Jörg Asmussen über EU-Gipfel-Diplomatie - „Dann kauft man jemanden heraus“

Als Chefunterhändler der Bundesregierung erlebte der Ökonom Jörg Asmussen während der Staatsschuldenkrise viele EU-Krisengipfel. Im Interview mit „Cicero“ erzählt er, wie man andere Staaten auf die eigene Seite zieht und warum er nicht glaubt, dass EU-Bonds ein einmaliges Instrument bleiben.

Über das jeweilige Heimatland hinaus: Conte, Rutte, Merkel und von der Leyen
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Asmussen, auf dem Höhepunkt der  Staatsschuldenkrise waren Sie ab 2011 als Sherpa und damit Chefunterhändler viele EU-Krisengipfel miterlebt. Wie intensiv haben Sie die aktuellen Verhandlungen von Brüssel verfolgt?
Früher war das Teil meines Jobs, heute bin ich ein reiner Beobachter. Das ist ein bisschen wie beim Fußball. Ich stehe am Spielfeldrand und betrachte das alles mit großer Leidenschaft. Ich habe am Wochenende zum Teil mehr als stündlich nach dem aktuellen Stand der Entwicklungen geschaut.

Wie bereitet sich so ein Chef-Unterhändler denn auf solch einen Gipfel vor?
Er schläft vorher gut aus. Uwe Corsepius, der heutige EU-Sherpa der Kanzlerin ist ein sehr verschwiegener, aber auch ein sehr guter Mann. Die Arbeit zu so einem Gipfel fängt natürlich schon Wochen vorher an. Dokumente, Entwürfe zirkulieren. Man versucht, sich anzunähern, man führt bilaterale Gespräche, macht diplomatische Reisen, was man dieses Mal zum Beispiel beim italienischen Regierungschef Giuseppe Conte beobachten konnte. Sie sondieren, schließen Allianzen, positionieren sich in den Medien. Regierungen beschäftigen Medienagenturen, um die Öffentlichkeiten anderer Länder zu bespielen, insbesondere bezogen auf die deutsche Öffentlichkeit. Das Storytelling ist sehr wichtig. Sie konnten hierzulande sehen, dass es in den Medien fast ausschließlich um die Positionen der „Sparsamen Vier“ ging, weniger um die der südlichen Staaten. Das ist nicht unbedingt Zufall.

Und wenn sich alle öffentlich gefetzt haben, geht es los?
Im Grund ist der Gipfel nur die logische Fortsetzung der vorherigen Treffen und Telefonate. Die Sherpas und Staats- und Regierungschefs treffen sich mal in großen, mal in kleinen Runden, mal in Gruppen mit politischen Gegnern, mal mit Gleichgesinnten. Wichtig war dieses Mal auf jeden Fall: Der Gipfel musste endlich wieder physisch stattfinden. Das alles hätte man nicht per Videokonferenzen lösen können. Echte Konfliktlösung geht nur im direkten Gespräch. Dennoch, die Delegationen waren aufgrund der Corona-Abstandsbeschränkungen sehr viel kleiner als sonst. Nur die Regierungschefs und sechs weitere Unterhändler waren zugelassen.

Jörg Asmussen / GDV

Wie gewinnt man als Unterhändler Unterstützer für die eigene Position?
Es gibt immer eine sogenannte Toolbox mit ganz vielen Elementen. Diese können Sie kombinieren und einander verschiedene Kombinationen anbieten. Diese Möglichkeiten waren bei diesem Gipfel sehr vielfältig, weil es eben nicht um die Ausgestaltung des Wiederaufbaufonds ging, sondern um den EU-Haushalt der kommenden sieben Jahre. Am Ende muss bei einem erfolgreichen Gipfel für jeden etwas dabei sein. Ein mögliches Instrument ist: man kauft dann jemanden aus einer gegnerischen Koalition heraus, indem man ihm etwa mehr Rabatt gewährt oder eine Ausgabe erhöht, die ihm wichtig ist. Nicht ohne Grund war zu hören, dass etwa Dänemark und Schweden gegen Ende der Verhandlungen nicht mehr ganz auf niederländischer Linie waren.

Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis?
Das ist ein echter Durchbruch und ein Erfolg von Kanzlerin Merkel und Präsident Macron. Dass die EU-Kommission überwacht, dass die Finanzhilfen zielgerichtet eingesetzt werden, ist ebenfalls wichtig. Das ist ein Punkt, bei dem ich den sogenannten „Sparsamen Vier“ Recht gebe. Als alter Finanzer finde ich es völlig normal: Wenn dir jemand Geld gibt, darf er auch fragen: Hast du das auch wirklich gut und verabredungsgemäß in die Zukunft investiert. Das ist nie beliebt, aber so funktioniert Haushalts- und Finanzkontrolle. Das ist auch innerhalb eines Staates so.

Was wären denn solche sinnvollen Zukunftsprojekte?
Da gibt es vieles. Aber was wir in jedem Fall dringend vorantreiben sollten, ist der Ausbau eines europäischen Stromnetzes, eines europäischen Breitbandnetzes. Und was auch wirklich interessant wäre, eine paneuropäische Eisenbahn mit Schnelltrassen, um den innereuropäischen Flugverkehr zu ersetzen.

Wie relevant sind die Gipfel-Ergebnisse für Ihre jetzige Tätigkeit als Geschäftsführer des GDV?
Eine direkte Relevanz für uns als Versicherer ist die Frage nach einer Finanztransaktionssteuer oder einer Digitalsteuer. Auf der Kapitalanlageseite ist neu: Die EU wird nun mit ihren erstmaligen großen Anleihebegebungen ein wichtiger Spieler  am Kapitalmarkt. Das ist eine strategisch wichtige Frage für große Kapitalanleger wie Versicherungen. Die EU-Bonds werden schon im nächsten Jahr ungefähr das Volumen erreichen wie der spanische Anleihemarkt. Nur Deutschland, Frankreich und Italien sind vom Volumen her größer. Das ist ein positiver Durchbruch hin zur weiteren Integration in Europa, gerade wenn nach dem Brexit der Finanzplatz London eben nicht mehr Teil der EU sein wird.

Aber der Mechanismus soll zeitlich begrenzt und einmalig sein.
Richtig, in dem Beschluss steht „temporary“, was vorübergehend heißt. Ich glaube aber, dass sich das verstetigen wird. Die EU wird ein dauerhafter Spieler auf dem Kapitalmarkt werden mit der Möglichkeit, für den EU-Haushalt in einer Rezession am Kapitalmarkt Schulden zu machen und damit antizyklisch gegenzusteuern.

Finanzminister Olaf Scholz sprach von einem Hamilton-Moment, also der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sehen Sie das auch so?
Es ist ein Schritt dorthin, da es eine deutliche Stärkung der sogenannten fiskalischen Kapazitäten der EU ist. Aber es ist noch keine Fiskalunion. Es ist vielmehr das, was uns in der Eurozone immer gefehlt hat: Wir haben zwar eine gemeinsame Geldpolitik, aber wir hatten keine gemeinsame Fiskalpolitik, sondern eine lose koordinierte Fiskalpolitik von 19 Staaten in der Eurozone, beziehungsweise der 27 Staaten in der EU. Das wird nun stückweise geändert.

Brauchen wir mit mehr fiskalischer Kompetenz der Kommission nicht mehr demokratische Legitimität durch das EU-Parlament?
Dieser Gipfel hat gezeigt, was auch schon vorher so war: Die Macht in der EU liegt beim Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU. Das ist so angelegt und das ist auch von den Hauptstädten so gewollt. Es gibt bei so einem Gipfel, wenn er erfolgreich ist, immer viele Gewinner. Das war dieses Mal auch so. Wenn es einen Verlierer gibt, dann war es am vergangenen Wochenende das Europäische Parlament. Die Frage ist jetzt: Kann das Parlament in den kommenden Wochen und Monaten wieder Boden gutmachen?

