Vielfalt in der Energiewende - „Frieren für den Frieden funktioniert nicht“

Die Ingenieurin und Politikberaterin Lamia Messari-Becker warnt vor einer ideologisierten Energiepolitik, die unsere Probleme nicht lösen kann, und wirbt für mehr Diversifizierung. Angesichts des Ukraine-Krieges muss die deutsche Energiewende neu geplant werden. Dazu gehören der Ausbau erneuerbarer Energien, Gasabbau in Niedersachen und notfalls auch längere Laufzeiten konventioneller Kraftwerke.

80 Prozent des Energiebedarfs entfallen auf Wärme und Treibstoffe, nur 20 Prozent auf Strom / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Lamia Messari-Becker ist Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Von 2016 bis 2020 war sie Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) und vertrat dort die Bereiche Bauingenieurwesen und nachhaltige Stadtentwicklung.

Frau Messari-Becker, um den schrecklichen Angriffskrieg in der Ukraine zu beenden und dem russischen Präsidenten die Finanzmittel zu entziehen, gibt es die politische Forderung, sofort auf russische Gaslieferungen zu verzichten. Wie schnell könnten wir den Verlust mit anderen Energieträgern kompensieren?
 
50 Prozent unseres Erdgasbedarfs, 30 Prozent des Kohle- und 30 Prozent des Ölbedarfs kommen aus Russland, das zeigt eine enorme Abhängigkeit, die die Energiepolitik der letzten 20 Jahre so fest zementiert hat, wie es nur geht. Das schnell zu ändern, ist sicher keine Lappalie. Soweit ich das sehe, arbeitet Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit Hochdruck daran, uns unabhängiger zu machen, und ich wünsche ihm allen erdenklichen Erfolg. Dieser wird aber davon abhängen, wie schnell Flüssiggas aus Katar, USA oder Kanada oder Öl aus Norwegen kommt. Es steht die Frage im Raum, ob wir weitere Verträge mit afrikanischen Partnern schließen und wie entschieden wir gegebenenfalls nationale Reserven mobilisieren können. Unsere einzige Chance, ist alle Registerkarten zu ziehen.

Die Europäische Union will kurzfristig den Import von Kohle aus Russland verbieten. Welche Folgen hätte das für Deutschland?

Ich begrüße diese Entscheidung ausdrücklich, und es müssen weitere folgen. Nun geht es darum, im europäischen Verbund den Ausfall auszugleichen. Dabei darf nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip „not in my backyard“ gehandelt werden. Auch mit Blick auf die aktuelle Entwicklung ist es wichtig, die Ukraine weiterhin im europäischen Stromnetz zu halten. Nicht nur Deutschland, sondern auch andere EU-Länder könnten auf ihre nationalen Reserven zurückgreifen

Würde ein Tempolimit uns helfen?

Rein energietechnisch gesehen würden eher autofreie Sonntage helfen, wenn es schlimm kommt. Aber solange wir über ein Tempolimit diskutieren, scheint es uns wirklich gut zu gehen. Die CO2- und die Energieeinsparung sind hier weniger maßgeblich. Das Problem sehe ich eher bei unverantwortlichen Fahrern, das ist aber keine Frage des Energiebedarfs oder CO2-Ausstoßes der Republik.
 
Wo kennen Sie als Umweltexpertin solche Diskussionen noch?
 
Ich kenne solche Diskussionen auch im Baubereich. Es heißt oft, wir könnten uns aus der Klimakrise mit Holzbauweise herausbauen. Da steckt sicher viel Liebe und Bezug zur Natur drin. Aber so einfach ist die Welt leider nicht. Holz ist ein wunderbares Material, es hat viele Vorteile in der Ökobilanz. Holz hat aber, wie jedes andere Material, auch Nachteile, etwa eine geringe Speicherfähigkeit. Holzhäuser werden im Sommer sehr warm. Das kann Kühlungsenergie kosten. Einen Raum zu kühlen, ist energetisch viermal aufwendiger, als einen Raum zu wärmen. Genauso hat Beton Vor- und Nachteile. Beton hat eine hohe Speicherfähigkeit, ist aber in der Produktion sehr CO2-intensiv. Für Talsperren oder Brücken brauchen wir dennoch Stahl und Beton. Holz kann man mehr im Wohnungsbau nutzen. Jedes Material hat Vor- und Nachteile. In dieser Vielfalt liegt die Chance, die jeweils passenden Materialien und Bauweise für die jeweilige Funktion einzusetzen, auch unter ökologischen Gesichtspunkten.
 
Sie lehren Gebäudetechnologie und Bauphysik. Steckt hinter dem Slogan „Frieren für den Frieden“ ingenieurtechnisch gesehen ein realistisches Szenario?

