Impfstoff gegen SARS-CoV-2 - Die weltweite Jagd nach dem Corona-Serum

Die Bundesregierung will sich an der Impfstoff-Firma Curevac beteiligen. Schon in einem Jahr soll es einen Corona-Impfstoff geben – die Entwicklung läuft auf Hochtouren. Nie gab es dafür so viel Geld, noch nie wurde so schnell gehandelt wie beim Kampf gegen dieses Virus. Trotzdem bleiben Zweifel und Risiken.

The winner takes it all: Weltweit hat eine beispiellose Rallye begonnen / picture alliance
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Susanne Donner ist freie Journalistin und schreibt zu Themen aus Medizin, Gesellschaft und Ökonomie.

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Veronika Siebmüller (Name geändert) fuhr gern in ihrem Rollstuhl zum Blumenladen, um sich dort einen schönen Strauß zu kaufen. „Einmal am Tag muss man raus, sonst wird man doch verrückt“, sagte sie immer. Aber seit den Ausgangsbeschränkungen hat kein Nachbar die 88-Jährige mehr gesehen. Sie macht nicht auf, wenn es klingelt. Nur an der Margeritenpflanze auf ihrem Balkon kann man erkennen, dass die alte Frau noch am Leben sein muss. Veronika Siebmüllers Welt beschränkt sich auf 60 Quadratmeter, bis es einen Impfstoff gibt.

Viele Menschen führen seit dem Corona-Ausbruch in Deutschland ein anderes Dasein. Wie Siebmüller würden sie gerne zurück zur Normalität. Aber aus Angst vor einer Infektion geht das nicht. Die meisten Politiker sehen das ähnlich; normal könne das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben erst mit einem Impfstoff wieder werden. „Die Pandemie wird nicht verschwinden, bis wir diesen haben“, glaubt auch Angela Merkel, und ein solcher Impfstoff müsse für alle da sein, forderte die Kanzlerin bei einer Geberkonferenz der EU Anfang Mai in Brüssel. Ende nächsten Jahres könnte es so weit sein, so die Hoffnung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. 

Ein Impfstoff als Fixpunkt im Jahr 2021, als Retter der coronagegeißelten Menschheit – so erscheint es derzeit. Denn alle bisherigen Maßnahmen, vom Abstandhalten über Mundschutz bis zur Beschränkung der Sozialkontakte, dämmen zwar die Ausbreitung des Virus ein. Aber sie bieten keinen 100-prozentigen Schutz und sind für bestimmte Szenarien auch nicht wissenschaftlich evaluiert. Also geht es dabei politisch um ein Herantasten und immer neues Abwägen auf Basis von Expertise und Vertrauen. Das bedeutet auch für die bevorstehenden Wochen und Monate – und gerade aus Furcht vor einer zweiten Infektionswelle – ein Leben mit angezogener Handbremse: weniger Handel, kaum Tourismus, kaum Gastronomie, vom Kulturbetrieb ganz zu schweigen. Auch Schulen und Kitas bleiben im Ausnahmezustand, verbunden mit entsprechenden Belastungen für die Eltern. Die Aussicht auf einen Impfstoff wirkt da wie die baldige Erlösung aus der Corona-Falle. Aber ist sie überhaupt plausibel? 

Einen solchen Geldregen gab es noch nie

Noch nie in der Medizingeschichte gab es eine solche Rallye: 115 Teams weltweit arbeiten laut Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) an einem Impfstoff. „Sonst kümmert sich nie mehr als eine einstellige Zahl von Firmen um eine Krankheit“, sagt Ralf Hömke, VfA-Sprecher für den Bereich Forschung und Medizin. Hochschulen, Start-ups, kleine innovative Unternehmen und erfahrene Impfgiganten engagieren sich; der größte Impfstoffhersteller Serum Institute of India ist ebenso dabei wie Glaxo-Smith-Kline, Sanofi und Novartis, Janssen und Pfizer. In Deutschland bekam der Krebsspezialist Biontech Anfang Mai als Erster grünes Licht für eine klinische Studie. Curevac sorgte mit seinem Impfansatz schon im März für Schlagzeilen, als es hieß, die amerikanische Regierung habe dem Tübinger Unternehmen ein Übernahmeangebot unterbreitet. Das wurde von Curevac später zwar dementiert, aber das Rampenlicht war gesetzt. 

