Ostdeutsche Hightech-Industrie - Endlich blühen die Landschaften

Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall werden Mittel- und Ostdeutschland zur Hightech-Region. Die Ansiedlung von Tesla und Intel ist nur die Spitze des Eisbergs des wirtschaftlichen Fortschritts. Alle größeren Städte des Ostens wachsen wieder, zum Teil kräftig. Dies ist ein später, aber großer Erfolg. Und er kommt keinesfalls überraschend.

Eine neue Generation von Leistungsträgern kehrt aus dem Westen in den Osten zurück / Stephanie Wunderlich
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Autoreninfo

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt und Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

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Viele Beobachter rieben sich die Augen. Im November 2019 verkündete Tesla, der global führende Hersteller von Elektroautos, eine Großinvestition im brandenburgischen Grünheide nahe Berlin; und schon im März 2022 lief der erste Wagen vom Band. Im selben Monat gab der amerikanische Computergigant Intel bekannt, dass er in Magdeburg den Bau eines Chipwerks plant, das größte in Europa; 2027 soll die Produktion starten. Tesla und Intel im Osten, mit beidem hatte zuvor kaum jemand hierzulande gerechnet. Man fragte sich: Wieso setzten sich im harten internationalen Wettbewerb ausgerechnet zwei Standorte durch, die inmitten der industriellen Steppe Mittel- und Ostdeutschlands liegen? Einer Region, die seit der deutschen Einheit 1990 unter massiven strukturellen Anpassungsproblemen gelitten hat? Was macht diese Region plötzlich so attraktiv? Oder handelt es sich nur um einen glücklichen Zufall – zwei Ausreißer in den Wogen der Globalisierung

Nein, von Zufall kann nicht die Rede sein. Stattdessen sind drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wesentliche Standortqualitäten der Region zur Reife gekommen, die eine gewisse Zeit brauchten, um in ihrer ganzen Tragweite gewürdigt zu werden. Drei davon sind von überragender Bedeutung: die Lage, die Wissenschaft und die Politik.

Zentrale Lage, gute Infrastruktur

Zunächst fällt auf, dass sowohl der mächtige Ballungsraum Berlin als auch der sehr viel bescheidenere Großraum Magdeburg im neuen Europa absolut zentral liegen. Denn längst sind das westliche und das östliche Mitteleuropa infrastrukturell perfekt zusammengewachsen. Ein Symbol dafür ist die in weiten Teilen sechsspurige Autobahn 2, auf der sich ein Lastwagen an den anderen reiht. Der Güterverkehr stammt vor allem aus den Niederlanden, Deutschland, Polen und dem Baltikum. Er ist der logistische Ausdruck jener verdichteten Wertschöpfungskette, die der industriellen Produktion in der EU ihre neue Kraft und Dynamik verleiht. Entlang dieser Strecke ist der wirtschaftliche Erfolg der Integration Europas mit Händen zu greifen. Standorte, die sich an dieser Achse aufreihen, profitieren massiv. In Deutschland sind dies Regionen, die lange Zeit nicht vom Strukturwandel begünstigt waren – von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bis nach Sachsen-­Anhalt und Brandenburg. Die Hauptstadt Berlin übernimmt dabei die Rolle des starken Zugpferds. Sie und ihr Umland haben die Industriezentren von Sachsen und Thüringen, die bis Mitte der 2000er-Jahre die meisten Investitionen anzogen, inzwischen im Wachstumstempo überholt.

Diese Entwicklung ist eher eine Rückgewinnung früherer Stärke aus den Zeiten vor der deutschen Teilung als ein völlig neuer Trend. Ein Blick auf alte wirtschaftsgeografische Karten der Weimarer Republik und des Kaiserreichs macht dies deutlich. Der mittel- und ostdeutsche Wirtschaftsraum mit dem boomenden Industriezentrum Berlin und seinen vier Millionen Einwohnern sowie dem umliegenden Kranz der Großstädte von Magdeburg, Halle, Leipzig bis Dresden – alle maximal 200 Kilometer entfernt – war damals der zweitstärkste großflächige Ballungsraum in Deutschland. Übertroffen wurde er nur vom Ruhrgebiet und seiner südlichen Verlängerung entlang des Rheins bis Mannheim, Ludwigshafen und Karlsruhe inklusive Frankfurt am Main. Dies hing auch seinerzeit schon mit der Öffnung nach Mittel- und Osteuropa zusammen – Richtung Breslau, Posen, Stettin und Warschau, die sich heute als schnell wachsende polnische Wirtschaftszentren wieder voll in die großräumige Arbeitsteilung Europas einfügen.

