Offener Brief an Fridays for Future - Klimaschutz klappt nur mit Kernkraft

Wie kann man als Bewegung, die das 1,5-Grad-Ziel einfordert und generationenübergreifende Klimagerechtigkeit anmahnt, den Atomausstieg und seine gravierenden Folgen für den Klimaschutz ignorieren? Ein offener Brief an Fridays for Future.

Das Kernkraftwerk Philippsburg wurde Ende 2019 stillgelegt, kurz darauf gesprengt / dpa
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Autoreninfo

Prof. Dr.-Ing. Alfred Voß leitete das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung der Universität Stuttgart. Er war Mitglied der Enquete-Kommissionen „Schutz der Erdatmosphäre“ und „Nachhaltige Energieversorgung“ des Deutschen Bundestags.

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Seit drei Jahren streikt und demonstriert Fridays for Future (FFF) für eine Wahrnehmung der Klimakrise als eine existenzielle Bedrohung der Menschheit und fordert eine wirkungsvolle Politik ein, die der Einhaltung der Ziele des Pariser Abkommens und der 1,5-Grad-Grenze gerecht wird.

Der klimapolitische Kurs in Deutschland wird zu Recht als nicht vereinbar mit den Zielen des Pariser Abkommens kritisiert. Gefordert werden sofortige Handlungsinitiativen, die die Treibhausgasemissionen „so schnell wie möglich stark“ reduzieren.

In diesem Kontext fordert FFF unter anderem einen schnelleren Kohleausstieg (bis 2030), 100 Prozent erneuerbare Energien (bis 2035) und eine CO2-Steuer von 180 Euro pro Tonne. Leider schweigt FFF bisher zum Atomausstieg und seinen für den Klimaschutz in Deutschland gravierenden kontraproduktiven Konsequenzen.

Ein mehr als problematisches Versäumnis

Da der Atomausstieg einer schnellen und deutlichen Reduktion der Treibhausgase in dieser Dekade entgegenwirkt und damit die Einhaltung eines mit dem 1,5-Grad-Ziels kompatiblen CO2-Budgets außer Reichweite bringt, die Reduktionslasten erhöht und weiter in die Zukunft verschiebt, ist dies ein mehr als problematisches Versäumnis.

Es ist darüber hinaus wohl auch nicht mit der eigenen Forderung „nach absoluter Transparenz und faktenbasierten Aufklärung für alle Bürger*innen“ über alle klimarelevanten Maßnahmen vereinbar.

Hier zunächst die Fakten zu wesentlichen klimarelevanten Effekten und Wirkungen des Atomausstiegs in Deutschland.

 

1. Der Atomausstieg hat eine deutlich weitergehende Reduktion der Treibhausgasemissionen verhindert

Im Rahmen des deutschen Atomausstiegs sind mit der Abschaltung von 8,8 Gigawatt elektrischer Leistung im Jahr 2011 bis zum Jahr 2020 insgesamt 13 Gigawatt Kernkraftwerksleistung vorzeitig stillgelegt worden. Dies entspricht einem entgangenen Stromerzeugungspotenzial im Jahr 2020 von rund 94 Terawattstunden. Und die durch den Atomausstieg seit 2011 insgesamt entgangene CO2-arme Stromerzeugung aus Kernenergie beläuft sich auf rund 650 Terawattstunden.

Die Stromerzeugung aus Wind und Photovoltaik stieg in diesem Zeitraum von 69,3 auf 185,5 Terawattstunden im Jahr 2020. Dieser Zuwachs der Erzeugung aus Wind und Photovoltaik konnte die kumulierte entgangene Stromerzeugung aus Kernenergie nur zu etwa 80 Prozent kompensieren.

Im Jahr 2020 standen der Mehrerzeugung aus Wind und Photovoltaik in Höhe von 116,2 Terawattstunden eine durch den Kernenergieausstieg entgangene Stromerzeugung von 94 Terawattstunden gegenüber. Für die Treibhausgasemissionen ergibt sich aus diesen Zahlen also allenfalls ein Nullsummeneffekt der Substitution einer CO2-armen Stromerzeugung durch eine andere.

Ein positiver Klimaeffekt war also mit dem Ausbau von Wind und Photovoltaik seit 2011 nicht verbunden. Ein Weiterbetrieb der 2011 vorhandenen Kernkraftwerke hätte die CO2-Emissionen im Jahr 2020 um rund 72 Millionen Tonnen senken können und das deutsche CO2-Budget wäre mit rund 500 Millionen Tonnen CO2 weniger belastet worden.

