Corona-Wiederaufbaufonds - Die bedauerliche Naivität des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass sich die Europäische Union mit 750 Milliarden Euro verschulden durfte, um den sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds zu finanzieren. Mit einem Winkeladvokaten würdigen Kunstgriff wird die Tür für die Verschuldung der EU weit aufgestoßen.

Doris König, Vorsitzende des Zweiten Senat beim Bundesverfassungsgericht, verkündet das Urteil zu milliardenschweren EU-Corona-Fonds / dpa
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Bernd Lucke war Mitbegründer und Vorsitzender der AfD, deren marktwirtschaftlichen und liberalen Flügel er bis zu seiner Abwahl im Juli 2015 vertrat. Nach seinem Austritt aus der AfD gründete der 58 Jahre alte Wirtschaftsprofessor die Partei Alfa heute Liberal-Konservative Reformer , für die er bis 2019 im EU-Parlament saß. Lucke lehrt Makroökonomie an der Universität Hamburg.

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Das höchste deutsche Gericht hat entschieden: Die EU durfte sich mit 750 Milliarden Euro verschulden, um den sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ (NGEU) zu finanzieren. Widerspruch kam nur in einem Sondervotum des Verfassungsrichters Peter Müller, der seinen Richterkollegen vorwirft, ohne die erforderliche rechtliche Grundlage „den Einstieg in eine dauerhafte und grundlegende Änderung der europäischen Finanzarchitektur“ hinzunehmen.

Und in der Tat: Wie das Gericht in seiner Urteilsbegründung einräumt, sehen die EU-Verträge keine Ermächtigung der EU zur Aufnahme von Krediten vor. Deshalb sei die rechtswissenschaftliche Literatur bislang überwiegend von einem allgemeinen Verschuldungsverbot für die Europäische Union ausgegangen. Dieselbe Meinung hätten bislang auch die EU-Institutionen vertreten.

Jetzt muss man innehalten: Warum erlauben die EU-Verträge keine Kreditaufnahme der EU? Der Grund ist einfach: Die Schulden der EU sind letztlich Schulden ihrer Mitgliedsstaaten, die der EU die Mittel für Zins und Tilgung zur Verfügung stellen müssen. Viele Mitgliedsstaaten aber sind überschuldet, ihre Schuldenstände sind höher als die vertraglich vorgesehene Obergrenze von 60 Prozent des BIPs. Eigentlich müssten sie ihre Schulden reduzieren. Durch Aufnahme von EU-Schulden geschieht faktisch das Gegenteil. Sie untergraben die vereinbarte Schuldenbegrenzung.

Eine kreative Interpretation der Verträge

Das Bundesverfassungsgericht hat die EU-Verschuldung nun zugelassen – deswegen wirft Richter Müller ihm eine grundlegende Änderung der europäischen Finanzarchitektur vor. Zwar, so führt das Bundesverfassungsgericht aus, gebe es in der Tat in den EU-Verträgen ein „allgemeines“ Verschuldungsverbot. Aber es gebe kein „absolutes“ Verschuldungsverbot. Und mit diesem eines Winkeladvokaten würdigen Kunstgriffs wird die Tür für die Verschuldung der EU weit aufgestoßen.
 

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Hinter der spitzfindigen Unterscheidung zwischen „allgemein“ und „absolut“ steckt folgende Idee: Im Allgemeinen gälte für die EU in der Tat ein Verschuldungsverbot und deshalb dürfe der Haushalt der EU keinesfalls durch Kreditaufnahme finanziert werden. Aber in bestimmten Ausnahmesituationen (Naturkatastrophen, Pandemien z. B.) müsse man auch Schulden aufnehmen dürfen. Das klingt durchaus vernünftig. Es bedarf allerdings einer kreativen Interpretation der Verträge, um diese Ausnahmegenehmigung aus ihnen herauszulesen.

