Strippenzieher der Russlandpolitik - Präsident Steinmeier blickt in die Röhre

Mit dem Krieg in der Ukraine steht nicht nur die deutsche Energiepolitik auf dem Prüfstand. Die gesamte Ostpolitik ist gescheitert. Mit ihr verbindet sich ein Name, der kaum genannt wird: Frank-Walter Steinmeier. Wie kaum ein anderer hat er sowohl unter Gerhard Schröder als auch unter Angela Merkel das Projekt Nord Stream 2 mit angeschoben.

Frank-Walter Steinmeier war maßgeblich für den Bau von Nord Stream 2 verantwortlich / Ronald Bonss
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Es sind harte Zeiten auch für Altkanzler Gerhard Schröder: Borussia Dortmund hat ihm die Ehrenmitgliedschaft entzogen. Eine Pfarrgemeinde in Hannover zahlt seine Spende für ein Kirchenfenster zurück. Im Berliner SPD-Fanshop sind die Schröder-Tassen aus dem Regal verbannt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fordern prominente Parteigenossen ihn auf, von seinen lukrativen Posten bei den russischen Rohstoffgiganten Gazprom und Rosneft zu lassen. Sie nennen seinen Duzfreund Wladimir Wladimirowitsch im Kreml, den er einst als „lupenreinen Demokraten“ gepriesen hat, einen „Kriegsverbrecher“ und sie stimmen, wenn auch ohne rechte Begeisterung, dem Stopp für die Gas-Pipeline Nord Stream 2 zu, für die Schröder und viele andere in der SPD so vehement geworben haben. 

Umgekippt ist zu seinem großen Verdruss auch die emsigste Streiterin an seiner Seite, die mecklenburg-vorpommersche Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Erst im vergangenen Jahr hatte sie hurtig die Gründung einer als Umweltstiftung getarnten Firma betrieben, mit der listig die US-Sanktionen gegen die Pipeline-Erbauer umgangen werden sollten. Nun musste sie Selbstkritik üben.

Der Hauptarchitekt war Steinmeier

Ein Name aber fehlt unter all den Politikern, die wegen ihres Einsatzes für Nord Stream nun am Pranger stehen: Frank-Walter Steinmeier. Dabei hat er, erst als Chef des Bundeskanzleramts unter Schröder und dann als Außenminister unter Angela Merkel, wie kaum ein anderer das Projekt mit angeschoben. Und noch viel mehr: Er war der Hauptarchitekt der deutschen Ostpolitik im 21. Jahrhundert, deren komplettes Scheitern nach der Bombardierung ukrainischer Wohnviertel auf erschreckende Weise offenbar wurde.

Wie konnte es passieren, dass der rational und pragmatisch wirkende Steinmeier die Absichten Putins so falsch eingeschätzt hat? 

Die Vereinbarung über den Bau der umstrittenen Pipeline mit dem kuriosen deutsch-englischen Namen wurde im April 2005 in Anwesenheit Schröders und Putins unterzeichnet. Die rot-grüne Bundesregierung missachtete dabei Einwände von Umweltschützern, die vor den Risiken für das Ökosystem Ostsee warnten. Und sie setzte sich über die Proteste der osteuropäischen Partner in EU und Nato hinweg. Diese kritisierten Nord Stream als geostrategisches Projekt des Kreml zum Nachteil der Polen, der baltischen Republiken sowie vor allem der Ukraine, an deren Stabilisierung der Westen sehr interessiert sein sollte. Dass Moskau in der Tat in geostrategischen Kategorien dachte, bestätigte selbstbewusst der damalige Gaz­prom-Chef Rem Wjachirew schon im Sommer 2000, wenige Monate nach dem Einzug Putins in den Kreml: „Wir werden eine Pipeline zur Umgehung der Ukraine bauen.“ Die zweitgrößte der ehemaligen Sowjetrepubliken sollte auf diese Weise um Milliarden Dollar aus den Transitgebühren gebracht werden, vor allem sollte Moskau mittelfristig dazu in der Lage sein, die Energieversorgung des Landes zu beschneiden.

