Impfstoff-Debakel in der EU - Zwischen Dilettantismus und Dirigismus

Das Impfstoff-Debakel weitet sich aus. Jetzt hat auch der Konzern Astra Zeneca seine Lieferungen an die EU reduziert. In Brüssel fühlt man sich übers Ohr gehauen. Aber hat die EU das Debakel mit einer verschleppten Zulassung nicht selbst provoziert?

Will alles richtig gemacht haben: EU--Kommissarin Ursula von der Leyen / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Selten hat man EU-Politiker in Brüssel so wütend gesehen wie am Montagabend. „Das ist nicht akzeptabel", schimpfte Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nach zwei Krisensitzungen mit den 27 EU-Staaten und Vertretern des Pharmakonzerns AstraZeneca. „Das Vertrauen ist ernsthaft erschüttert“, empörte sich ein EU-Diplomat. Selten habe eine Firma so schlecht kooperiert. „Das stinkt zum Himmel“, ärgerte sich der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese.

Noch ungewöhnlicher ist die Vergeltung, die die EU ankündigte. Künftig sollen alle Exporte von Corona-Impfstoffen aus der Union erfasst und genehmigt werden. „Die EU will wissen, wo genau welche Dosen bisher von Astrazeneca produziert wurden und an wen sie geliefert wurden“, sagte Kyriakides. „Nur so können wir nachvollziehen, ob unsere EU-Verträge mit den Herstellern fair bedient werden“, erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Die Nerven liegen blank. Schuld ist auf den ersten Blick vor allem der britisch-schwedische Konzern Astra-Zeneca. Die Firma hatte am Freitag überraschend erklärt, dass sie Probleme in der europäischen Lieferkette habe – und deshalb die Lieferung in die EU kurzfristig reduzieren müsse. Statt 80 Millionen Impfstoffdosen sollen es bis Ende März nur noch 31 Millionen sein. Dabei läuft die Versorgung mit Vakzinen in Großbritannien reibungslos.

Gilt künftig „EU first?“

Dies weckt in Brüssel einen bösen Verdacht. Die Firma habe die EU übers Ohr gehauen und ihre Produktion an andere Abnehmer verkauft, heißt es in der EU-Kommission. Um das künftig zu verhindern, soll nun ein Exportregister mit strikten Kontrollen her. Manche sprechen sogar schon von Exportverboten –  fast wie 2020, als Deutschland mitten in der ersten Welle der Coronakrise den Export von Schutzkleidung und anderen Hilfsgütern untersagt hatte.

Wiederholt sich also die Geschichte von Protektionismus und Dirigismus, nur diesmal im europäischen Gewand? Will die EU tatsächlich die gesamte Produktion von AstraZeneca überwachen und lenken? Sind die Europäer bereit, im Ernstfall die Lieferung von AstraZeneca-Präparaten nach Großbritannien zu unterbinden, um Vertragstreue zu erzwingen? Gilt künftig „EU first“? All das ist schwer zu sagen.

Auch in Brüssel wurden Fehler gemacht 

Bisher redet die EU-Kommission nur von von einem „Transparenzmechanismus“, bis zu robusten Kontrollen dürften noch Tage oder gar Wochen vergehen. Derzeit ist es nur eine Drohkulisse, um AstraZeneca auf Linie zu bringen und die Lieferung der dringend benötigten Impfstoffe zu erzwingen. Die EU-Kommission zeigt ihre Folterwerkzeuge, um sich selbst einen Offenbarungseid zu ersparen. Denn auch in Brüssel wurden Fehler gemacht, sogar reihenweise.

Das fängt schon damit an, dass der Impfstoff von Astra-Zeneca in der EU noch nicht zugelassen ist. Während die Briten die Genehmigung im Eiltempo durchzogen, haben die Europäer gezögert und immer neue Garantien gefordert. Erst am Freitag will die Europäische Arzneimittelagentur die Zulassung nachholen. Man streitet also um Präparate, die noch gar nicht auf den Markt gebracht werden dürfen – eine absurde Situation, für die AstraZeneca wenig kann.