Braucht das EU-Parlament mehr Kompetenzen?
Es ist in der Tat so: Wenn wir ein stärker integriertes Europa wollen, und ich will das, damit wir eine Rolle neben den USA und China auf der Weltbühne haben, dann brauchen wir eine stärkere parlamentarische Kontrolle auch auf europäischer Ebene. Das EP hat heute keine volle Hoheit über den EU-Haushalt. Und der Haushalt ist nun einmal das Herzstück eines jeden nationalen Parlaments. Für alle europäischen Gesetze hat die EU-Kommission heute ein Initiativmonopol. Auch das kennen wir aus keinem der Mitgliedstaaten. Warum sollte es für das EP nicht ein Initiativrecht geben?

Sie haben ab 2011 eine andere Krise begleitet. Inwiefern ist die Staatsschuldenkrise mit der jetzigen überhaupt vergleichbar?
Aus ökonomischer Sicht sind beide Krisen natürlich nicht vergleichbar, damals waren zum Beispiel nur einige Staaten betroffen, durch die Pandemie sind es alle. Dennoch ist jede Krise ein Einschnitt. Der führte auch zu neuen Instrumenten. Wir haben im Zuge der Krise in einigen Ländern der Eurozone mit dem ESM seither eine Art Europäischen Währungsfonds. Wir haben eine europäische Bankenaufsicht. Wir haben einen Mechanismus zur Bankenabwicklung geschaffen. Auch dieses Mal werden ganz neue Instrumente geschaffen.

Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands und Frankreichs bei den Verhandlungen? Haben die kleinen Länder die großen wirklich an die Wand gespielt?
Es ist eindeutig so, dass Deutschland und Frankreich zusammen vorangehen müssen, damit sich Europa als Ganzes bewegt. Das hat sich nicht geändert. Ich glaube dennoch, dass das heute schwieriger ist. Darum würde ich ganz mathematisch ausdrücken: Eine deutsch-französische Einigung ist heute eine notwendige Voraussetzung, um voranzugehen, aber keine hinreichende.

Kapital-Ressortleiter Bastian Brauns (links)
mit GDV-Geschäftsführer Jörg Asmussen.

Was hat sich denn im Vergleich zu Ihrer Zeit als Chefunterhändler verändert? Gruppenbildungen gab es doch vorher schon.
Es gibt neue Koalitionen, die den Zusammenhalt in der EU erschweren. In der Eurozonenkrise gab es den sogenannten Nord-Südkonflikt, auch wenn Irland geografisch im Norden liegt, aber damals dem Süden zugerechnet wurde. Wir haben seit der Flüchtlingskrise 2015 spätestens sichtbar eine Ost-West Auseinandersetzung. Der Zusammenschluss der Visegrad-Staaten begann im Kern hier und setzt sich nun fort beim Thema Rechtsstaatlichkeit mit Polen, Ungarn und Bulgarien. Und jetzt haben wir den sogenannten Norden noch einmal gespalten mit der Gründung der sparsamen, manche sagen geizigen Vier, die dann Fünf wurden. Das erschwert die Konsensfindung. Es gibt auch ein neues Selbstbewusstsein der Kleinen: Die Wahl des neue Euro-Gruppenchefs vor einigen Wochen war eine Überraschung und es ist kein Geheimnis, dass er mit zehn zu neun Stimmen gegen die Stimmen Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens gewählt wurde. Es muss also eine Koalition aller Kleinen gegeben haben um den irischen Kandidaten durchzusetzen. Ich kann mich kaum an eine Abstimmung erinnern, die je so ausgegangen ist.

Worauf führen Sie denn die Spaltung des Nordens zurück?
Das hat ein ganzes Bündel von Ursachen. Das wachsende Selbstbewusstsein der kleineren Staaten habe ich schon angesprochen. Es hat weiter zu tun mit dem Ausscheiden von Großbritannien, hinter dessen breiten Rücken sich die Niederländer und auch die Skandinavier tatsächlich oft verstecken konnten. Hinzu kommt, dass jedes Land immer wieder nationale Wahlen hat, die Niederländer wählen kommenden März. Auf die teilweise EU-kritische Stimmung muss der Wahlkämpfer Mark Rutte Rücksicht nehmen.