Nach zähem Beginn kamen die Verhandlungen mit deutschen Energiekonzernen rasch zum Abschluss, nachdem dank der Orangenen Revolution 2004 in Kiew der bisherige prowestliche Oppositionsführer Viktor Juschtschenko neuer ukrainischer Präsident wurde und sogleich für die EU-Mitgliedschaft seines Landes warb. Noch als Oppositionsführer war Juschtschenko Opfer eines Giftanschlags geworden, den er nur knapp überlebte. Während der Untersuchung floh der Hauptverdächtige nach Russland. Die neue Regierungschefin Julia Timoschenko schickte sich an, den Energiesektor zu entflechten, den schwer zu durchschauende Firmenkonstruktionen russischer und ukrainischer Oligarchen dominierten. 

Für Polen der zweite Hitler-Stalin Pakt

Damit unterminierte die neue Führung in Kiew die Bestrebungen Putins, den Energiemarkt Mittel- und Osteuropas zu kontrollieren. Die Reaktion aus Moskau folgte prompt: Gazprom kündigte ohne Vorwarnung die Verträge mit Kiew, als Grund wurde angegeben, die Ukrainer zapften heimlich die Pipelines an. Unabhängige Experten klagten, dass die russische Seite ihnen eine Untersuchung erheblich erschwert habe; westliche Diplomaten nahmen an, dass es sich um eine – namentlich in Deutschland überaus erfolgreiche – Kampagne zur Diskreditierung Kiews handelte, Fake News.

Die Europäische Kommission handelte einen Kompromiss aus, der die Verdopplung des Gaspreises für die Ukraine vorsah. Der Konflikt war damit aber nicht gelöst, Moskau drehte immer wieder am Gashahn, das Ziel wurde nicht verheimlicht: die Übernahme des ukrainischen Pipeline-Netzes durch Gazprom. Juschtschenko schlug stattdessen ein Konsortium vor, an dem sich zu je einem Drittel Gazprom, die Ukraine sowie Konzerne aus der EU, allen voran deutsche, beteiligen sollten. Doch Außenminister Steinmeier stellte sich gegen diesen Vorschlag, der den Konflikt wohl dauerhaft entschärft hätte. Er bekräftigte stattdessen seine Parole „Annäherung durch Verflechtung“, gemeint waren gegenseitige Beteiligungen deutscher und russischer Konzerne. Damit überging Steinmeier Warnungen aus dem eigenen Ministerium: Die russischen Behörden seien korrupt, es fehle an einer unabhängigen Rechtsprechung, auf die sich Investoren verlassen könnten. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die als Oppositionsführerin noch Schröders Ostpolitik heftig kritisiert hatte, nickte dazu.

Radek Sikorski, damals Verteidigungsminister in Warschau, löste empörte Reaktionen in Berlin aus, als er 2006 das Pipeline-Projekt mit dem Hitler-Stalin-­Pakt verglich. Aus Berlin hörten die Polen, sie sollten endlich ihre Russophobie überwinden. Auch Steinmeier verortete das Problem in der polnischen Psyche: Über einen Emissär ließ er an der Weichsel den Vorschlag unterbreiten, dass die SPD das umstrittene Zentrum gegen Vertreibungen der CDU-Abgeordneten ­Erika Steinbach blockieren würde, falls Warschau sein Placet für Nord Stream gäbe. Doch die polnische Führung schlug stattdessen vor, die Europäische Kommission solle für alle EU-Staaten gemeinsam Verhandlungen mit den russischen Gas- und Ölkonzernen führen. Den Vorschlag unterstützte auch die französische Regierung, das Weiße Haus in Washington begrüßte ihn.

