Staatsschulden und Corona - Die Japanisierung Europas

Beim EU-Gipfel in Brüssel wird weiterhin hart über gigantische Corona-Hilfen verhandelt. Wohin grenzenloses Schuldenmachen führt, lässt sich in Japan seit fast 40 Jahren beobachten. Wie duldsam werden die Europäer den sinkenden Wohlstand ertragen, wenn wir diesem Weg nun folgen?

Macron und Merkel beim EU-Gipfel: Wenn die Schulden grenzenlos steigen, sinkt der Wohlstand in der Eurozone / picture alliance
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Gunther Schnabl ist als Ökonomieprofessor Experte für Geldpolitik. Er leitet das Institut für Wirtschaftspolitik an der Uni Leipzig. Foto: Universität Leipzig

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Seit die Corona-Krise die Volkswirtschaften heimsucht, haben die Regierungen in ganz Europa riesige schuldenfinanzierte Ausgaben- und Kreditprogramme auf den Weg gebracht. Die Europäische Zentralbank (EZB) flankiert diese Konjunkturprogramme mit immensen Ankäufen von Staats- und Unternehmensanleihen. Oft heißt es, diese Krise sei beispiellos.

So außergewöhnlich die Maßnahmen auch scheinen, vieles erinnert an Japan. Dort betreibt Ministerpräsident Shinzo Abe schon seit 2013 mithilfe des Zentralbankpräsidenten Haruhiko Kuroda unter dem Markennamen „Abenomics“ wirtschaftspolitisches Harakiri. Orientieren sich unsere Regierungen nun ausgerechnet am unheilvollen japanischen Modell? Die Folgen scheinbar grenzenlosen Schuldenmachens wären einschneidend. 

Billiges Geld, Blasen und Krisen

Das lange Leiden Japans ist eine Geschichte des billigen Geldes. Sie reicht zurück bis in die erste Hälfte der achtziger Jahre. Ein großer Handelsüberschuss mit den USA war damals entstanden. Um diesen zu beseitigen, verkündeten die fünf größten Industrienationen im September 1985 auf Druck der USA im New Yorker Plaza-Hotel eine starke Aufwertung des japanischen Yen. Als dieser dann innerhalb von zwei Jahren um 50 Prozent an Wert gewann, wurde das exportabhängige Japan in eine tiefe Rezession gestürzt. Die Bank von Japan reagierte mit starken Zinssenkungen, was eine Spekulationsblase auf den japanischen Aktien- und Immobilienmärkten befeuerte. Auf deren Höhepunkt soll der japanische Kaiserpalast angeblich mehr wert gewesen sein als ganz Kalifornien. Ähnliche Blasen waren auch in Südeuropa entstanden infolge der Zinssenkungen der EZB in Reaktion auf das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000. Und auch Deutschland kennt seit 2010 solche Blasen aufgrund der geldpolitischen Rettungsaktionen im Zuge der europäischen Finanz- und Schuldenkrise.

Als die Bank von Japan dann Ende der achtziger Jahre die Zinsen erhöhte, platzte die Blase. Japan rutschte in eine tiefe Krise: Immobilien und Aktien verloren stark an Wert, die privaten Banken waren mit einem Riesenberg notleidender Kredite konfrontiert. Zwar senkte die japanische Zentralbank die Zinsen erneut, aber die erhoffte wirtschaftliche Erholung blieb aus. Zunächst transportierten Japans Banken das billige Geld nach Südostasien und befeuerten dort ein Wirtschaftswunder. Als dieses mit der Asienkrise 1997/1998 ein abruptes Ende fand, hatten die Banken noch mehr notleidende Kredite. Es kollabierten Finanzriesen wie das Wertpapierhaus Yamaichi, dessen Präsident sich weinend öffentlich entschuldigte. 

Zombifizierung der Wirtschaft

Noch mehr billiges Geld dämmte zwar die japanische Finanzmarktkrise ein, löste sie aber nicht. Immer neue staatliche Konjunkturpakete, wie derzeit in Europa, folgten. Das Land der aufgehenden Sonne wurde mit einem dichten Netz von Autobahnen und Zugstrecken überzogen. Die Steuereinnahmen blieben stets weit hinter den Staatsausgaben zurück. Die Staatsverschuldung stieg von 64 Prozent (1990) auf zuletzt 240 Prozent des BIP. 

