Deutsche Wirtschaft - Ausgebremst

Zähe Verfahren, langsame Ämter: Deutschlands Zukunftsfähigkeit leidet unter einer ausufernden Bürokratie. Das kostet Zeit, Geld und schwächt den Standort. Wie lässt sich das ändern?

Über Bürokratieabbau wird gern und viel geredet. Praktiziert wird er hingegen selten. / Karsten Petrat
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Sabine Baur ist freie Wirtschaftsjournalistin und lebt in Karlsruhe.
 

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Herbert Pohl möchte in die Tiefe gehen. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Deutschen Erdwärme, ein Unternehmen, das Energie aus dem Untergrund holen will. Entlang des Oberrheins, wo die Voraussetzungen für Geothermie-Anlagen optimal sind, plant Pohl derzeit vier Anlagen. Doch bevor sie in Betrieb gehen, werden noch Jahre vergehen. Der Unternehmer braucht viel Geduld für die langsamen Mühlen der Bürokratie.

„Die Genehmigungsverfahren sind in sich komplizierte Projekte mit einer ganzen Reihe beteiligter Behörden“, sagt Pohl. „Was wir erleben, sind Doppelarbeit, unzureichende Kommunikation und dadurch häufige Fehlerkorrekturen.“ Sein am weitesten fortgeschrittenes Projekt ist seit zwei Jahren im Genehmigungsprozess. 14 Monate dauerte es, bis die Bohrarbeiten unter Tage erlaubt wurden. Aber das ist nur der eine Teil. Alles, was über der Erde gebaut wird, muss in einem zweiten Verfahren genehmigt werden. Der Deutsche-Erdwärme-Chef rechnet nicht damit, dass er die Anlage vor dem Jahr 2024 in Betrieb nehmen kann.

„Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert“

Egal ob es um erneuerbare Energien, Industrieprojekte oder den Infrastrukturausbau geht: Überall hört man ähnlich klingende Klagen über zähe Verfahren und bürokratische Hürden, die Investitionen erschweren oder sogar verhindern. Das hat längst schwerwiegende Folgen für den gesamten Standort. So hinkt Deutschland beim Ausbau von leistungsfähigen Datennetzen, ob Mobilfunk oder Glasfaser, anderen Industriestaaten teils meilenweit hinterher. Und Unternehmen, die gerne vor Ort investieren würden, sich aber in undurchsichtigen Verfahren verirren, sind keine Seltenheit. Waren 2004 für die Genehmigung eines Industrieprojekts, etwa die Erweiterung einer Produktionsanlage, noch durchschnittlich zwei Gutachten notwendig, sind es mittlerweile fünf bis zehn, klagt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

Woran liegt das? Seit Jahren wird doch von Bürokratieabbau geredet. Das Bundeskabinett hat ein „Paket für Bürokratieerleichterungen“ beschlossen, drei Bürokratieentlastungsgesetze wurden seit 2015 verabschiedet, es gibt eine Bürokratiebremse, und bereits seit 15 Jahren läuft das Bundesprogramm für Bürokratieabbau und bessere Rechtssetzung. Doch der Nationale Normenkontrollrat (NKR), der als unabhängiges Gremium die Bundesregierung berät, um Bürokratie- und Kostenbelastungen zu senken, kommt zu einem vernichtenden Ergebnis. „Deutschland ist, denkt und handelt zu kompliziert“, schreibt der NKR in seinem jüngsten Jahresbericht.

Genehmigungen dauern ewig

Der deutschen Wirtschaft sprechen die Regierungsberater damit aus der Seele. „Wir haben jährlich rund 2000 Genehmigungen in der Industrie, bei den allermeisten davon handelt es sich um Änderungsanträge für bestehende Anlagen, beispielsweise weil eine Produktion umgestellt wird oder es neue gesetzliche Vorgaben gibt“, sagt Catrin Schiffer, die beim BDI den Arbeitskreis Genehmigungsverfahren leitet. Meist geht es um umweltrechtliche Fragen aus dem Immissionsschutzgesetz. Die Umweltgesetzgebung ist seit den 2000er-Jahren eines der am schnellsten wachsenden Rechtsfelder der Europäischen Union.

Doch ausgerechnet die Richtlinien aus Brüssel sind von der deutschen Bürokratiebremse und ihrer „One-in-one-out-Regel“ ausgenommen. Juristin Schiffer erklärt, eigentlich müssten Genehmigungen innerhalb von sechs Monaten erteilt werden ab dem Zeitpunkt, wenn alle Unterlagen vorliegen und die Behörde dies mit einer Vollständigkeitserklärung bescheinigt. Alles in allem müsste ein solcher Prozess in neun bis zehn Monaten durch sein. Früher – vor gut 15 Jahren – sei das so gewesen.