Schwäche für Russland

Steinmeier aber blockierte auch hier. Ihm schwebte eine Energie-OSZE vor – unter ausdrücklicher Einbeziehung Russlands. Die Berichte über zahlreiche Vertragsbrüche Moskaus etwa bei Gas- und Öllieferungen in die Nachbarländer konnten ihn nicht davon abbringen. Vergeblich wiesen ihn einige seiner Experten auf den Fall der litauischen Raffinerie Mazeikiu hin. Als diese 2006 zum Verkauf stand, konkurrierten der polnische Erdölkonzern Orlen und Russlands Lukoil um den Zuschlag. Während der Verhandlungen wurde die einzige nach Mazeikiu führende Ölpipeline wegen angeblicher Reparaturarbeiten von den Russen geschlossen, in der Raffinerie brach zudem ein Großbrand aus. Schon damals wurde vermutet, dass es sich um einen Anschlag der russischen Geheimdienste gehandelt habe – eine Version, die später von Wikileaks veröffentlichte Dokumente bestätigten.

Doch Orlen ließ sich davon nicht schrecken und erwarb die Anlage. Die Pipeline wurde daraufhin von den Russen vertragswidrig stillgelegt. Die Litauer reagierten mit dem Ausbau ihres Ölterminals, das seitdem Tanker aus dem Nahen Osten versorgt.
Sozialpolitisch stand Steinmeier für die Abkehr von SPD-Traditionen, wie sie unter Schröder mit der Agenda 2010 vollzogen wurde. Doch in der Außenpolitik gehörte er zu den Entspannungsnostalgikern, die in dem unter Willy Brandt ausgehandelten großen Erdgas-­Röhren-Geschäft ein Friedensprojekt sahen. Die Moskauer Akten über die Entspannungspolitik vor einem halben Jahrhundert ergeben indes ein gänzlich anderes Bild: Die Deviseneinnahmen Moskaus flossen zu einem beträchtlichen Teil in die Aufrüstung der Sowjetarmee. Die Friedenspolitik Brandts und auch des US-Präsidenten Jimmy Carter, den man im Politbüro als Schwächling ansah, ermunterte Moskau zu militärischen Interventionen in Äthiopien, Angola, Mosambik und schließlich 1979 zur Invasion Afghanistans

Nicht Entspannung sorgte für Sowjet-Ende

Der desillusionierte Carter bemühte sich vergeblich, Brandts Nachfolger Helmut Schmidt von der Notwendigkeit eines Wirtschaftsembargos zu überzeugen, um die sowjetische Expansion einzudämmen. Auch Carters Nachfolger Ronald Reagan stieß bei Schmidt auf Widerstand, als er nach der Verhängung des Kriegsrechts über Polen 1981 westliche Firmen, die am Bau sowjetischer Pipelines beteiligt waren, mit Sanktionen belegen wollte. Schmidt aber setzte auf den weiteren Ausbau der westdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Historiker sowohl aus den USA als auch den ehemaligen Ostblockstaaten werfen ihm deshalb heute vor, ungewollt die sowjetische Hochrüstung gefördert zu haben, die wiederum die Nato-Staaten dazu zwang, ihre eigenen Verteidigungsetats aufzustocken. 

Für die Implosion des Ostblocks haben die Geheimdienste Moskaus in ihren Analysen mehrere Hauptursachen angeführt, die Entspannungspolitik Willy Brandts gehört nicht dazu. Vielmehr waren es zuallererst die von Reagan durchgesetzte Nachrüstung der Nato und seine utopischen Militärprojekte, denen die Sowjetunion technologisch nichts entgegenzusetzen hatte, sowie die Übereinkunft zwischen den USA und Saudi-Arabien, den Weltmarkt mit Erdöl zu überschwemmen, um einen Preisverfall zu provozieren. 

Das Wegbrechen der Deviseneinnahmen beschleunigte den Absturz der sowjetischen Wirtschaft unter dem gescheiterten Reformer Michail Gorbatschow. Schließlich trug der Widerstand der vom polnischen Papst Johannes Paul II. beflügelten Gewerkschaft Solidarnosc zum Fall der Berliner Mauer bei. Kein Geringerer als Gorbatschow selbst hat dies so beschrieben. Doch in der deutschen Linken verschloss man sich der Erkenntnis, dass entscheidende Impulse dafür von ihren ideologischen Hauptgegnern ausgegangen sind, nämlich Reagan und Wojtyła.