 
Slogans führen oft zu gefährlicher Komplexitätsreduzierung. So auch hier: Der Gedanke „Frieren für den Frieden“ ist sicher solidarisch gemeint, aber er greift leider zu kurz. In Gebäuden können wir kurzfristig kleine Maßnahmen realisieren, etwa die Optimierung der Heizungen, Dämmung von Dachböden und Heizungsrohren, Nachtabsenkung der Raumtemperatur und meinetwegen auch tagsüber zwei bis drei Grad weniger heizen. Kälter als 18 Grad birgt aber Gesundheitsrisiken für Ältere und Kinder sowie Schadensrisiken für die Bausubstanz selbst (Feuchte und Schimmelbildung). Das zu reparieren, würde auch Energiemengen verschlingen. Kurzum: Energiesparen mit Augenmaß im Gebäude ist richtig, aber der große Wurf ist es in dieser Situation leider auch nicht
 
Die massive Abhängigkeit von russischem Gas bedroht nun die deutsche Energieversorgung und die deutsche Wirtschaft. Sie beraten die Politik seit einigen Jahren. Wie konnte es zu dieser fatalen Lage kommen?
 
Da kommt einiges zusammen. Einerseits fahren wir in Sachen Energiepolitik einen rein nationalen Weg mit Folgen nun auch für Europa. Unsere Abhängigkeit von Russland definiert mögliche Sanktionen ja mit. Andererseits hat die Politik lange vor 2016 geglaubt, dass die Zukunft einer „all electric-society“ gehören soll. Das wird nicht klappen. Einige Personen behaupten immer wieder, dass 100 Prozent erneuerbare Energien (EE) in und aus Deutschland möglich sind. Den Anteil EE an Strom, derzeit knapp 50 Prozent, wurde gefeiert, der an Wärme von nur knapp 15 Prozent, im Verkehr von nur sieben Prozent laut verschwiegen. Die Zahl „50 Prozent Öko-Strom“ wurde oft dazu genutzt, zu suggerieren, dass es um den EE-Anteil am gesamten Endenergiebedarf ginge. Das ist aber falsch, denn dieser liegt bei knapp 20 Prozent.
 
Was bedeutet das für die Energiewende?
 
Strom macht nur 20 Prozent des Endenergiebedarfs aus; die restlichen 80 Prozent sind Wärme und Treibstoffe. Der Anteil von Wind- und Sonnenstrom am Endenergiebedarf der Industrienation Deutschland beträgt weniger als sieben Prozent. Die Politik hat sich auch förderpolitisch stark auf Wind- und Sonnenenergie fokussiert und eine Wärmewende, die Geothermie, Abwärme, Biogas, kommunale Wärmepläne, Kraftwärmekopplung usw. integriert, de facto verhindert. Immerhin beinhaltet der Koalitionsvertrag hier nun einige kluge Ansätze. Auch hing die Infrastruktur immer hinterher, um die Energieträger tatsächlich nutzbar zu machen – Stichwort: Speicherung und Wasserstoff.
 
Bundesminister Habeck hat nun aber selbst die problematische Volatilität der Windkraft angesprochen.
 
Das ist eine wichtige Selbsterkenntnis, denn ohne eine Lösung hierfür bleiben wir definitiv auf einem Holzweg. Klar ist: Wir müssen den Ausbau erneuerbarer Energien massiv beschleunigen und diversifizieren. Aber eine Politik, die auf solche Scharlatane hört, die andauernd die Notwendigkeit anderer Energieträger komplett negieren, den Kohle- und Atomausstieg verniedlichen, sämtliche Brückentechnologien niederreden, führt das Land gegen die Wand. Wir stehen vor dem Scherbenhaufen einer verantwortungslosen wissensbasierten Politikberatung und einer vor dieser getriebenen Politik.
 
Sie waren Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, also Teil der Politikberatung. Wie liefen die Diskussionen?
 
Ich vertrat immer die Auffassung, auch in Minderheitenvoten, dass die Energiewende zu sehr stromfokussiert ist und wir eine diversifizierte Energiewende brauchen, die auch erneuerbare Wärme in Gebäuden und klimaneutrale Kraftstoffe im Verkehr adressiert. Ich sprach mich für einen europäischen CO2- Emissionshandel auch im Verkehrs- und Gebäudesektor aus.
 
Die Energiepolitik stand für die Ampel-Regierung im Zeichen des Klimaschutzes. Was muss passieren, um die Klimaschutzziele zu erreichen und zugleich unabhängig von Putins Gas zu werden?

 
Mittelfristig müssen wir den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen und nötige Infrastrukturen aufbauen, die die Erträge nutzbar macht, speichert und weiterverarbeitet. Nur Windräder zählen hilft ja nicht. Dazu müssen wir neue Energiekooperationen für Wasserstoff schmieden. Kurzfristig geht es um Ersatz der Energieimporte, teils durch Import, teils durch Mobilisierung nationaler Reserven. Vor Niedersachsen lagern Erdgasvorkommen, die man unter Wahrung des Umweltschutzes fördern könnte.
 