„Die Vorgaben sind aber immer komplexer geworden, sodass die Behörden immer mehr Informationen brauchen. Tatsächlich müssen Unternehmen heute teilweise ganze Kleinbusse voll mit Aktenordnern in mehrfacher Ausführung bei den Behörden abliefern. Digitalisierung weit gefehlt.“ In der Regel sind neben der eigentlichen Genehmigungsbehörde gleich mehrere Akteure an einem Verfahren beteiligt: Naturschutz, Wasserschutz, Gemeindevertreter als Träger öffentlicher Belange und so weiter. Immer länger dauere es, bis überhaupt die Vollständigkeitserklärung erteilt werde, beklagt Schiffer.

Monatelanges Warten

Ein großes Problem liege zudem in vielen unbestimmten Rechtsbegriffen und fehlenden Standards: „Wir haben das schon oft vom Bundesumweltministerium eingefordert, leider vergeblich.“ Ob etwas „geeignet“ oder „verhältnismäßig“ ist, muss so häufig durch teure Gutachten für den individuellen Einzelfall ermittelt werden. Viel Spielraum, der zu immer mehr Streitigkeiten führt, die letztlich wieder vor Gericht ausgefochten werden. Auch Infrastrukturprojekte ziehen sich deshalb zu jahrelangen Verfahren hin, oft begleitet von Bürgerprotesten. Solche Schwierigkeiten kennt man gut beim Unternehmen Deutsche Funkturm. Die Telekom-Tochter betreibt deutschlandweit rund 32.800 Standorte für Mobilfunkanlagen – und ist händeringend auf der Suche nach neuen. Denn das Handynetz hat immer noch Lücken und muss erst recht für den künftigen Mobilfunkstandard 5G wesentlich dichter werden.

Eine Baugenehmigung in weniger als drei Monaten zu bekommen, hat die Deutsche Funkturm zum Ziel erklärt. Dass das grundsätzlich geht, zeigen die Standortgenehmigungsverfahren, die einheitlich über die Bundesnetzagentur laufen, die entsprechende Fachkompetenz hat. Doch um den Funkmast zu errichten, ist noch die Zustimmung der örtlichen Baubehörde notwendig. Und das kann dauern. Etwa sechs bis 14 Monate seien da üblich, sagt Unternehmenssprecher Benedikt Albers. Manchmal dauere es sogar deutlich länger.

Wenn sich etwa die Gemeinde oder Teile der Bürgerschaft gegen den neuen Mobilfunkmast stellen. Kompliziert werde es auch, wenn sich unterschiedliche involvierte Ämter widersprechen. „Es kam schon vor, dass das Denkmalschutzamt eine Verlegung weg von der Sichtachse zur Kirche weiter an den Waldrand verlangt hat. Die untere Naturschutzbehörde wollte umgekehrt eine Verlegung in Richtung Ortskern. Eine Einigung dauert in solchen Fällen lange“, sagt Albers. Dabei führen schon geringfügige Verschiebungen während laufender Verfahren zu monatelangen Verzögerungen.

Immenser wirtschaftlicher Schaden

Neue Bodenproben, Statikprüfungen und Baupläne müssen erstellt werden. Das kostet Zeit und Geld. Auch die Naturstrom AG weiß das nur zu gut. Das Unternehmen baut und betreibt Wind- und Solarparks gemeinsam mit kommunalen Partnern. Eines ihrer Projekte verfolgt sie unter Bürgerbeteiligung mit der mecklenburgischen Gemeinde Wöbbelin. Seit 2017 stecken sie dort mit ihrem vergleichsweise kleinen Projekt von vier Windkraftanlagen in einer Verfahrensodyssee durch die Ämter fest.

Nach jahrelangem Hin und Her soll die gegründete Bürgerwindpark Wöbbelin GmbH nun sämtliche Gutachten nochmals neu erstellen lassen, weil diese inzwischen über fünf Jahre alt sind. Der wirtschaftliche Schaden aus der Verzögerung liegt bei über 600.000 Euro. Sollte die Genehmigung doch noch erfolgen, wartet aber bereits das nächste Problem. Der beantragte Anlagentyp wird dann nicht mehr produziert. Dann heißt es zurück auf Los, denn mit einer Umplanung auf einen neuen Anlagentyp beginnt das Verfahren wieder von vorne.