Die Relevanz der Rohstoffe

Russlands Präsident Putin hat offenkundig sehr genau studiert, dass der Verlust der Kontrolle über den Rohstoffexport Anteil am Zerfall des Sowjetimperiums hatte. Wie sehr ihn das Thema umtreibt, belegt seine vermutlich nicht von ihm selbst verfasste Doktorarbeit, deren zentrales Kapitel dreist aus der russischen Übersetzung einer amerikanischen Studie plagiiert wurde: „Die strategische Planung der Wiederherstellung der Mineralrohstoffbasis“. Passagen des Textes haben westliche Experten als Anleitung für die politische Erpressung von Nachbarstaaten gelesen, die von russischen Rohstoffen abhängig sind. Im Auswärtigen Amt in Berlin hielt man diese Interpretation für abwegig, man erklärte, dass die russischen Konzerne immer zuverlässig ihre Verträge erfüllt hätten. Doch die Fakten waren andere: Bereits Michail Gorbat­schow hatte versucht, allerdings vergeblich, die Litauer mit einem Lieferstopp für Erdgas von ihrem Unabhängigkeitskurs abzubringen. Boris Jelzin brachte dagegen die Armenier, die sich zunächst Richtung Westen orientierten, nach einem eiskalten Winter wieder auf Linie und versuchte dasselbe, indes ohne Erfolg, bei den Georgiern. 

Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) folgte der Devise „Annäherung durch Verflechtung“  / Jonas Holthaus


Die deutsch-russische Kooperation hatte erhebliche Auswirkungen auf die Klimabilanz in Mitteleuropa: Da die Polen Steinmeier für naiv hielten und Moskauer Zusagen nicht trauten, setzten sie noch stärker auf Kohlestrom. Auch begannen die Planungen für das erste polnische Atomkraftwerk. Die Ukraine steigerte ebenfalls ihre Kohleförderung in den Jahren vor dem 2014 ausgebrochenen Krieg um den Donbass und modernisierte ihre AKW, die heute Ziel der russischen Invasoren geworden sind.

Realitätsresistenz bei Merkel und Steinmeier

Der russische Angriff auf die ost­ukrainischen Industriegebiete, den die Kreml-Propaganda als Aufstand einheimischer Separatisten tarnte, hatte die Bundesregierung ebenso überrascht wie die Annexion der Halbinsel Krim. Als die Gefechte in vollem Gang waren, äußerte Steinmeier im kleinen Kreis, dass er von den Russen persönlich schwer enttäuscht sei, Außenminister Sergej Law­row habe ihn bei Gesprächen über die Ukraine immer wieder belogen. Altgediente deutsche Diplomaten beschrieben in Privatgesprächen zwei grundsätzliche Probleme Steinmeiers: Auch bei Verhandlungen hinter verschlossenen Türen spreche er mitunter genauso verquast mit vielerlei bürokratischen Floskeln wie vor den Fernsehkameras, sodass seine Gesprächspartner nicht immer seine Absichten verstünden. Vor allem habe er die uralte Konstante der russischen Außenpolitik erst sehr spät begriffen: Verhandelt wird nur aus einer Position der Stärke, Kompromisse werden vermieden; stattdessen werden Konflikte angeheizt, wenn eine für den Kreml vorteilhafte Lösung nicht durchzusetzen ist. 

Eigentlich wäre der Tag, an dem Steinmeier von den Lügen Lawrows sprach, der Moment gewesen, die deutsche Ostpolitik völlig neu auszurichten. Doch das tat Steinmeier nicht. Er hielt an der Illusion fest, durch Gespräche die Politik Putins positiv beeinflussen zu können, ohne dabei über irgendwelche Druckmittel zu verfügen. Er wusste auch Angela Merkel hinter sich, die daran festhielt, dass das deutsch-russische Gasgeschäft die Sache privatwirtschaftlicher Unternehmen sei – eine kuriose Aussage, da Gazprom zweifelsfrei vom Kreml kontrolliert wird. 

