Deindustrialisierung in Deutschland - „Die Abwärtsspirale beschleunigt sich“

Die Stimmung unter deutschen Unternehmern ist so schlecht wie lange nicht. Ex- Topmanager Franz Herrlein warnt vor einer schleichenden Abwanderung. Er fordert: Deutschlands Wirtschaftselite muss die wohlstandszerstörende Politik der Bundesregierung viel deutlicher kritisieren.

Industrieruinen auf dem Gelände des ehemaligen Schwermaschinenbaukombinats Ernst Thälmann in Magdeburg / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Franz Herrlein ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Alpine One. Davor war er in den Vorständen großer Banken tätig.

Herr Herrlein, die Ergebnisse der jüngsten „Elite-Panel“-Umfrage sind erschreckend: Die Mehrheit der deutschen Topmanager glaubt, dass es mit dem Land wirtschaftlich bergab geht und geben der Bundesregierung daran eine Mitschuld. Ist es das, was Sie aus diesen Kreisen auch hören?

Absolut. Wenn ich mit Familienunternehmern spreche oder mit Industrie- und Bankvorständen, die ich persönlich betreue, dann ist das eine Sorge, die alle umtreibt. Ob das jetzt ausschließlich an dieser Regierung liegt oder an einer anderen zuvor, lassen wir mal außen vor. Aber wir haben gerade eine Komplexität von Anforderungen und gleichzeitig eine Lösungsarmut.

Wenn Sie ein Land schleichend deindustrialisieren – hohe Energiekosten treiben Unternehmen nach außen, hohe Steuersätze sind ohnehin nicht unbedingt förderlich – und gleichzeitig ein demographisches Problem haben, das nicht gelöst ist ... Wir haben eine Infrastruktur, die am Zerfallen ist, wir haben eine Digitalisierung, die nicht funktioniert. Versuchen Sie mal, in der Münchner Innenstadt ins Internet zu gehen, so wie wir es als Firma machen müssen. Wenn in den ganzen Kneipen darum herum zu viele Leute sind und dort ins Internet gehen, können Sie maximal zu zweit eine Videokonferenz machen, sonst bricht es zusammen. Wenn Sie alle diese Punkte aufsummieren, und das sind ja nur einige Beispiele, wird einem eigentlich Angst und Bange.

In dieser Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Allensbach für FAZ und Capital erhebt, sieht man auch, dass die Zustimmung zu Wirtschaftsminister Robert Habeck rapide gefallen ist, aber am Anfang seiner Amtszeit außerordentlich hoch war. Waren die Spitzenmanager zunächst naiv?

Ob sie naiv waren, sei mal dahingestellt. Wir kamen aus einer CDU/CSU-SPD-Regierung, aus einer Zeit, in der man gemerkt hat: Deutschland hat einen Erneuerungsbedarf. Die Ampelkoalition ist als sogenannte Fortschrittskoalition angetreten und hat am Anfang den Anschein erweckt, man gehe anders miteinander um, man habe eine andere Form der Kommunikation untereinander, auch im öffentlichen Auftritt. Bei allen Sorgen, die man über SPD oder Grüne haben kann, wenn es um Wirtschaftsfragen geht, war damit sicherlich auch eine Hoffnung verbunden. Weil man wusste, es muss etwas passieren. Nur es ist halt leider nichts passiert. 
   
Mit naiv meinte ich, dass sie Herrn Habecks Erzählungen vom grünen Wirtschaftswunder geglaubt haben.

Ich persönlich war da grundsätzlich skeptisch. Aber nicht, weil ich schlauer bin, sondern weil ich vielleicht ein bisschen reservierter diesen Themen gegenüber bin. Wenn Sie Kraftwerke einfach abschalten, dann funktioniert das nicht. Jetzt beziehen wir den Atomstrom eben aus dem Ausland. Das mit dem grünen Wirtschaftswunder jetzt weiterzuerzählen, kann man machen, aber es wird halt nicht funktionieren. Denn die damit verbundenen Investitionen sind am Ende ja nur Ersatzinvestitionen.

