Deutscher Spitzensport in der Krise - „Mit Amateurstrukturen wollen wir Weltklasse produzieren“ 

Die historische Schlappe bei der Leichtathletikweltmeisterschaft in Budapest wirft Fragen auf über den Zustand des deutschen Spitzensports. Für den ehemaligem DLV-Präsidenten Clemens Prokop gibt es mehrere strukturelle Baustellen sowie ein Mentalitätsproblem.

Speerwerfer Julian Weber bei der Leichtathletik-WM in Budapest, 27.08.2023 / dpa
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Autoreninfo

Alexandre Kintzinger studiert im Master Wissenschafts- philosophie an der WWU Münster und arbeitet nebenbei als freier Journalist. Er ist Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung (JONA) der Konrad-Adenauer-Stiftung. 

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Clemens Prokop ist derzeit Präsident des Landesgerichts Regensburg. Der ehemalige Leichtathlet und Sportfunktionär war von 2001 bis 2017 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). 

Herr Prokop, hätten Sie mit dieser schwachen Leistung bei der WM gerechnet? 

In den letzten Jahren zeichnete sich bereits ein Trend ab, dass der Topleistungsbereich bei uns etwas stagniert. Wir haben bereits bei der letzten Weltmeisterschaft in den USA 2022 festgestellt, dass hier der Anschluss an die absolute Weltspitze zu bröckeln begann. Jetzt in Budapest hat sich noch mal ein klareres Bild ergeben. Der Anschluss an die absolute Weltspitze ist in weiten Teilen verloren. Das mag jetzt in der konkreten Feststellung natürlich eine Enttäuschung sein, weil man vor einer Weltmeisterschaft immer noch hofft, dass es vielleicht doch die eine oder andere Überraschung geben wird. Aber im Endergebnis war es dann doch ein sehr ungeschminktes Bild der Realität. 

Der DLV-Präsident Jürgen Kessing hatte gesagt, dass der Rest der Welt in den vergangenen Jahren stärker wurde als Deutschland. Die Leichtathletiknation Deutschland wurde also schwächer?  

Ich meine, die Leistungen, welche die deutschen Athleten gebracht haben, waren im Vergleich zur Vergangenheit in vielen Bereichen schon auf einem hohen Niveau. Das Problem ist, dass die Spitze der Leichtathletik in der Welt sich weiterentwickelt hat und in Deutschland eine gewisse Stagnation eingetreten ist. Diese Auseinanderentwicklung beruht auf verbandsspezifischen Problemen wie dem altersbedingten Ausscheiden vieler erfolgreicher Trainer, vor allem aber auch auf strukturellen Problemen. 

Nationen wie Großbritannien, aber auch die Niederlande oder Norwegen, haben im Vergleich zu ihrer Größe gute Ergebnisse bei der WM erzielt. Was machen diese Länder besser? Und was könnte man sich in Deutschland dort abschauen?  

Clemens Prokop / privat

Wenn man andere Länder betrachtet, muss man zunächst auch gewisse Vorsicht walten lassen, weil es in manchen Ländern einfach ein oder zwei Jahrhunderttalente gibt, die den Eindruck erwecken, dass dort ein besseres Sportsystem bestehen würde. Und wenn diese Jahrhunderttalente dann in den sportlichen Ruhestand treten, dann ist plötzlich das sportliche Wunder weg. Ich erinnere an einige Jahre zurück. Da wurde immer das sogenannte schwedische Modell in der Leichtathletik angeführt. Das lag an zwei, drei Topathleten in Schweden, die weltweit dominierend waren. Nach deren sportlichem Ruhestand war diese sportliche Perspektive beendet.

Das zeigt, es wurde nachhaltig nichts besser gemacht, sondern es war einfach das Glück der günstigen Stunde. Aber es gibt natürlich andere Länder, wo man auch feststellen muss, dass sie inzwischen strukturell effizienter sind. Zum Beispiel würde ich die Niederlande durchaus als ein Land einstufen, das strukturell einige Vorteile hat. Aber ich glaube, neben dem Studium anderer Länder muss man vor allem auf das eigene Land blicken und schauen, wo denn derzeit unsere strukturellen Schwächen liegen.  

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) weist auf Probleme bei der Talentförderung hin. Ist dies eine dieser strukturellen Schwächen, und wo hapert es dort? 

Ich denke, wir haben da zwei grundsätzliche strukturelle Probleme. Das beginnt bei der Talentfindung bzw. bei der Talentbindung und setzt sich fort bei der Förderung des Spitzensports. Die Talentfindung hat in vielen Jahrzehnten sehr stark über den Schulsport stattgefunden. Der Schulsport hat sich aber vom Leistungsgedanken im Sportunterricht weitgehend verabschiedet, so dass dieser Schulsport als Basis für die Motivation von jungen Menschen zu einer Sportart hin eigentlich fast ausscheidet.