Starke Hochschullandschaft

Neben Geografie und Infrastruktur treten in Mittel- und Ostdeutschland neue Ballungen von Wissenschaft und Forschung. Allein an der Ost-West-Achse der A2 Richtung Polen finden sich acht Universitäten. Davon liegen drei große, darunter eine technische, in Berlin – umgeben von einer kräftig wachsenden Start-up-Kultur, der dynamischsten in Deutschland, die Gründer aus aller Welt anzieht, allen voran aus Israel. Hinzu kommen Universitäten in Frankfurt an der Oder und Potsdam sowie in Cottbus, Magdeburg und Braunschweig, drei von den fünfen mit technischer Ausrichtung.

In südlicher Richtung finden sich – nicht allzu weit entfernt – die sächsischen Universitäten Dresden, Leipzig, Chemnitz und Freiberg sowie Halle an der Saale, Jena und Erfurt, im Norden etwas abgelegener Greifswald und Rostock. Hinzu kommt eine große Zahl von Fachhochschulen, die sich auch über die kleineren Städte Mittel- und Ostdeutschlands gut verteilen. Mehr geht eigentlich nicht. Es ist eine beispielhaft starke öffentliche Landschaft der Wissenschaft und Forschung, die innovationskräftige Zentren entstehen lässt, vor allem in den technischen Disziplinen, die für attraktive Standortbedingungen von besonderer Bedeutung sind.

Potenzial an Arbeitskräften

Wichtig für Investoren ist – allem voran – der regionale Arbeitsmarkt. Denn es gilt, die entstehenden offenen Stellen schnell und qualifiziert zu besetzen, und dies trotz der überall in Deutschland drastisch zunehmenden und bedrohlichen Knappheit an Arbeitskräften. Viele unabhängige Beobachter waren gerade in dieser Hinsicht besonders skeptisch. Ihr Blick auf die Lage fiel dabei auf die langen Phasen der Abwanderung vieler junger Menschen, die in den 1990er- und 2000er-Jahren wegen besserer beruflicher Perspektiven ihre Zukunft im Westen suchten. Die jährliche Wanderungsbilanz des Ostens als Ganzem war bis zu Beginn der letzten Dekade stets negativ. Mittel- und Ostdeutschland schienen weiterhin auszubluten, wenn auch viel langsamer als unmittelbar nach dem Mauerfall 1989. Allerdings ist dieses pessimistische Bild längst überholt. Die Wanderungsbilanz fällt seit rund einem Jahrzehnt ausgeglichen und sogar leicht positiv aus. Alle größeren Städte des Ostens wachsen wieder, zum Teil sogar kräftig – bei schrumpfender Bevölkerung entlegener ländlicher Regionen, was indes im Westen nicht anders ist.

Entscheidend sind drei zusätzliche Elemente der Elastizität des Arbeitsmarkts, die es im Westen in dieser ausgeprägten Form nicht gibt. Da ist zum einen die Attraktivität der akademischen Ausbildungsstätten, die viele junge Menschen aus dem Westen anzieht. Einmal in der Region, gibt es einen Klebeeffekt: Hochschulabsolventen bleiben, wenn neue Arbeitsplätze entstehen, so wie bei Tesla und Intel. Dies verhindert, dass für das Studium Zugewanderte nicht gleich nach ihrem Abschluss wieder in die Ballungszentren des Westens abtauchen. Der großzügige Aufbau der öffentlichen Wissenschaftslandschaft hat sich also auch in dieser Hinsicht bewährt und gelohnt. Er bremst das Durchschlagen der demografischen Schrumpfung auf den Arbeitsmarkt und verbessert maßgeblich die Fähigkeit der Region, im Standortwettbewerb mitzuhalten und selbst mit Vorteilen aufzuwarten.

Newcomer und Heimkehrer

Zum Zweiten gibt es in Mittel- und Ostdeutschland in der breiteren Arbeitnehmerschaft noch viele Menschen, die zwar eine Beschäftigung in der privaten Wirtschaft haben, aber mit ihrer dortigen Karriereperspektive noch keineswegs zufrieden sind. Sie sind in Tätigkeiten „zwischengeparkt“, die sie bei schlechter Arbeitsmarktlage nolens volens angenommen haben, stehen aber jederzeit bereit, den Job zu wechseln – in verantwortungsvollere und besser bezahlte Positionen. Vom Callcenter in die Digital Economy – so könnte man dieses Phänomen schlagworthaft beschreiben. Es ist typisch für Regionen im Nachgang einer langen Durststrecke des harten industriellen Strukturwandels und hoher Arbeitslosigkeit.