Die Stimmung ist auch unter Normalbürgern schlecht. Das zeigen Wahlumfragen. Selbst im wohlhabenden Baden-Württemberg liegt die AfD bei 19 Prozent. Müssen die Wirtschaftsvertreter nicht viel deutlicher und selbstbewusster der Politik widersprechen?

Definitiv. Ich glaube, wir sind viel zu korrekt in unserem Verhalten. Man darf eines nicht vergessen: Politiker werden von der Bevölkerung gewählt. Das ist der Souverän. Und die Wirtschaft ist es, die gemeinsam mit den Arbeitnehmern, also der Bevölkerung, dafür sorgt, dass in die Kassen eingezahlt wird. Politiker geben Geld aus, das ihnen nicht gehört. Daran sollten sie immer denken. Deswegen muss man Themen ganz klar und unmissverständlich adressieren und die Politik an ihre Aufgaben erinnern dürfen, ohne immer überkorrekt sein zu wollen.

Franz Herrlein / Melissa Bungartz


Deutschland geht derzeit einfach zu viele Wetten gleichzeitig ein. Wir haben die Wette, dass der Green Deal aufgeht. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist ökologisch wichtig. Aber es ist eine Wette. Nämlich, dass wir es schaffen, die Wirtschaft auf der Energieseite zu transformieren. Die zweite Wette ist das Rentensystem. Stabile Rentensysteme, wenn gleichzeitig die Zahl der Rentner steigt und die Zahl der Beitragszahler nicht parallel dazu nach oben geht, verbunden mit etwaigen Ambitionen, Arbeitszeiten zu reduzieren, das geht mathematisch eigentlich nicht auf. Das kann nicht funktionieren. Und das sind ja nur zwei Beispiele.

Wir unterliegen im Zweifelsfall einer Wohlstandsillusion. Wenn wir deindustrialisieren, werden Arbeitskräfte freigesetzt. Aber da wir offene Stellen haben, werden die im besten aller Fälle aufgefangen. Das heißt, wir haben weiterhin eine relativ hohe Beschäftigung, senken aber den volkswirtschaftlichen Standard. Es geht einfach nach unten.

Ist das die Gefahr, dass wir in eine Wirtschaftskrise hineinschlittern, die der Einzelne im Alltag aber noch gar nicht so bemerkt, weil wir keine hohe Arbeitslosigkeit haben?

Die Leute merken es natürlich schon, wenn sie auf ihr Konto gucken. Da gibt es weite Teile der Bevölkerung, die massiv widersprechen würden, weil sie sehen, dass weniger Kaufkraft vorhanden ist. Politiker werben oft damit, dass ein hohes Maß an Beschäftigung da ist. Die Beschäftigungszahlen spiegeln vielleicht noch nicht die Dramatik wider. Aber es gibt immer mehr Berichte, dass sich beispielsweise ein immer größerer Teil der Bevölkerung keinen Urlaub mehr leisten kann. Daran merken Sie, dass der Wohlstand schrittweise abgesenkt wird.

Wir haben eine Inflation, die nicht komplett durch Gehaltssteigerungen aufgefangen werden kann. Wenn Sie ein Topgehalt haben, merken Sie das nicht. Wenn Sie 10.000 Euro im Monat zur Verfügung haben, dann ist es nicht ganz so relevant, ob es jetzt nur noch 9500 sind. Aber wenn Sie 1500 Euro haben und dann plötzlich nur noch 1400, dann merken Sie das, weil Sie mit den 1500 schon kaum klarkommen. Und genau das ist neben einer wachsenden Unzufriedenheit mit der derzeitigen Regierungsarbeit auch einer der Gründe, weshalb wir einen Anstieg der AfD haben.

Die Inflation, die man beim Einkaufen im Supermarkt bemerkt, in der Gastronomie und bei den Energiekosten?