Was wir momentan bei der Talentfindung haben, ist ein Zufallsprinzip, dass jemand sein Talent für eine bestimmte Sportart erkennt und dann aus eigener Initiative zu einem Verein geht. Aber mit Blick auf die Leistungsdichte und die Entwicklungszahlen von Leistungssportlern funktioniert dieses Zufallsprinzip immer weniger. Das heißt, wenn wir hier langfristig im Leistungssport wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen wir ein System entwickeln, das diesen Ausfall der Schulen kompensiert.  

Was die Fehlentwicklung im Nachwuchsbereich betrifft: Der ehemalige Olympiasieger Robert Harting hatte sich dazu sehr kritisch geäußert. Er beklagte dahingehend, dass die Politik einen Sport mit weniger Leistungsansprüchen und Wettbewerbsgedanken wolle. Ist eine solche moralistische Sichtweise der Politik auf den Sport fehl am Platz?  

Ich denke, Robert Harting hat hier auf Veränderungen bei den Bundesjugendspielen angespielt, wonach im Prinzip kein transparentes Wettbewerbssystem mehr stattfinden soll, damit es keine Verlierer im Sport gibt. Damit soll das traumatische Erlebnis einer Niederlage erspart bleiben. Das ist natürlich ein Witz, weil der Sport vom Leistungsgedanken, vom Leistungsvergleich und vom Traum, die eigenen Leistungsgrenzen zu verschieben, lebt. Und wenn ich diese Wesenselemente wegnehme, dann werden auch keine großen Anreize geschaffen, sich überhaupt in den Leistungssport zu begeben. Ich glaube, dass insgesamt die Gesellschaft ärmer wird, wenn wir dieses Leistungsstreben, aus welchen Gründen auch immer, so hintanstellen.  

Dann gab auch sehr viel Kritik am sogenannten Potenzialanalysesystem (PotAS), dass dort der Fokus auf gewisse Sportarten gelegt wird, die vielleicht Medaillenchancen erbringen. Werden dadurch viele Talente einfach übersehen, und müsste es dort zu einer grundlegenden Reform kommen?  

Dieses Potenzialanalysesystem ist ein reines Bürokratiemonster geworden. Außerdem kann man bilanzieren, dass es bislang nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Wir erleben derzeit einen Niedergang des deutschen Sports im internationalen Vergleich in weiten Teilen. Dieses Verteilungssystem für Bundesmittel an den Spitzensport geht von der aus meiner Sicht irrigen Annahme aus, dass grundsätzlich alle Sportarten bei der Mittelvergabe nach gleichen Kriterien verglichen werden können, also selbst so unterschiedliche Sportarten wie Skispringen oder Eiskunstlauf und Leichtathletik.

Was die Flächenbezogenheit der Sportarten, ihre Strukturen und ihre Organisation betrifft, sind diese Sportarten jedoch völlig unterschiedlich. Das Potenzialanalysesystem geht im Kern aber davon aus, dass sich alle Sportarten eigentlich nach gleichen Kriterien bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Potentials bewerten lassen. Das ist, glaube ich, ein theoretischer Grundfehler. Das Ergebnis jedenfalls zeigt, dass dieses neue System nicht zu den gewünschten Erfolgen führt. 

Das heißt im Grunde, wie oft so in Deutschland, dass auch hier der Sport an der Bürokratie krankt, oder?  

Das ist richtig. Der Sport bedarf eigentlich einer dynamischen Anpassungsfähigkeit, und die wird dem Sport durch dieses Bürokratiemonster, das Potenzialanalysesystem (PotAS), eher genommen.

Sie sprachen noch von einem weiteren strukturellen Problem, was die Förderung des Spitzensports betrifft. 

Ich denke, Budapest hat für die deutsche Leichtathletik, vielleicht aber auch für den deutschen Sport, folgendes gezeigt: Die Leichtathletik basiert seit Jahrzehnten, eigentlich seit Gründung der Leichtathletik, auf einem Vereinssystem. Das heißt, die Entwicklung der Athleten erfolgt in den Vereinen. Das wird ergänzt im Bereich des Spitzensports durch die beratende Funktion von Bundestrainern und durch gelegentliche Veranstaltungen von Trainingslagern. Das hat viele Jahrzehnte funktioniert, weil wir wirtschaftlich starke Vereine hatten, die in der Lage waren, Athleten auf Weltniveau vorzubereiten.

Diese starken wirtschaftlichen Vereine sind jedoch die große Ausnahme geworden oder es gibt sie gar nicht mehr, so dass mehr und mehr die Athletenbetreuung im Schwerpunkt durch Ehrenamtliche erfolgt. Salopp gesagt: Mit Amateurstrukturen wollen wir Weltklasse produzieren. Das funktioniert nicht mehr. Deshalb brauchen wir, um künftig noch mit den Entwicklungen in anderen Ländern Schritt zu halten, ein Additiv zu dieser vom Ehrenamt geprägten Vereinsstruktur, zum Beispiel professionelle Trainingsgruppen bei den Athleten, die Medaillenpotenzial haben. 