Nachdem 1999 die Nullzinsgrenze erreicht war (im Eurogebiet 2016), begann die japanische Zentralbank 2001, in großem Umfang Staatsanleihen zu kaufen (die EZB im Eurogebiet seit 2010). Seit 2013 kamen Aktien und Immobilienfonds hinzu. Die Bilanz der Zentralbank wuchs so von 10 Prozent des BIP im Jahr 1990 auf zuletzt circa 120 Prozent an (EZB: circa 50 Prozent). Inzwischen hält die Bank von Japan fast die Hälfte aller ausstehenden Staatsanleihen.

Durch die Konjunkturprogramme und die anhaltend lockere Geldpolitik wurde zwar Arbeitslosigkeit verhindert. Die Arbeitslosenquote lag 2019 bei 2,3 Prozent. Dafür aber mussten Zinsen dauerhaft niedrig gehalten, Kreditbedingungen für Firmen immer weiter gelockert werden. Immer mehr kleine und mittlere Unternehmen wurden von der nachsichtigen Kreditvergabe abhängig und so zombifiziert. Weil wichtige Strukturanpassungen verhindert wurden, blieb das Wachstum schwach. 

Waren die Banken noch während der Blasenökonomie übermächtig. Jetzt kamen sie in Bedrängnis, weil die nicht endende Niedrig-, Null- und Negativzinszinspolitik auf die Zinsmargen drückte. Ein stetiger Druck entstand, Filialen zu schließen, Personal abzubauen und zu fusionieren, gerade für kleine und mittlere Regional- und Genossenschaftsbanken abseits der Zentren. Zuletzt lockerte Ministerpräsident Abe sogar das Monopolgesetz, damit sich dieser Fusionsprozess fortsetzen kann.

Werden die Europäer so ruhig bleiben wie die Japaner?

Die realen Löhne in Japan aber sind seit 1998 im Trend gefallen, um durchschnittlich 0,5 Prozent pro Jahr. Das betraf gerade junge Berufseinsteiger, geringer Qualifizierte und Frauen, die oft Teilzeit arbeiten, um den Lebensstandard der Familien aufzubessern. Auch mehr ältere Menschen bleiben nach Eintritt ins Rentenalter oft in schlecht bezahlten Anstellungen tätig. Die Zahl der Erwerbstätigen nahm trotz schnell alternder Bevölkerung von 44 Millionen 1990 auf 57 Millionen 2019 zu. Das System der lebenslangen Beschäftigung, für das Japan einst bekannt war, ist passé. Waren 1990 noch 80 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse für das ganze Leben, sind es heute nur noch gut 60 Prozent. Viele junge Menschen, die sich keine eigene Wohnung leisten können, bleiben als „Parasitensingles“ bei den Eltern wohnen. Da sie keine Familien gründen, ist die Geburtenrate niedrig, was das Rentensystem weiter in Schieflage bringt. Auf regionaler Ebene fokussiert sich die wirtschaftliche Aktivität immer mehr auf den Großraum Tokio, weil sich dort die großen exportorientierten Unternehmen konzentrieren. Diese profitieren von der ultralockeren Geldpolitik, weil sie die Finanzierungskosten senkt und den Yen abwertet. Zudem kauft die Bank von Japan deren Aktien, während kleine und mittlere Firmen in der Peripherie von der anhaltend schwachen Binnenwirtschaft abhängig sind.

Die Staatsverschuldung wächst weiter, weil die Steuereinnahmen schleichend wegbrechen. Die Regierung kann es sich politisch nicht leisten, die kostspieligen Subventionen für das Rentensystem und den regionalen Finanzausgleich zu reduzieren. Zugleich erwies sich die Erhöhung der eher niedrigen Konsumsteuer (derzeit 10 Prozent) als konjunkturschädlich. Mit der Corona-Krise dürfte die Staatsverschuldung weiter steigen. Der Economist meint, Japan sei dabei, die Grenzen der Wirtschaftspolitik auszutesten. Ob das nachahmenswert ist, sei ungewiss. 

Die europäischen Regierungen aber folgen mit Rückhalt der EZB dem japanischen Modell. Während es im südlichen Euroraum schon seit Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise Anzeichen für eine um sich greifende Zombifizierung von Firmen gibt, dürften die umfangreichen Hilfskredite nun auch für Deutschland in diese Richtung weisen. Ein negativer Einfluss auf die Löhne scheint gewiss. Ob die Europäer den schleichenden Verlust des Wohlstands so geduldig hinnehmen werden wie die Japaner, ist zweifelhaft. In Frankreich und Italien regt sich bereits breiter Widerstand. Besser wäre eine wirtschaftspolitische Wende, die den Fokus der europäischen Wirtschaftspolitik wieder auf eine harte Währung und Wettbewerb legt. Das aber würde den Mut eines japanischen Samurai erfordern.
 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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