Ja, unter anderem. Politiker sollen eigentlich Menschen Stabilität und Sicherheit für die Zukunft geben. Was sie momentan erfahren, ist aber Unsicherheit. Nehmen wir die Heizkosten. Eigentlich weiß keiner genau, wie es weitergeht, was verabschiedet oder vielleicht noch geändert wird. Viele Dinge sind einfach mit so vielen Fragezeichen verbunden, weil über vollkommen unausgegorenes Zeug gesprochen wird. Wenn Sie erst irgendetwas vorschlagen, dann feststellen, dass es überhaupt nicht durchdacht ist, und anschließend revidieren, erwecken Sie doch zwangsläufig den Eindruck, dass Sie gar nicht wissen, was Sie tun.

Wenn Sie ein Unternehmen so führen würden, würden Sie am Aktienmarkt komplett abgestraft werden. Insofern darf man sich auch nicht wundern, wenn die Menschen sagen: Wir wissen auch nicht, was besser ist. Wir wissen nur, dass das, was da ist, nicht ideal ist.

Sie reden jetzt von diesem Heizungsgesetz, das die Wärmepumpe mit der Brechstange durchsetzen sollte und bei dem immer noch nicht klar ist, auf was es hinausläuft.

Ja, denn das war am offensichtlichsten in den letzten Monaten. Aber genauso gut können wir das Rentenproblem nehmen. Wir wissen, was auf uns zukommt, und haben keine Antwort. Wenn Sie heute schon wissen, dass die Anzahl der Rentner steigt und die Anzahl der Beitragszahler nicht mitwächst, dann haben Sie eine Lücke. Das, was eingezahlt wird, reicht nicht, um die Rentner langfristig zu finanzieren. Also müssen Sie aus dem Staatshaushalt etwas entnehmen.

Der Staatshaushalt speist sich aber aus Steuern und Abgaben. Das bedeutet, Sie müssten die arbeitende Bevölkerung und die Unternehmen höher besteuern. Wir sind aber schon ein Hochsteuerland. Wenn Sie in einem Hochsteuerland auf die Idee kommen, noch mehr die Steuern zu erhöhen und noch mehr Regulatorik und Bürokratie einzuführen, dann killen Sie Ihre Wirtschaft. Die Leistungselite geht. Und das ist ein schleichender Prozess. Die stehen ja nicht morgen in Berlin vor der Tür und sagen: Wir gehen. Sondern die machen es sukzessive. Sie investieren einfach nicht mehr in Deutschland. Die lassen ihre Produktionsstätten erst mal weiterlaufen, aber alle neuen Investitionen und Gründungen gehen in andere Länder.

Bekommen Sie von den Unternehmern, die Sie beraten, diese Entwicklung mit, also dass es schon so ist?

Ich kenne unglaublich viele Unternehmen und Unternehmer, die darüber nachdenken, Standorte zu verlagern oder Standorte im Ausland weiter auszubauen. Das ist ganz normal. Dazu ist jeder Unternehmer, wenn er sich um den Schutz seines eigenen Unternehmen kümmert, im Grunde genommen verpflichtet.

Ist das die energieintensive Industrie? Oder welche Branchen sind das?

Es sind alle Branchen. Auch im Dienstleistungssektor habe ich immer wieder Kunden, die eine Stelle in München oder in Düsseldorf nicht mehr besetzen, dafür aber in anderen Ländern. Das geht mit Remote-Arbeit heute im selben Team. Das sind keine großen Standortverlagerungen, sondern es geht schleichend. Auch in meinem eigenen Unternehmen überlege ich immer wieder, ob ich in anderen Ländern Standorte aufbauen soll, weil ich dort mit weniger Regulatorik und Bürokratie topqualifizierte Leute finde.

Haben Sie den Eindruck, dass die Warnungen aus der Wirtschaft die Politik überhaupt noch erreichen? Oder dringen die da gar nicht mehr durch?