Schließlich gibt es eine besonders erfreuliche Entwicklung: die West-Ost-Rückwanderung. Viele junge Menschen der Region suchten in den 1990er- und 2000er-Jahren nach Ausbildung und Studium in Mittel- und Ostdeutschland eine gute berufliche Perspektive im Westen. Es ging einfach nicht anders. Und sie gründeten dort dann auch ihre Familien. Zwei Jahrzehnte später beginnen manche von ihnen – beruflich arriviert und menschlich gereift – darüber nachzudenken, ob in der alten Heimat ein attraktiver Platz zur Fortsetzung der eigenen Laufbahn zu finden ist, so vielleicht auch bei Tesla in Grünheide oder Intel in Magdeburg. Sie könnten die Speerspitze einer neuen Generation von Leistungs- und Verantwortungsträgern im Osten werden, geschäftlich und vielleicht auch politisch.

Leider wissen wir über dieses Phänomen statistisch noch so gut wie nichts. Aber die anekdotische Evidenz liegt längst vor. Genauer: Sie ist zu hören – in Gesprächen mit Unternehmern, Personalmanagern und jenen Arbeitnehmern, die selbst in den Osten zurückgekehrt sind. So erweist sich denn das Angebot an Arbeitskräften allemal als viel elastischer, als der dumpfe Blick auf die Wanderungsstatistik der Vergangenheit vermuten lässt.

Rolle der Politik

Bleibt als drittes Element der wirtschaftlichen Revitalisierung die Politik. Keine Frage: Die Fördermittel, die für Großinvestitionen fließen, sind gewaltig – und natürlich nur zu rechtfertigen, wenn die Ansiedlungen langfristig halten, was sie versprechen. Es geht dabei nicht nur um einige Tausend Arbeitsplätze, die durch das Errichten eines neuen Werkes entstehen, sondern auch um die tiefgreifenden sekundären Wirkungen, die vor- und nachgelagerte Produktionsbereiche erfassen, bis hin zum lokalen Handwerk. Diese sind in vormals strukturschwachen Regionen viel stärker als in den traditionellen Ballungszentren des Westens. Und sie sind in Mittel- und Ostdeutschland womöglich stärker als an Standorten in weiter entfernten Entwicklungs- und Schwellenländern, wo es an qualitätsorientierten Zulieferbetrieben chronisch mangelt. Tatsächlich haben viele multinationale Konzerne die Erfahrung gemacht, dass es doch nicht so leicht ist, an weit entfernten, exotischen Standorten die gewohnten Qualitätsstandards aufrechtzuerhalten. Ergebnis: ein Trend vom „Offshoring“ zum „Reshoring“, also zur Rückkehr in kulturell vertraute Gefilde.

Hinzu kommen zunehmende politische Unsicherheiten, wie der russische Überfall auf die Ukraine in exemplarischer und dramatischer Weise gezeigt hat. Von all dem profitieren Standorte, die ein hohes Maß an Stabilität garantieren – und dazu zählen nun mal Mittel- und Ostdeutschland. Gleichzeitig bleibt die Region, was Lohnkosten und Lebenshaltung betrifft, noch immer relativ preiswert. Produktion und Konsum sind zwar teurer als an konkurrierenden Standorten im Osten Europas, aber deutlich günstiger als in Ballungszentren des westlichen In- und Auslands. Dies wird sich erst dann ändern, wenn sich die Knappheit an Arbeitskräften im Osten der des Westens annähert und die Innovationskraft der Unternehmen den westdeutschen Durchschnitt in etwa erreicht, gerade auch durch massive Hightech-Investitionen wie von Tesla und Intel. Dies dauert aber noch einige Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte.

Schritt für Schritt behält Kohl Recht

Klar ist: Zum Erfolg braucht es einen klaren regional- und wirtschaftspolitischen Kurs – für mehr Wachstum im weiterhin harten globalen Standortwettbewerb. Da sind besonders die mittel- und ostdeutschen Landesregierungen gefragt. Bei den fünf Flächenländern kann man mit dem bisherigen Bemühen mehr oder weniger zufrieden sein. Anders sieht es beim Berliner Senat aus. Er trägt die besondere Verantwortung für den größten wirtschaftlichen Motor des Ostens, wird aber dieser Rolle seit Jahren in keiner Weise gerecht. Notorisch wendet er sich gegen Verbesserungen der Infrastruktur und eine marktgerechte Forcierung des Wohnungsbaus, beides wesentliche Elemente einer offensiven Strategie des Wachstums, die offenbar völlig fehlt. Dies muss sich ändern.

Alles in allem aber gilt: Wir sind im Osten auf einem guten Weg, vielleicht auf einem besseren als jemals zuvor seit der deutschen Einheit. Helmut Kohls Bild der „blühenden Landschaften“ hat inmitten des harten Strukturwandels der Vergangenheit viel bitteren Spott provoziert. Es könnte sein, dass die nächste Generation viel milder darüber urteilen wird als ihre Eltern und Großeltern.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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