Everything-Apps - Elon Musks neuester Streich

Everything-Apps vereinen alle möglichen Services in einer Applikation. In Ostasien sind sie bereits etabliert, in den USA plant Elon Musk Ähnliches mit seiner Plattform X. Vorbild ist das chinesische WeChat. Experten warnen vor Problemen mit Datenschutz und Zensur.

Tech-Visionär und Milliardär Elon Musk / picture alliance
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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Ende Juli machte Elon Musk eine Ankündigung, die tief blicken ließ: „Der Name Twitter ergab Sinn, als nur 140 Zeichen hin und hergingen.“ Wie kurzes Gezwitscher zwischen Vögeln. Aber heute könne man dort fast alles posten, einschließlich stundenlanger Videos. „In den kommenden Monaten werden wir umfassende Kommunikation sowie die Möglichkeit hinzufügen, Ihre gesamte Finanzwelt zu verwalten“, so Musk. Der Name Twitter sei nun nicht mehr sinnvoll. „Daher müssen wir uns von dem Vogel verabschieden.“

Denn die Plattform X, die sich vor der Akquisition durch den Milliardär und Investor Elon Musk noch Twitter nannte, werde künftig eine „Everything-App“. So bezeichnen sich Applikationen, die diverse Dienste unter einem einzigen Banner vereinen. Bei X will man die ersten Schritte in diese Richtung durch die Integration von Zahlungsdiensten schaffen. Zu späteren Zeitpunkten sollen offenbar noch etliche weitere Features hinzukommen.

Vorbild: Allround-App WeChat

Als Vorbild sieht Musk die Allround-App WeChat. Von der chinesischen Plattform schwärmt er: „Wenn wir so etwas erreichen können oder uns dem auch nur annähern können mit Twitter, wäre das ein riesiger Erfolg.“ Das 2011 von Entwicklern des chinesischen Multikonzerns Tencent entworfene WeChat gilt seit einigen Jahren als weltweiter Vorreiter in Sachen Everything-App. Auf der Plattform können User fast ihr ganzes digitales Leben führen.

Neben einer Chatfunktion wird hier unter anderem dies geboten: Kinotickets buchen, in Finanzprodukte investieren, Nachrichten lesen, Unternehmenskontakte herstellen und mit ihnen Deals abschließen, Arzttermine buchen, Auslandsvisa beantragen und vieles mehr. Im Google Playstore beschreibt sich die Plattform selbst als „mehr als eine Messaging- und Social Media App – es ist ein Lifestyle für mehr als eine Milliarde User rund um die Welt“.

 

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Damit ist WeChat der mit Abstand größte Anbieter, der diverse Dienste vereint. Der einzige ist er aber nicht. Gerade in Ost- und Südostasien hat sich das Modell einer Everything-App längst etabliert. So dominiert in Japan der Anbieter Line jene Geschäftsbereiche, die WeChat in China weitgehend kontrolliert. Auch Line existiert seit 2011, bestach anfangs als Messaging-Dienst, der im Vergleich zu Whatsapp die einfallsreicheren Smileys und Sticker bot. Im eigenen Line-Konto können Nutzer heute unter anderem auch digitale Impfpässe aufbewahren und Kleidung kaufen.

In Südkorea wiederum heißt der Platzhirsch Kakao und ist seit 2010 auf dem Markt. Auch Kakao ist heute ein Fintech-Unternehmen, das außerdem Gaming und Musikstreaming anbietet. In mehreren Ländern Südostasiens werden einige dieser Dienste von Grab übernommen, das einst als interaktive Taxiplattform startete, heute aber unter anderem auch Essens- und Einkaufslieferung ermöglicht. Grab bezeichnet sich selbst als „The Everyday Everything App“.

