtnis der Märkte wird einen Wiederholungsversuch jedoch abstrafen und a priori zu verhindern suchen. Das Ausweichen in neue, dem Geldschöpfungsmonopol der Zentralbanken entzogene Währungen wäre zwangsläufig, einhergehend mit einem massiven Vertrauens- und Bedeutungsverlust des klassischen monetären Systems insgesamt. 

Bitcoin und Ethereum wären so nur die Vorboten einer völlig neuen Finanzwelt mit unübersehbaren Folgen. Falls uns und den Entscheidern in Politik und Zentralbanken also daran liegt, eine langfristig stabile Zukunft zu bauen, sollte im Sinne des Abzählreims gelten: „… weg bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie nachhaltig du bist!“
 

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