 

2. Der Atomausstieg verhindert eine schnelle Reduktion der Treibhausgasemissionen in dieser Dekade

Ein mit dem 1,5-Grad-Ziel kompatibler Reduktionspfad ist nicht erreichbar. Die sechs derzeit noch betriebenen Kernkraftwerke sollen bis Ende 2022 abgeschaltet werden (drei Anlagen Ende 2021, drei Anlagen Ende 2022). Damit entfällt dann eine CO2-arme Stromerzeugung in Höhe von 65 Terawattstunden (11,5 Prozent der Gesamterzeugung in 2020).

Um diese Strommenge klimaneutral zu ersetzen, wäre ein Zubau des 1,2- fachen der derzeitigen Photovoltaik-Anlagenleistung oder von rund 65 Prozent der Onshore-Windkapazität erforderlich. Ein Zubau von Wind und Photovoltaik zur Kompensation der Stromerzeugung aus den derzeit noch betriebenen Kernkraftwerken würde aber einige Jahre erfordern, mit zunächst wohl höheren CO2-Emissionen bis zum Ende der Kompensationszeit.

Ein Treibhausgasreduktionspfad, der kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel ist, lässt sich mit dem Atomausstieg praktisch nicht erreichen. Die Verlängerung der Laufzeit der derzeit noch betriebenen Kernkraftwerke würde eine Reduktion von rund 45 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr ermöglichen. Dies wäre eine Reduktion, die den jährlichen CO2-Emissionen aller Diesel-Pkw in Deutschland oder den gesamten Emissionen der Eisen- und Stahlindustrie entspricht.

 

3. Die Einhaltung Paris-kompatibler CO2-Budgets ist beim Atomausstieg praktisch außer Reichweite

Der Atomausstieg verhindert eine deutlich schnellere und weitergehende Reduktion der CO2-Emissionen in den kommenden Jahren und trägt damit zu einer schnelleren Ausschöpfung unseres CO2-Budgets bei. Diese Belastungen des CO2-Budgets lassen sich anhand der durch eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke vermeidbaren CO2-Emissionen quantifizieren.

So würde eine Laufzeitverlängerung um zwölf Jahre zur Vermeidung von rund 540 Millionen Tonnen CO2 im Zeitraum bis 2035 führen. Dies entspricht 13 Prozent des 1,5-Grad-Emissionsbudgets von 4.200 Millionen Tonnen CO2. Bei Nichtnutzung dieses CO2-Reduktionspotenzials ist die Einhaltung des CO2-Budgets praktisch außer Reichweite.

Selbst die in der Wuppertal-Studie skizzierte Transformation zu einem CO2-neutralen Energiesystem im Jahr 2035 würde, unabhängig von ihrer Machbarkeit, die Einhaltung des 1,5-Grad-Budgets nicht ermöglichen.

 

Höhere Stromkosten kommen hinzu

Neben diesen für die Senkung und Begrenzung der Treibhausgasemissionen in Deutschland kontraproduktiven Wirkungen sind mit dem Atomausstieg auch noch höhere Kostenbelastungen für die Bürger und die Wirtschaft verbunden. Bei einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke ließen sich nicht nur jährlich 45 Millionen Tonnen CO2 vermeiden, sondern auch die Kosten der Elektrizitätsversorgung würden um zwei bis drei Milliarden Euro pro Jahr geringer ausfallen.

Darüber hinaus würde mit der Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke eine gesicherte, regelbare Leistung von 8,5 Gigawatt zur Verfügung stehen, was einen wesentlichen Beitrag für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit bedeutet.

Kann man als Bewegung, die wirksame Anstrengungen zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad einfordert und generationenübergreifende Klimagerechtigkeit anmahnt, den Atomausstieg und seine gravierenden Folgen für den Klimaschutz in Deutschland unter dem Deckmantel des Schweigens verstecken, ohne damit sein eigentliches Anliegen und seine Glaubwürdigkeit zu gefährden?

Laufzeitverlängerung als Sofortmaßnahme

Wenn es dann noch so ist, dass eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke die einzige Klimaschutz-Sofortmaßnahme ist, die die CO2-Emissionen schnell, wirksam und deutlich reduziert und die Kostenbelastungen des Klimaschutzes minimiert, dann ist die Laufzeitverlängerung doch eine zielkonforme Maßnahme, die in den Forderungskatalog von Fridays for Future aufzunehmen ist.

Der Slogan „Science not Silence“, der bei Demonstrationen von FFF-Aktivisten zu sehen war, müsste doch auch für das Thema Kernenergieausstieg gelten.

In diesem Kontext sei dann auch noch an das Zitat von Molière erinnert, das den Forderungen zum Klimaschutz von Fridays for Future vorangestellt ist: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“

Beschlossene Abschaltung der Atomkraftwerke in Deutschland / Grafik: Bundesministerium für Umwelt

 

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