Um zum Beispiel diese professionellen Trainingsgruppen aufzubauen, dafür braucht es ja auch finanzielle Mittel. Der DOSB beklagt, dass im bisherigen Entwurf des Bundeshaushalts vorgesehen ist, die Fördermittel für den Spitzensport für das Olympiajahr 2024 um zehn Prozent zu kürzen. Aber ist es nur eine Frage des Geldes? Denn andererseits wird doch in Deutschland schon viel Geld in den Spitzensport gesteckt, oder?  

Das stimmt, und die Frage ist natürlich, wird das Geld richtig verwendet? Wenn ich solche professionellen Trainingsgruppen aufbauen will, sehe ich das eher in den Händen der Verbände, möglicherweise unterstützt von den Sponsoren. Wir haben ja im internationalen Sport durchaus vergleichbare Konstruktionen, die zum Beispiel von Sportartikelausrüstern getragen werden. Da funktioniert das. Aber Sie sprechen da natürlich den Punkt an, dass die Bundesregierung beabsichtigt, im kommenden Jahr die Sportfördermittel um zehn Prozent zu kürzen.

Das ist natürlich schon erstaunlich, dass ausgerechnet im Olympiajahr diese Mittelkürzung vorgenommen wird. Die Mittel gelten schon jetzt als nicht ausreichend, um international konkurrenzfähig zu sein. Und wenn ich diese Mittel noch kürze, sieht man, dass der Stellenwert des Spitzensports momentan bei der Bundesregierung nicht so hoch angesiedelt ist. Dem Spitzensport werden hierdurch wichtige Entwicklungsmöglichkeiten genommen. 

Ist es vielleicht auch so, dass der Sport oder einige Sportarten insgesamt von Teilen der Gesellschaft als weniger relevant wahrgenommen werden und die Politik dies dann auch so wahrnimmt?  

Auf dieser Ebene betrachtet kann man beobachten, dass der Sport international immer dann besonders erfolgreich war, wenn wir auch besondere gesellschaftliche Aufbruchsituationen in der Gesellschaft hatten. Beispiel Fußballweltmeisterschaft 1954 und das beginnende Wirtschaftswunder in Deutschland oder beispielweise zu Beginn der der 90er Jahre. Momentan erleben wir, dass der deutsche Sport eigentlich in weiten Teilen den Anschluss an den Topbereich verliert. Beispiel Fußballnationalmannschaft der Herren und der Frauen, beim Schwimmverband, im Turnen, bei der Leichtathletik usw.

Es stellt sich daher die Frage: Haben wir angesichts dessen vielleicht derzeit auch ein gesamtgesellschaftliches Problem mit dem Leistungsgedanken, den der Sport hier verkörpert? Als Beispiel hierzu möchte ich die Bundesjugendspiele erwähnen, bei denen der Leistungsvergleich eingeschränkt wird, um einem jungen Menschen das Trauma einer Niederlage zu ersparen. Bei allem Bedürfnis für eine verbesserte Verteilungsgerechtigkeit stellt sich manchmal die Frage, welchen Stellenwert Leistungsstreben und Leistungsvergleich in unserer Gesellschaft haben.  

Der Sport ist auch immer etwas, das manche Bevölkerungsteile interessiert und andere nicht. Überhöhen wir nicht vielleicht die Rolle des Sports in der Gesellschaft zu sehr? Oder anders gesagt, was mach denn den Sport so wichtig für die Gesellschaft? 

Das Prinzip des Sports ist der Traum, eigene Leistungsgrenzen zu verschieben. Und das heißt, ich mache die Erfahrung, dass ich mit Anstrengung meine quasi naturgegebenen Leistungsgrenzen erweitern kann. Ich denke, dass dies eine ganz wesentliche pädagogische Erfahrung ist, die in den Schulen von elementarer Bedeutung ist, aber für jeden auch eine wichtige Erfahrung, die auf viele Teile des Lebens übertragen werden kann. Deshalb lebt der Sport eben nicht nur von dem Gedanken, dass die Gesundheit verbessert werden kann, sondern legt ein wichtiges pädagogisches Prinzip aus.

Und dieses pädagogische Prinzip ist auf eine Optimierung der Leistung und deswegen konsequent im Leistungssport eben auf die höchstmöglichen Ziele ausgerichtet. Natürlich kann nicht jeder Weltmeister werden. Aber das Prinzip und die Erfahrung des individuellen Vermögens, Leistungsgrenzen zu verschieben, ist das Wichtige. Und deshalb ist es so großer Bedeutung, dass wir diesen zentralen Gedanken des Leistungssports – bei allem Wert von Freude und Spaß – in das Zentrum rücken.  

Das Gespräch führte Alexandre Kintzinger.

 

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