Ich habe Zweifel. Intellektuell verstehen viele Politiker das mit Sicherheit. Aber ein Politiker will alle vier Jahre wiedergewählt werden. Und wenn Sie alle vier Jahre wiedergewählt werden wollen, versuchen sie, Dinge zu machen, die nach Möglichkeit ihre Wählerschaft nicht negativ tangieren. Aber die Frage ist: Traut man sich wirklich, die Schnitte vorzunehmen und die radikalen Veränderungen? Oder erhöhen wir halt immer weiter die Steuern oder alternativ die Staatsverschuldung? Alternativ könnte man natürlich einfach auch Verschwendung von Steuergeldern abbauen, Bürokratie reduzieren, Unternehmer einfach machen lassen. Ich habe die Sorge, dass wir Unternehmen, aber auch weite Teile der Bevölkerung, die zu den sogenannten Gutverdienern oder Besserverdienern gehören, gnadenlos überfordern. Und der Rest der Bevölkerung kann sowieso immer schlechter mithalten.

Innerhalb der Bundesregierung scheint die FDP die einzige Partei zu sein, die diese Idee vertritt. Also dass man der Wirtschaft und den Bürgern finanziellen Spielraum lassen muss. Sie kämpft aber zuweilen auf verlorenem Posten. Was wäre Ihr Rat an die FDP? Sollte sie die Koalition verlassen?

Das ist ein schwieriges Thema. Ich finde es gut, dass die FDP in den letzten Monaten mehr Profil gefunden hat – das war ja zeitweilig abhandengekommen – und im Sinne eines positiven Mahners agiert. Die spannende Frage ist aber, was die Alternativen wären und ob wir die Zuversicht hätten, dass eine wahrscheinlich CDU/CSU-geführte Regierung wirklich in der Lage wäre, drängende Probleme anzugehen. Manchmal kann einer Partei die Opposition ja ganz gut tun. Und manchmal ist eine Neuwahl auf den ersten Blick zwar naheliegend, hilft aber gar nichts.

Ich würde mir eher wünschen, dass sich die jetzige Regierung zusammenrottet, mal geschlossen auftritt, nicht dauernd dieses kindische Gestreite. Und dass die es schaffen, die Themen anzugehen. Das wäre die bessere Variante zu: Wir gehen jetzt in den Wahlkampf und haben dann irgendwann Ende des Jahres eine Regierung. Die muss sich dann wieder neu sortieren. Und dann haben wir wieder ein Jahr verloren.

Nur ist die Frage, wie viel Zeit Deutschland noch bleibt, wenn man die Alarmsignale ernst nimmt. So lange zu warten, bis das Land wirklich heruntergewirtschaftet ist, und es erst dann zu einem Politikwechsel kommt, das kann auch gefährlich sein.

Mit Sicherheit gefährlich. Aber die Entwicklung war schon zu Zeiten Merkels so. Die wird jetzt vielleicht noch stärker wahrgenommen, weil manche Dinge einfach eindeutig werden und die Ukraine-/Energiekrise einiges beschleunigt hat. Aber letztendlich ist das Thema überhaupt nicht neu. Unsere Bürokratie ist nie weniger geworden, die Belastung für Unternehmen auch nicht. Die Demografie ist nichts Neues. Das hat man vor 30 Jahren aufgrund der Bevölkerungspyramide ausrechnen können.

Insofern ist Deutschland schon länger im Abwärtstrend. Und wir haben auch ehrlich gesagt nicht mehr viel Zeit. Ich glaube, wenn es diese Regierung nicht auf die Reihe kriegt, muss die nächste umso radikaler werden, bei den Maßnahmen, die sie umsetzt. Und irgendwann haben wir sonst eben den Standort runtergewirtschaftet, und dann dauert es ganz schön lange, bis wir ihn wieder aufgebaut haben. Also insofern ja, ich würde Ihnen recht geben bei der These. Die Zeit läuft langsam ab, und die Abwärtsspirale beschleunigt sich.

Das Gespräch führte Daniel Gräber. 
 

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