So kam es, dass die Bundeskanzlerin sich einerseits für eher milde Sanktionen gegen einige russische Banken und Rohstoffkonzerne aussprach. Andererseits aber gab die Große Koalition in Berlin grünes Licht für Nord Stream 2, einen zweiten Strang der Pipeline durch die Ostsee. Faktisch bedeutete dies, dass die Sanktionen so gut wie keine Wirkung erzielten. Die russische Wirtschaft wuchs weiter, der deutsche Handel mit Russland erreichte 2021 ein Allzeithoch. Beim deutschen Gasimport wuchs der Anteil von Gazprom weiter, er machte zuletzt 55 Prozent aus. 

Verquere Überzeugungen

Die Bundesregierung vergrößerte damit ihre Abhängigkeit von Russland. Vergeblich hatte schon das Weiße Haus unter Barack Obama gewarnt: Putin finanziere nun, wie früher die Sowjetunion, mit den Einnahmen aus dem Rohstoffexport die Hochrüstung seiner Streitkräfte. Doch in Berlin sah man es anders. Steinmeier wies auch die Forderung zurück, die Genehmigung für den Bau von Nord Stream 2 von Fortschritten bei den Gesprächen über eine Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts abhängig zu machen. Er äußerte sogar öffentlich Zweifel an der Wirksamkeit der Sanktionen. In Moskau verstand man dies als Signal, dass die Bundesregierung die völkerrechtswidrige Annexion der Krim sowie die Besetzung von Teilen des Donbass hinnimmt.

In der Bundesrepublik fand Umfragen zufolge das Argument breite Zustimmung, dass die Amerikaner eine Kampagne gegen das russische Erdgas führten, weil sie ihr eigenes Fracking-Gas nach Europa verkaufen wollten. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft wartete gar mit der bizarren Botschaft auf, dass Deutschland durch Nord Stream 2 keineswegs noch mehr von Russland abhängig werde, vielmehr sei es genau umgekehrt: Moskau mache sich abhängiger von den Kunden, deshalb seien alle Warnungen vor politischen Risiken Unsinn.

Nur die Grünen klar dagegen

Dabei hatte Putin seine Absichten keineswegs verhehlt: 2021 erklärte er, dass Gazprom in Zukunft nur die Pipelines auf ukrainischem Territorium befüllen werde, falls Kiew zusichere, die Einnahmen aus den Transitgebühren nicht für die Landesverteidigung auszugeben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sah Putins Äußerung als Drohung an, in der Großen Koalition in Berlin aber überging man seine Warnungen.

Angesichts dieser vorherrschenden Stimmung fand auch Joschka Fischer mit seinen Warnungen vor den imperialen Ambitionen Putins kaum Gehör. Als Außenminister der rot-grünen Koalition hatte er allerdings keine Einwände gegen Schröders Russlandpolitik geäußert. Nach dem Ende seiner Karriere als politischer Amtsträger wurde er Lobbyist für die mit Gazprom konkurrierende Nabucco-Pipeline, die von Aserbeidschan über die Türkei und den Balkan nach Mitteleuropa führen sollte. In der Strombranche sorgten mehrere ungeklärte Todesfälle unter Politikern aus den Balkanländern, die für Nabucco eintraten, für Aufsehen, die russischen Geheimdienste wurden dahinter vermutet. Das Projekt scheiterte letztlich.

Unter den Parteien im Bundestag bezogen lediglich die Grünen klar Stellung gegen Nord Stream 2. Ihre Argumentation war moralisch: In Russland würden Menschenrechte massiv verletzt, Pressefreiheit und unabhängige Justiz existierten nicht, sexuelle Minderheiten würden verfolgt, auf Regimekritiker wie Alexander Nawalny sogar Mordanschläge verübt, die russische Luftwaffe habe in Syrien Wohnviertel gezielt bombardiert. Also müsse die Finanzierung des russischen Repressions- und Militärapparats durch den Rohstoffexport spürbar beschnitten werden.