Müsste man Deutschland nach dem gemeinsamen Vorstoß mit Frankreich zu kreditlosen Direkthilfen nun nicht auch in den Süden packen?
Nein, das denke ich nicht. Emmanuel Macron und Angela Merkel haben einen Vorschlag gemacht, der über ihr jeweiliges Heimatland hinausgeht. Sie haben sich überlegt: Was ist gut für das gesamte europäische Projekt? Auch vor dem Hintergrund, dass sich insbesondere die Italiener in der Coronakrise allein gelassen fühlten. Das ist der Kern dieser deutsch französischen Freundschaft: Dass das Tandem Lösungen für ganz Europa sucht. Das kann man nicht allen, die da am Wochenende zusammengesessen haben, unterstellen. Da waren viele, die haben ganz einfach nur die finanziellen Interessen ihres Staates vertreten.

War es womöglich Strategie, sich öffentlich zurückzunehmen, damit die kleineren und mittleren Länder zu Wort kommen? Um eine Diskussion entfesseln, die zu einer so oft als fehlend bemängelten europäischen Öffentlichkeit führt?
Die Öffentlichkeit ist in der Tat wichtig. Die Regierungschefs gehen nicht ohne Grund zwischendurch aus den Sitzungen und senden Botschaften, aber eben oft nur für die eigene Heimat. Nochmal: Deutschland und Frankreich sind da wirklich singulär in der jetzigen Lage der EU. In der Vergangenheit haben andere, zum Beispiel hat Luxemburg, hat Jean-Claude Juncker da eine wichtige Rolle gespielt.

Ist dieses Zugeständnis von Angela Merkel endlich die Antwort, auf die Emmanuel Macron nach seiner Sorbonne-Rede so lange gewartet hat?
Ja, in Frankreich gab es das Gefühl, Deutschland hätte sehr lange mit einer Antwort gewartet. Und ja, ich glaube, mit dieser Pandemie ist die Antwort jetzt da. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied der jetzigen EU-Bonds zu den Eurobonds: Eurobonds bedeuten eine gemeinschaftliche Haftung, im Extremfall haftet der letzte Zahlungsfähige für alle anderen mit, das heißt zu 100 Prozent. Beim Vorschlag von Merkel und Macron von EU-Anleihen haftet jeder Staat nur in Höhe seines Anteils im EU-Haushalt. Das heißt, für Deutschland wird die Haftung bei rund 25 Prozent gekappt.

Was erwarten Sie jetzt noch von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft?
Mit dem Wiederaufbaufonds und der siebenjährigen Haushalts-Vorausschau sind tatsächlich zwei der drei großen Themen der deutschen Präsidentschaft durch. Das ist schon eine Leistung. Jetzt kommt der Brexit. Das wird schwieriger, denn anders als bei EU-Gipfel müssen hier nicht 27 Staaten eine Lösung finden, weil sie alle zum gleichen Klub dazugehören wollen. Sie müssen eine Lösung mit jemandem finden, der dem Klub nicht mehr angehören will – leider.

Könnte Corona hierbei nicht ebenfalls ein „hilfreicher Partner“ sein?
Der Wirtschaftseinbruch im Vereinigten Königreich ist schon wirklich spürbar. Ich hoffe noch immer auf eine friedliche Trennung, das heißt einen nicht-harten Brexit. Der Finanzsektor, und das gilt insbesondere für uns Versicherer, ist aber auf einen harten Brexit inzwischen so vorbereitet, dass das sogar relativ geräuschlos ginge, die Störungen im Güterverkehr wären grösser. Jeder weiß, die Wahrscheinlichkeit für einen harten Brexit ist nicht null, da muss man vorbereitet sein.

Die Fragen stellte Bastian Brauns, Ressortleiter Kapital bei Cicero.

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