Jedenfalls haben die Karlsruher Richter die Tür geöffnet. Vielleicht wollten sie sie nur einen Spaltbreit öffnen. Denn gleich versuchen sie, sie zu begrenzen: Nur „ausnahmsweise“ sei Verschuldung zulässig, nur außerhalb des regulären Haushalts, nur mit Zweckbindung, nur zeitlich begrenzt und nur in begrenztem Volumen. Doch wenn eine Tür auf ist, ist sie auf. Und mit diesen von Richter Müller öffentlich als „untauglich“ gebrandmarkten Kriterien ist sie sperrangelweit offen.

Verbotene Kreditfinanzierung

Warum sind die Kriterien untauglich? Weil sie inhaltsleer sind. Man kann alles zur „Ausnahme“ erklären: Corona, die Ukraine, die Energieversorgung, das Klima, die Arbeitslosigkeit, China, den Protektionismus der USA. Und was heißt schon „zeitlich begrenzt“? Staatsschulden sind immer begrenzt: Auf zehn Jahre, auf 30, auf 50 Jahre. Irgendwann müssen sie zurückgezahlt werden. Faktisch werden sie dann aber nur durch neue Staatsschulden ersetzt. 

Die Richter wollen das Volumen der Neuverschuldung begrenzen: Nicht mehr als die Eigenmittel, die der EU zur Verfügung stehen. Dummerweise sind die NGEU-Schulden aber sowohl im Haushaltsjahr 2021 als auch im Haushaltsjahr 2022 doppelt so hoch wie die Eigenmittel. Deshalb schwächen die Richter flugs ihr eigenes Kriterium ab: Es komme nicht auf das Haushaltsjahr an. Man könne die Betrachtung auch zeitlich strecken, z. B. auf die siebenjährige Finanzplanung.

Dann wird eine Zweckbindung verlangt. Wie ernst die zu nehmen ist, wird umgehend an der Beurteilung des Corona-Fonds verdeutlicht: Der soll die Folgen der Pandemie bekämpfen. Da würde man an ein Stützungsprogramm für das Gastgewerbe denken oder eine Bildungsinitiative für Schulkinder. Tatsächlich wird das meiste Geld aber für Klimaschutz ausgegeben und das Klima hat, wie die Richter einräumen, mit Corona nichts zu tun. Auch fließen 10 Prozent des Geldes in Programme, die es schon vor Corona gab und dienen so der verbotenen Kreditfinanzierung normaler Haushaltsausgaben. Aber die Richter äußern nur ihre Bedenken und geben ansonsten grünes Licht. Es sei „nicht offensichtlich“, dass gegen das Zweckbindungskriterium verstoßen werde.

Immer neue Schattenhaushalte

Schließlich: Nur Programme außerhalb des regulären Haushalts dürfen kreditfinanziert werden. Damit ermutigen die Richter zur Bildung von immer neuen Schattenhaushalten, wie sie auch in Deutschland gerade en vogue sind. Der reguläre EU-Haushalt bedarf der Zustimmung des EU-Parlaments, die Schattenhaushalte nicht. Man muss den Verfassungsrichtern vorwerfen, dass sie die demokratische Kontrolle reduzieren.

Die EU-Kommission wird jetzt eifrig einen Schattenhaushalt nach dem anderen entwerfen und sie selbst erdachten Ausnahmetatbeständen zuordnen. Da die Schulden das Ausmaß der Eigenmittel erreichen dürfen, kann die EU im Prinzip ihre Ausgaben verdoppeln und die Hälfte davon durch Schuldenaufnahme finanzieren. Hat das Bundesverfassungsgericht wirklich geglaubt, es könne mit seinen windelweichen Kriterien das „allgemeine“ Verschuldungsverbot der EU aufrechterhalten? Können Verfassungsrichter wirklich so naiv sein? 

Hinweis: Der Autor war unter den Klägern gegen die EU-Verschuldung für den Corona-Wiederaufbaufonds.

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