Virtuelles Studium durch Corona - Vom einsamen Lernen an der digitalen Uni 

In der Coronakrise stellten die deutschen Hochschulen auf virtuelle Lehre um. Auch im Wintersemester könnte es so bleiben. Dabei zeigt sich schon jetzt, dass die digitale Lehre gerade die schlimmsten Seiten der Bologna-Reformen zum Vorschein bringen kann. 

Die Hörsäle sind leer – wird das auch im nächsten Semester so bleiben? / dpa
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Tobias Maydl ist Student und freier Journalist.

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Seit April befinden sich Studierende hierzulande im virtuellen Sommersemester und auch wenn hinsichtlich der digitalen Umrüstung vieles bislang besser als erwartet lief, sollte man nach rund zwei Monaten die Frage stellen: Macht die digitale Uni intelligenter? Damit soll nicht gemeint sein, ob man genug Wissen verabreicht bekommt, sondern, ob „intelligente Settings“ entstehen. Gibt es in der digitalen Uni ein Umfeld, in dem man seine Intelligenz trainieren kann an ergebnisoffenen Problemen, zusammen mit den unterschiedlichsten Menschen? 

Die Antwort dürfte ernüchternd ausfallen – insbesondere für geistes- und sozialwissenschaftliche Studiengänge. Digitale Lehre nämlich birgt gerade hier das Risiko, die schlimmsten Seiten der Hochschullehre zum Vorschein zu bringen, die man für gewöhnlich mit den Bologna-Reformen verbindet: Verschulung, Banalisierung und mangelhafte Betreuung. Und sie werden relevanter noch vor dem Hintergrund, dass manche Unis auch im Wintersemester digital weitermachen wollen oder dies erwägen. In einem offenen Brief warnten 2.000 Professoren und Dozenten unlängst vor neuen Einsparrunden und dem Glauben, die Präsenzlehre könne dank Digitalisierung einfach wegrationalisiert werden. Was steht also auf dem Spiel?

Lernen wird zunehmend fremdbestimmt

Beginnen wir mit dem Risiko der Verschulung. Das kann man überall dort beobachten, wo sich Dozenten für das sogenannte asynchrone Lernen entscheiden – was leider die Regel zu sein scheint. Wo Vorlesungen und Seminare früher synchron, also gemeinsam zu einem festgelegten Termin abgehalten wurden unter Anwesenheit aller Teilnehmer, wird man nun in die Diaspora selbstbestimmten Lernens geschickt. Jede Woche flattern Arbeitsaufträge ins Studentenzimmer, meistens liest man einen Text und beantwortet schriftlich Fragen dazu, deren Antworten man dann bis zum Wochenende einreichen muss. Fehlende Präsenz soll also durch „selbstbestimmtes Lernen“ kompensiert werden. In der Theorie ist das mit Begriffen wie Lernerautonomie und Flexibilität verbunden, in der digitalen Praxis jedoch dürfte es sich oftmals wie reine Fremdbestimmung anfühlen. 

In puncto Arbeitsaufträgen herrscht nämlich selten Ebbe. Kaum ist der eine erledigt, spült es den nächsten an. Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Es geht nicht darum, fauler sein zu dürfen, sondern darum, sich Freiräume beim Lernen offen zu halten, also gerade selbstbestimmt lernen zu dürfen. So war der Gang zur Vorlesung früher meist ein ganz pragmatischer Akt. Hatte der Dozent etwas zu sagen, ging man regelmäßig hin, war die Powerpoint hingegen spannender als der Referent, erschien man erst wieder zum Klausurtermin. In der Zwischenzeit las man ein Buch und ein paar Aufsätze zum Thema und war auf wundersame Weise meist übervorbereitet für die Klausuren. Woche um Woche hagelt es nun jedoch Arbeitsaufträge und zum Lesen weiterführender Literatur fehlt einem die Energie. 

Mangelnde Betreuung

Das zweite Risiko, das der Banalisierung, hängt mit dem ersten zusammen: Es greift zu oft das Gefühl um sich, als würde man Dinge tun, die eigentlich sinnlos sind. Aufgaben, die nicht um der Lösung eines Problems willen gestellt werden, sondern eher wie eine Beschäftigungstherapie wirken oder einem Kontrollbedürfnis des Dozenten zu entspringen scheinen – der Student könnte ja faulenzen und sich Leistungen ergaunern. Darunter fallen dann Fragen, die sich auf reine Textverständnis und Reproduktion von Wissen beziehen oder Reflexionsorgien verlangen: Wie erging es einem beim Lösen der Aufgabe? 