Viel zu tun für die Ampel

Die künftige Ampelkoalition hat sich vorgenommen, die Energiewende massiv zu beschleunigen. Genehmigungsverfahren deutlich zu straffen, ist daher erklärtes Ziel der drei Parteien. Dabei soll es aber nicht nur um Windkraftanlagen gehen. Gefragt sind generell schnellere Entscheidungen und digitale Verfahren. Vor allem der FDP ist dies ein Herzensanliegen. Denn möglichst wenig Bürokratie ist seit jeher Teil der liberalen Idee. Sandra Weeser, Mitglied im FDP-Bundesvorstand, sieht die Probleme aus ihrem Blickwinkel als ehemalige Unternehmerin: „Ich bin immer wieder überrascht, wie wenige Gedanken sich in Gesetzgebungsverfahren gemacht werden, wie das Geforderte in die Praxis umgesetzt werden kann.“

Sie warnt in diesem Zusammenhang auch vor gesetzgeberischen Schnellschüssen: „Ein Unternehmen investiert nur, wenn sichergestellt ist, dass es einen Return of Investment gibt. Diese Planungssicherheit muss der Wirtschaftsstandort Deutschland bieten, sonst werden wir weiter Ausweichbewegungen ins Ausland erleben.“ Verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, sei eigentlich das Ziel bürokratischer Prozesse im Rechtsstaat, sagt Stephan Grohs von der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Doch dazu müssten sie richtig umgesetzt werden. Und genau daran krankt es dem Bürokratieforscher und Politikwissenschaftler zufolge.

„Planungs- und Genehmigungsverfahren ziehen sich nicht durch die Regeln an sich in die Länge“, so Grohs. Er sieht die Abstimmungsproblematik zwischen den Behörden, deren dünne Personaldecke und ihre teils mangelnde Erfahrung bei komplexen Sachverhalten als Hauptursachen für Verzögerungen. Eine Energieanlage oder einen Funkturm genehmigen – viele Verwaltungsbeamte betreuen ein solches Vorhaben genau einmal in ihrer Karriere. Hinzu komme die mangelnde Kapazität bei den Verwaltungsgerichten, wenn Klagerechte in Anspruch genommen werden.

Was zu tun ist

Doch wie lässt sich der gordische Bürokratieknoten mit seinen vielen Enden lösen? Je nach Bundesland gab es in der Vergangenheit unterschiedliche Ansätze, offensichtlich war aber keiner wirklich erfolgreich. Die Leistungsfähigkeit von Behörden sei im Ländervergleich sehr unterschiedlich, was Kompetenz- und Personalausstattung angehe, verweist Grohs auf entsprechende Untersuchungen. Bis 2015 hat Deutschland seinen öffentlichen Dienst jahrelang reduziert. Der Wissenschaftler gibt zu bedenken: „Das führt natürlich auch zu Bürokratieproblemen.“

Von mehreren Seiten kommt der Ruf nach bundeseinheitlichen Lösungen, die in Best-Practice-Modellen gefunden werden sollen. So empfiehlt der Normenkontrollrat, Leistungsvergleiche und Benchlearning einzuführen. Bundesländer, Behörden und Kommunen sollen voneinander lernen. Damit seine Vorschläge umgesetzt werden können, fordert das Gremium, dass die nächste Bundesregierung die „Staats- und Verwaltungsmodernisierung zu einer Schwerpunktmission“ macht. Dafür müsse projektorientiert und ressortübergreifend gearbeitet werden, anstatt auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu verharren.

Geht es nach dem Geothermie-Unternehmer Herbert Pohl, braucht es eine „fundamentale Mentalitätsänderung“, wie Genehmigungsverfahren künftig gesteuert werden. Er ist überzeugt, dass die rein inhaltliche Prüfzeit nur ungefähr 20 Prozent eines solchen Verfahrens ausmacht: „In der restlichen Zeit schwirrt das Verfahren wie ein Flummi zwischen verschiedenen Beteiligten herum. Da wird etwas eingereicht, dann nachgefragt und zurückgereicht, wieder eingereicht und so weiter. So ziehen schnell ein paar Monate ins Land.“ Pohl zweifelt nicht an den Qualitätsstandards, die er für den Bau seiner Geothermie-Anlagen erfüllen muss. Ein fehlendes Prozessmanagement ist für ihn das hauptsächliche Problem. Hier müsse die Politik Farbe bekennen und entsprechende Ressourcen bereitstellen, fordert er und betont: „Das ist nicht nur eine Frage der beteiligten Behörden, sondern auch der Unternehmen. Wir sind Teil der Lösung, aber auch Teil des Problems, weil wir teilweise nicht wissen, wie wir effektiv mit den Behörden zusammenarbeiten können.“

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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