Gehört dazu auch ein späterer Atomausstieg, wie Wirtschaftsweise Veronika Grimm kürzlich oder der Ifo-Chef Clemens Fuest einwarfen?
 
Atomkraft hat in Deutschland kaum gesellschaftliche Akzeptanz. Aber bei drohender Energieknappheit muss man solche Szenarien zumindest durchdenken, da stimme ich beiden zu. Aus diesen Erwägungen und Handlungsoptionen kann aber nur die Politik Entscheidungen machen.
 
Waren die Pläne zum Kohleausstieg richtig?
 
Aus der Perspektive der CO2-Einsparung schon. Aber ein noch schnellerer Ausstieg als vereinbart ist mit Blick auf die Entwicklung eher unwahrscheinlich. Ich wünsche mir aber insgesamt mehr Ehrlichkeit: Hierzulande auszusteigen und 30 Prozent Kohlebedarf aus Russland zu importieren, macht nicht wirklich Sinn, auch ohne Krieg. Hierzulande Atomkraft auszuschließen, aber Atomstrom aus Frankreich zu importieren, ist unehrlich. Erdgas aus dem Ausland importieren, aber unsere eigenen Gasvorkommen nicht zu fördern, ist unlogisch. Hierzulande CCS-Technologien (Abscheiden und Speichern) kategorisch auszuschließen, aber von Norwegen später nutzen – das alles ist nicht glaubwürdig. Wir brauchen eine inhärente gemeinsame europäische Energiepolitik, die den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit miteinander verbindet. In diesen Rahmen gehört der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien mit dem Ausstieg aus Kohlekraft koordiniert und abgestimmt.
 
Wurden beim Klimaschutz die richtigen Prioritäten gesetzt?
 
Ich meine nicht. Ein Beispiel: Klimaschutz im Gebäudesektor dürfte bei Monotechnologien das Doppelte kosten als bei einem Technologiemix. Man hat eine Kreislaufwirtschaft im Bausektor nicht vorangetrieben, die aber enorme Potentiale für den Klimaschutz bereithält. Irgendwie denkt man bei Klimaschutz immer nur an Windkraft, PV-Anlagen und Wärmedämmung. Das reicht aber nicht. Klimaschutz braucht nicht weniger, sondern mehr Ideen, Wettbewerb und Handlungsoptionen.
 
Sie beklagen seit Jahren eine ideologisierte Klimaschutzpolitik. Was genau läuft falsch?

 
Die Politik muss in Sachen Klimaschutz handeln und viel mehr unternehmen. Erwartet wird aber oft, dass die Politik handelt, „exakt wie von ,der‘ Wissenschaft empfohlen wird“. Wissenschaftler regieren aber nicht. Wer regiert, muss auch die politische Verantwortung übernehmen. Das wiederum können Wissenschaftler nicht. Auch kann die Politik nie rein nach Zahlen aus nur einem Kontext vorgehen. Für die Politik ist nur das Machbare und Sozialverträgliche auch langfristig durchsetzbar. Eine auf Akzeptanz angewiesene Politik braucht Handlungsspielräume, um auf Problemlagen angemessen zu reagieren, auszugleichen. Wir müssen mehr abwägen. Ohne Abwägung, ohne Handlungsspielraum funktioniert keine Demokratie. Und zum Gesamtbild der Klimaschutzpolitik gehören auch weitere Expertisen wie Wirtschafts-, Sozial- und Ingenieurwesen. Es gibt eben einen Unterschied zwischen fachlich einseitigem Wissen und politisch breitem Handeln. Dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen ein Vetorecht für den sogenannten Generationengerechtigkeitsrat gegen Gesetze im Parlament gefordert hat, war für mich der Gipfel einer ideologisierten wissensbasierten Politikberatung. Das alles geschah unter dem Deckmantel des Umwelt- und Klimaschutzes. Ich bin überzeugt, wir erreichen die Nachhaltigkeitsziele auch in harten Zeiten nur auf dem Fundament unserer Verfassung.
 
Es wird beim Klimaschutz von sogenannter Technologieoffenheit gesprochen. Welche Technologien nutzen wir beim Klimaschutz bisher unzureichend?
 
Dazu zählen sicher CCS-Technologien (CO2 abfangen und speichern) sowie der natürliche Klimaschutz, etwa Aufforstung und Moore. Moore speichern doppelt so viel CO2 wie ein Wald gleicher Fläche. Aber auch die Potentiale von Geothermie, Solarthermie und Biomasse werden in Deutschland nicht konsequent genutzt. Effizienztechnik wie Abwasserwärmerückgewinnung, energetische Vernetzung von Gebäuden und Quartieren muss in die Breite finden. Beispielsweise kann Abwärme von Rechenzentren abgefangen und anderswo genutzt werden. Ein unterschätztes Instrument ist die Klimaanpassung. Ein weiterer Bereich ist kreislauffähiges Bauen, Stichwort Circular Economy – all das ist klimawirksam.
 
Die Fragen stellte Volker Resing.

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