Warum hat die EU die Zulassung hinausgezögert?  

Die EU-Kommission begründet dies damit, dass es eine klare Abmachung gegeben habe: Der Konzern sollte schon vor der Zulassung große Mengen des Impfstoffs produzieren und für die EU vorhalten. In Kommissionskreisen hieß es, der Vertrag sehe eine Vorproduktion nicht nur für das laufende Quartal vor, sondern bereits ab dem vierten Quartal 2020. Doch wenn das stimmt – warum hat die EU dann die Zulassung so lange hinausgezögert?

Gibt es doch noch Bedenken gegen den Impfstoff, der nach unbestätigten Berichten weit weniger effizient ist als das Konkurrenzprodukt von Biontech/Pfizer? Das Mittel zeige bei über-65-jährigen eine Effektivität von nur acht Prozent, meldete das Handelsblatt unter Berufung auf Berliner Kabinettskreise. Die Bundesregierung hat das zwar dementiert – aber der Verdacht steht im Raum, dass AstraZeneca erhebliche Mängel aufweist.

Die EU-Kommission droht an ihrem Versprechen zu scheitern 

Dennoch klammert sich die EU an das umstrittene Präparat wie Ertrinkende an einen Strohhalm. Dies liegt vor allem daran, dass die groß angekündigte Impfkampagne in der EU längst nicht so gut läuft wie versprochen. Nicht nur AstraZeneca ist in Verzug. Auch von der deutschen Firma Biontech und ihrem US-Partner Pfizer kommt nicht genug Impfstoff in der EU an. Auch hier gibt es Lieferprobleme, auch deshalb liegen in Brüssel die Nerven blank.

Die EU-Kommission hat versprochen, Europa schnell und sicher mit Corona-Impfstoffen zu versorgen – und droht an diesem Versprechen zu scheitern. Normalerweise würde man nun die Verantwortlichen suchen und zur Rechenschaft ziehen. Doch in Brüssel ist dies kaum möglich. Die Verträge unterliegen strikter Geheimhaltung, nicht einmal die an der Verhandlung beteiligten Personen sind bekannt. Deshalb ist auch unklar, wer für was verantwortlich ist.

Warum wird Großbritannien zuerst beliefert? 

Dabei wäre es schon wichtig, zu klären, wie es sein kann, dass europäische Firmen zuallererst nicht-europäische Kunden bedienen. Wieso werden die USA, Großbritannien und Israel besser mit dem Impfstoff des deutschen Pharmalabors Biontech versorgt als Deutschland? Wieso beliefert der britisch-schwedische Konzern AstraZeneca zuerst Großbritannien, nicht aber Schweden und den Rest der EU? Das sind legitime Fragen, Antworten sucht man vergebens.

Die EU schwankt zwischen Dilettantismus und Dirigismus – und verstrickt sich immer tiefer in Widersprüche. Besonders deutlich wird dies bei Kommissionspräsidentin  Ursula von der Leyen. „Nun schlägt die Stunde Europas“, verkündete die CDU-Politikerin kurz vor Weihnachten, als der Biontech/Pfizer-Impfstoff endlich zugelassen wurde. Doch nun, da die EU ins Hintertreffen geraten ist und sich die Problem häufen, sucht sie die Schuldigen woanders.

Europa habe „Milliarden investiert, um die Entwicklung der weltweit ersten Covid-19-Impfstoffe zu unterstützen", sagte von der Leyen am Dienstag in ihrer per Video übertragenen Rede für das Weltwirtschaftsforum in Davos. „Und jetzt müssen die Firmen liefern, sie müssen ihre Verpflichtungen einhalten.“ Brüssel hat alles richtig gemacht, wie immer.

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