Auf WeChat kann der chinesische Staat mitlesen

Ob auch X, dem ehemaligen Twitter, so eine Entwicklung gelingen kann, ist aus mehreren Gründen ungewiss. Dan Prud’homme, Wirtschaftsprofessor an der Florida International University, bezweifelt, dass eine solche App von amerikanischen Nutzern große Wertschätzung erfahren würde. Gegenüber der New York Times erklärte er zuletzt, die Verbraucher seien „an Single-Service-Apps gewöhnt, was Multi-Service-Apps etwas verwirrend macht“. Außerdem: „US-Kunden mögen das Gefühl nicht, für ihre täglichen Aktivitäten zu sehr von einem einzigen Dienstleister abzuhängen.“

Welche Nachteile eine allzu starke Abhängigkeit haben kann, ist zuletzt in Ostasien offensichtlich geworden. Als im Oktober vergangenen Jahres ein Datenzentrum von Kakao brannte, wurden weite Teile der südkoreanischen Wirtschaft lahmgelegt. In einem Land mit 52 Millionen Einwohnern zählt Kakao 43 Millionen monatliche User, die die App eben auch geschäftlich nutzen. Als diverse Dienste plötzlich nicht mehr funktionierten, war der Ärger so groß, dass sich sogar der Präsident einschaltete.

In China haben die typischsten Probleme mit Datenschutz zu tun. Juristische Experten in Deutschland warnen im Geschäft mit Klienten aus China zum Beispiel davor, den Kontakt über die Plattform WeChat laufen zu lassen. Neben mangelnder Verschlüsselung, so die Beratungsfirma Dr. Datenschutz, gebe es immer wieder Beschwerden in Sachen Zensur sowie der Herausgabe von Daten an staatliche, öffentliche, regulatorische, gerichtliche und Strafverfolgungsbehörden. Auf WeChat könne auch der chinesische Staat mitlesen.

Kartellrecht in den USA und der EU strenger

Solche Vorkommnisse schaden potenziell auch Anbietern aus demokratisch regierten Staaten, weil sie Verbraucher insgesamt vorsichtig machen könnten. So haben es das amerikanische X sowie mögliche Wettbewerber aus Europa schwer, etwas Ähnliches aufzubauen. Allerdings nicht nur deshalb. Das Kartellrecht in den USA und der EU ist meist strenger als etwa in China, sodass App-Anbieter, die mehrere Dienste zugleich anbieten, schnell riskieren, dem Vorwurf des Marktmissbrauchs gegenüberzustehen, sobald sie sich eine dominante Stellung erarbeitet haben.

Allerdings entsteht hieraus noch kein Verbot von Everything-Apps, wie Luis Mejía erklärt, Experte für Regulierungsbehörden an der Hertie School in Berlin: „Solche Plattformen können Wege bieten, um Transaktionskosten zu minimieren und die Effizienz verschiedener Anbieter zu erhöhen.“ Ein Problem entstehe dann, „wenn die Macht auf einem Markt es einem Unternehmen erlaubt, den fairen Wettbewerb auf anderen Märkten zu unterbinden“. Dies lasse sich aber vermeiden, wenn ein Anbieter als Plattform agiert, auf der andere Betriebe ihre Dienste offerieren können.

Many-Apps statt Everything-Apps im Westen

Eine Plattform hochzuziehen, auf der die User ganz verschiedene Funktionen zu nutzen bereit sind, ist allerdings schwierig. Laut einer Analyse von Akshay Chopra, Vizepräsident des Bereichs Innovation und Design von Visa CEMEA, haben alle erfolgreichen Everything-Apps drei Gemeinsamkeiten: eine große Zahl von Usern, technische Expertise und daher eine positive Nutzungserfahrung sowie ein hohes Maß an Vertrauen durch die User.

In dieser Hinsicht sind die globalen Platzhirsche der Digitalökonomie – ob Google, Apple oder Facebook – jedem europäischen Unternehmen weit voraus. Und einige von ihnen versuchen sich längst auf dem Weg zu einer Everything-App: Amazon etwa ist über die vergangenen Jahre vom digitalen Kaufhaus zum Anbieter digitaler Streamingdienste avanciert. Facebook hat sich in Meta umbenannt, um künftig diverse ganz neue Dienste anzubieten.

Und auf kleinerem Niveau sind solche Versuche auch in Europa zu beobachten. Das schwedische Fintech-Unternehmen Klarna hat in mehrere Betriebe investiert, um rund um Finanzdienste auch eine allgemeine Shopping-App zu werden. Das estnische Bolt, das als Taxi-Start-up begann, bietet mittlerweile Scooter-Dienste und Carsharing sowie Essenslieferung an. Das ukrainische Privat24 hat rund um Finanzdienste einen ähnlichen Weg eingeschlagen.

Dies sind zwar alles keine Everything-Apps. Aber zumindest Anbieter, die thematisch zusammenhängende Dienste vereinen, vielleicht könnte man sagen: Many-Apps.

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