Katastrophale Klimabilanz

Keine Rolle in der deutschen Debatte spielten dagegen die ökologischen Verwüstungen in den Fördergebieten in Sibirien, wo Unmengen an giftigen Gasen abgefackelt werden und aus undichten Pipelines entweichen. Umweltexperten führen an, dass die Einbeziehung dieser großen Mengen an Methan und anderen Schadstoffen in die Berechnungen der Klimabilanz das sibirische Erdgas in die Nähe der europäischen Steinkohle rücken würde. Russische Ingenieure haben ausgerechnet, dass die Investitionen für Nord Stream gereicht hätten, die bestehenden Pipelines zu modernisieren und zu erweitern. Russland führt laut der UN-Umweltbehörde Unep die Liste der Methan-Sünder an, obwohl seine gesamte Wirtschaftsleistung nur etwa ein Zwölftel der amerikanischen beträgt. 

Da Moskau den Löwenanteil seines Erdgases für Devisen vor allem an die Deutschen und die Chinesen verkauft, werden immer mehr Kohlekraftwerke gebaut. Kohle macht fast zwei Drittel im russischen Energiemix aus. Die nationale „Kohlestrategie 2035“ sieht eine Steigerung der Produktion um rund 50 Prozent vor. Je mehr russisches Gas nach Deutschland gepumpt wird, desto mehr steigt also CO2 aus der Kohleverfeuerung über der Taiga auf. Die Ökobilanz des deutsch-russischen Erdgasgeschäfts ist somit verheerend. Wind und Sonne machen dagegen ganze 0,15 Prozent im Energiemix des Riesenlands aus.

Merkels „größter Fehler“

Der russische Dienst für Hydrometeorologie sieht durchaus Vorteile in dieser Bilanz: Der Klimawandel erleichtere die Förderung von Erdgas und Erdöl in den arktischen Regionen. Putin malte sogar das Bild von neuen Hafenstädten im Norden, weil die Meerespassage entlang der Küste Sibiriens fast das ganze Jahr schiffbar sein werde und die Route von Europa nach Ostasien sich so erheblich verkürze. Auch aus einem anderen Grund unternimmt er wenig Anstrengungen, die Energiepolitik des Kreml zu ändern: Mit den Devisen aus dem Rohstoffexport finanziert er die Aufrüstung, in seinen Augen eine unabdingbare Voraussetzung für die Realisierung seines Traumes vom russischen Imperium.

Auch in Berlin sind all diese Daten und Fakten seit langem bekannt. Sie haben Steinmeier nicht davon abgehalten, hinter Nord Stream 2 zu stehen. Mittlerweile zum Bundespräsidenten gewählt, erklärte er zwar auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020: „Russland hat militärische Gewalt und gewaltsame Verschiebung von Grenzen auf dem europäischen Kontinent wieder zum Mittel von Politik gemacht.“ Doch dass Nord Stream 2 eine Rolle bei den Moskauer Plänen spielt, kam ihm wohl nicht in den Sinn. So rechtfertigte er im vergangenen Jahr die Vollendung der umstrittenen Pipeline mit den 20 Millionen Toten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs und übersah dabei, dass ja mehrere Millionen davon Ukrainer waren, gegen deren Nachkommen Putin seit acht Jahren Krieg führt.

In den Augen der Verbündeten im Westen hat der wirtschaftspolitische Egoismus der Deutschen, die sich über alle Einwände hinweggesetzt haben, Putin den Weg für seine aggressive Politik geebnet. Donald Tusk, der frühere Ratspräsident der EU und Duzfreund Angela Merkels, bemerkte dazu lakonisch: „Nord Stream war ihr größter Fehler.“ Ihr Vorgänger Schröder hofft indes, wie ehemalige Gefolgsleute vermuten, dass seine Rolle noch nicht ausgespielt sei. Sollte in Deutschland die Stimmung kippen, weil die Heizkosten explodieren, so könnte er als Vermittler mit Draht zu Putin wieder gefragt sein. Dann könnte wieder Schröders große Stunde schlagen.

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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