Man muss dazu sagen, dass es durchaus Arbeitsaufträge gibt, die vollkommen angebracht sind: Matheaufgaben, Übungen zum Codieren in der Informatik und Statistik oder Statements zum siebten Buch von Platons Politeia. Transfer- oder Deutungsfragen also, die zeigen, dass man Wissen anwenden, einordnen und überhaupt erst gewinnen kann. Das wären dann Aufgaben, bei denen auch tatsächlich ein würdiges Problem zugrunde läge. 

Das letzte und gravierendste Risiko schließlich ist das einer mangelnden Betreuung. Das war vor der Coronakrise mancherorts schon ein Problem, jetzt kann es allerdings noch drastischer kommen, nämlich als Risiko eines kompletten Interaktionsverlusts. Im asynchronen Lernen wird einem von Dozentenseite zwar versichert, die digitale Office-Tür stünde immer offen, jedoch ist das wohl kaum ein adäquater Ersatz fürs Kennenlernen interessanter Menschen vor dem Kurs, für spontane Diskussionen im Kurs oder informelle Gespräche mit dem Dozenten nach dem Kurs. Ebenso verhält es sich mit den digitalen Diskussionsforen. Entweder sie verwaisen komplett, oder aber, wenn Diskussion und Interaktion benotet werden, geraten sie zu einer reinen Simulation von Diskussion, bei der jeder pflichtschuldig seinen Beitrag postet.  

Die Uni droht zur Einsiedelei zu werden

Zugegeben, Studieren an sich galt immer schon als eine eher einsame Tätigkeit, trotz Teamwork und Netzwerken. Jetzt jedoch droht sie geradewegs ins Eremitentum zu führen. Dabei zeigen Studien, dass es insbesondere die soziale Interaktion in der Lehre ist, die den stärksten Einfluss auf die Leistungen von Studierenden hat. Gerade Studenten im ersten Semester oder solche aus sozial benachteiligten Gruppen dürften besonders unter dem Interaktionsverlust leiden. Dabei gehen Möglichkeiten verloren, unkompliziert nachzufragen oder von seinen Dozenten als akademische Role Models zu lernen. Das betrifft auch mündliche Kompetenzen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob man seine Gedanken zu Papier bringt oder ob man Denken und Sprechen improvisieren muss vor oder mit anderen Menschen. Dieses „Sprechdenken“, was als Herausforderung oft unterschätzt wird, wird beim asynchronen Lernen komplett vernachlässigt. Man sieht es nicht mehr an anderen und übt es nicht an sich selbst.

Derweil bieten Online-Kurse auch Chancen: Vorlesungen können gerne weiterhin aufgezeichnet werden, damit man sie jederzeit nochmal ansehen kann. Auch muss Interaktion trotz Digitalsemester nicht einmal ganz verschwinden. Es gibt sie dann ja doch, die wenigen Seminare, die synchron über einen Videochat laufen unter Anwesenheit des ganzen Kurses. Solange die Gruppen dort nicht zu groß werden, Dozenten Diskussionen ermuntern und Powerpoint-Präsentationen sinnvoll eingesetzt werden, fühlt sich die digitale Lehre dort auf einmal fast analog an. 

Keine guten Aussichten für den digitalen Winter

Die drei Risiken der virtuellen Uni, vor allem aber des asynchronen Lernens, lassen sich also wie folgt zusammenfassen: Das Lernen im Online-Semester hat das Zeug dazu, verschulter, banaler und einsamer zu sein als je zuvor. Das Bildungsziel scheint jetzt oftmals nur das widerstandslose Erledigen von fragwürdigen Arbeitsaufträgen im Akkord zu sein. Die Motivation bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Und ein weiteres Problem tut sich auf: Es gibt zu oft einfach kein Problem – zumindest kein echtes, mit offenem und unsicherem Ausgang, das interessant wäre zu lösen oder auszuleuchten. Kein Wunder, dass kaum jemand Fragen oder Anregungen hat, die man ja jederzeit im Chat-Forum der jeweiligen Kurse posten könnte. Das ist ein Umfeld, in dem Problemlösungskompetenz, Motivation und ein produktives Miteinander kaum gedeihen können.

Sollte das Digitalsemester wirklich flächendeckend in die Winterverlängerung gehen, dann sollten die geschilderten Risiken gebannt werden: Arbeitsaufträge sollten eingedämmt und kreativer gestaltet werden – oder zumindest daraufhin überprüft werden, ob sie sinnvoll sind. Im Zweifel sollte man auf gemeinsames Lernen setzen, damit offene Diskussionen dort wieder möglich werden, wo sie bislang aus gutem Grund zentraler Bestandteil waren. Für viele Studenten bedeutete ein digitaler Winter sonst nämlich keine guten Aussichten.

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