Rechtsanwalt Timo Gansel - Mit Codes gegen Konzerne

Der Berliner Rechtsanwalt Timo Gansel ist im Dieselskandal zum Schrecken der Autohersteller geworden. Jetzt nimmt er sich deren Versprechen für E-Autos vor. Dabei geht es um zu geringe Reichweiten und zu lange Ladezeiten im Vergleich zu den Werten in den Prospekten.

Nachdem Timo Gansel manipulierende Hersteller von Dieselautos verklagt hat, nimmt er sich jetzt Elektroautos vor / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es ist der Sound der hippen Berliner Mitte. Timo Gansel empfängt die Besucher in Turnschuhen, Jeans und Kapuzenpulli. Im Büro hängt zeitgenössische Kunst, durch das Panoramafenster schaut man auf die Spree und den Fernsehturm. In der Teeküche eine sündhaft teure Siebträger-Espressomaschine und ein verglaster Getränkekühlschrank, der sehr viele Flaschen Club Mate enthält, das Kultgetränk der Berliner Hipster. Und natürlich duzt man sich hier.

Das klingt nach einem erfolgreichen Start-up-Unternehmen, doch das trifft es nur zum Teil. Der 54-jährige promovierte Rechtsanwalt betreibt bereits seit 2004 eine auf Verbraucherrecht spezialisierte Kanzlei – und jetzt ist er Vorstandsvorsitzender und Gesellschafter einer Aktiengesellschaft mit rund 250 Mitarbeitern. Vor allem durch den Diesel-Abgasskandal wuchs sein Unternehmen enorm.

Transparenter Rechtsdienstleister

Rund 35 Anwälte sind für Gansel tätig, aber auch zahlreiche Softwareentwickler, IT-Spezialisten, wissenschaftliche Mitarbeiter, PR-Experten sowie junge Nachwuchsjuristen auf dem Weg zum zweiten Staatsexamen. Die Arbeitsorganisation basiert vor allem auf Projektteams. Man sei immer auf der Suche nach Nachwuchskräften, „die sowohl brillante Juristen sind als auch ein tief verwurzeltes Gerechtigkeitsempfinden haben“, beschreibt Gansel seine Philosophie der Mitarbeiterrekrutierung.

Mit dem Standesdünkel und den klassischen Organisationsformen der Advokatenzunft hat Gansel wenig am Hut. Viele Anwälte seien „nicht sozialisiert, nicht reflektiert und arbeiten mit einem extrem intransparenten Geschäftsmodell“. Man müsse „Geld bezahlen und weiß nie, was dabei herauskommt“. Sein Unternehmen habe dagegen die Maxime, „jeden so zu behandeln, als ob er eine Rechtsschutzversicherung hat, auch wenn er keine hat“. Dazu gehört immer ein kostenloses Erstgespräch, in dem Chancen und Risiken eines Falles anhand der Erwartungen und Bedürfnisse des Kunden ausgelotet werden. Vor allem habe man Wege finden wollen, „für die Mandanten die Hürde des Geldes für ihr Recht abzubauen“.

Er selbst ist in Schwerin aufgewachsen, studierte ab 1990 Jura an der Humboldt-Universität in Berlin. Danach arbeitete er als Justitiar einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft. Anwaltszulassung, Promotion und Qualifikation als Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht folgten. Gansel sieht sich in erster Linie als Dienstleister in Sachen Recht, vor allem im Bereich Verbraucherschutz. Das betrifft Gebiete wie Versicherungs-, Bank-, Arbeits- und Verkehrsrecht, aber in den vergangenen Jahren war vor allem der Diesel-Abgasskandal im Fokus des Unternehmens. Bis zu 30.000 Autokäufer hat die Kanzlei in dieser Angelegenheit vertreten, um Regress­ansprüche gegen die betroffenen Hersteller durchzusetzen, meistens wurden Vergleiche geschlossen.

Digitalisierte Kanzlei

Auch nach dem Abgasskandal beziehungsweise dessen juristischer Aufarbeitung erwartet Gansel Prozesswellen in ähnlicher Größenordnung. „Danach kommen CO2-Zertifikate und E-Autos.“ Bei denen geht es um zu geringe Reichweiten und zu lange Ladezeiten im Vergleich zu den Werten in den Prospekten. „Viele dachten, der Markt wäre geheilt von solchen Manipulationen, aber die Konzerne machen einfach so weiter wie zuvor“, schätzt Gansel die Situation ein.

Schlüssel der Arbeitsweise der Kanzlei ist der hohe Grad der Digitalisierung, die unter der Bezeichnung „Legal Tech“ firmiert. Alle Dokumente des Mandanten werden eingescannt, ausgelesen und im ständig aktualisierten System abgeglichen, als Basis für eine Prozessstrategie und standardisierte Schriftsätze. Nach dieser „Dunkelverarbeitung“ wird aber jeder Fall von dem jeweils zuständigen Anwalt anhand dieser Auswertung weiter bearbeitet. Die Vorteile liegen auf der Hand: Für die Mandanten entfallen viele zusätzliche Gesprächstermine, für die Anwälte die mehrmalige Beschäftigung mit den Prozessdokumenten. „Recht besteht eigentlich nur aus Codes. Man kann das ganze Gelaber, das man im Jura­studium lernt, in Mathematik übersetzen. Da steckt jede Menge Softwareentwicklung und -konfiguration dahinter. Pro Woche werden bei uns mehrere Hundert Urteile von laufenden Fällen eingespeist und ausgewertet“, beschreibt Gansel das System.

In einer „normalen“ Kanzlei wäre dies kaum zu realisieren. Und Gansel hat einen hohen Anspruch an seine Arbeit. „Was mich am meisten antreibt, ist Gerechtigkeit. Und dabei versuche ich, so viel Wirksamkeit wie möglich zu entfalten. Dazu gehört es, systemisch zu denken, über den einzelnen Fall hinaus.“ Daraus habe sich die Idee, dies unternehmerisch zu gestalten, fast automatisch ergeben. Als Pionier sieht sich Gansel dabei eigentlich nicht. Aber so viel Bescheidenheit ist in diesem Fall fast schon unangebracht.

 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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