Noch nie wurde für eine Impfung gegen nur eine Krankheit so enorm viel Geld bewegt. Viele Projekte bekommen nun Förderungen in Millionenhöhe. Insbesondere die Organisation Cepi – Coalition for Epidemic Preparedness Innovations – finanziert die Bemühungen. Sie ist 2017 aus der Bill und Melinda Gates Foundation hervorgegangen. Bisher hat sie bereits mehr als eine Milliarde US-Dollar weltweit eingesammelt. Zehn Teams haben bis dato 446 Millionen Dollar an Förderung für einen Impfstoff bekommen. Viele Regierungen, darunter in Deutschland, Frankreich, in der Schweiz, den Niederlanden, aber auch die Europäische Kommission stellten Cepi zwei- bis dreistellige Millionenbeträge bereit. Bei der internationalen Geberkonferenz der EU in Brüssel wurden Anfang Mai nochmals 7,4 Milliarden Euro zugesagt, wovon vier Milliarden in die Impfstoffentwicklung gehen sollen. Die USA haben zusätzlich mit der Barda, einem Büro des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums, eine eigene Institution, die Impfstoffentwicklung bis zum Aufbau der Produktion direkt finanziert. Ein Pendant dazu gibt es in Europa nicht.

Ein derartiger Geldregen ist für Impfstoff­entwicklungen völlig unüblich. „Grundsätzlich haben große Impfstoffhersteller immer auch selbst die finanziellen Ressourcen, um Impfstoffentwicklungen durchzuführen“, sagt Ralf Hömke. Rund eine Milliarde Euro kostet die Entwicklung eines Impfstoffs normalerweise. Großzügige finanzielle Förderung soll nun aber wie Sprit bei der bevorstehenden Rallye wirken, die Teams sollen viel schneller als je zuvor die Ziellinie passieren.

„Da muss alles glattgehen“

Tatsächlich ist das gewünschte Tempo die eigentliche Herausforderung. Die Organisation Cepi formulierte als Ziel 100 Millionen Impfdosen in zwölf bis 18 Monaten. Gewöhnlich dauert es ungefähr zehn Jahre, bis ein Impfstoff aus dem Labor in die Apotheken kommt. Nach der Ebola-Epidemie von 2014 bis 2016 unternahm die Weltgemeinschaft aber schon einmal die Anstrengung, schneller zu sein. „Es brauchte in diesem Fall vier bis fünf Jahre“, sagt der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek. „Dieses Mal wird es noch schneller gehen.“ Aber 2021?

Momentan sind acht Impfstoffe in die erste klinische Studie eingetreten. Das heißt, sie werden erstmals an Menschen getestet, und zwar zunächst an ungefähr 100 Probanden vorrangig auf Sicherheit und Verträglichkeit. Daran schließt sich im besten Fall die zweite Phase der klinischen Prüfung an. Dabei loten die Forscher aus, ob sich ausreichend Abwehrkräfte aufbauen und welche Dosis dafür erforderlich ist. Es folgt die aufwendige klinische Phase III. Darin wird an oft mehr als 3000, manchmal sogar an über 10 000 Freiwilligen die Wirksamkeit des Impfstoffs gegenüber einem Placebo geprüft. Dann erst kann der Hersteller die Zulassung beantragen, über die in der Europäischen Arzneimittelbehörde im schnellsten Durchlauf frühestens nach 150 Tagen entschieden wird.

Am Ende dieser Strecke können schließlich Produktion und Vermarktung begonnen und Kapazitäten ausgebaut werden. 
„Ein Impfstoff für die breite Bevölkerung ist selbst für Ende 2021 noch ambitioniert, da muss alles glattgehen“, sagt Bernd Ziegler, spezialisiert auf den Bereich Pharma und Impfstoffe bei der internationalen Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group. Solch ein Datum setze ein nie da gewesenes Tempo voraus. Denkbar sei, dass ein Impfstoff unter Auflagen – weil weitere Daten für eine Zulassung in der Breite fehlen – schon vorher für bestimmte Personen, etwa medizinisches Personal, vorhanden ist.

So schnell zu sein wie nie zuvor, bedeutet: manches so zu machen wie nie zuvor. Pharma­riesen wie Glaxo-Smith-Kline haben angekündigt, bereits Produktionskapazitäten auszubauen und zu reservieren – wohl gemerkt, ohne dass auch nur klar ist, ob und welcher Impfstoff in jener Anlage dann eines Tages produziert wird. Das deutsche Unternehmen Richter-Helm Biologics stellt nach eigenen Angaben seit diesem Mai den Impfstoffkandidaten für die klinische Phase III im Auftrag des amerikanischen Unternehmens Inovio her. Ino­vio hat aber die Phase I noch nicht einmal abgeschlossen. Wenn diese Studie scheitert, war alles umsonst. Große Unternehmen mit guter Finanzdecke bestellen auch in normalen Zeiten Produktionskapazitäten oft auf Verdacht, um schnell zu sein, kleinere Unternehmen wie Inovio können das nun wegen der üppigen Förderung. Die Produktion vorbereiten, ehe überhaupt ein Produkt da ist; herstellen, ehe überhaupt eine Genehmigung vorliegt: „Parallelisieren“ heißt das in der Branche. Parallelisieren ist der Booster in der Rallye. Aber alles auf einmal zu tun, ist riskant und teuer. Denn wer schon diverse Motorwechsel organisiert, ehe der Wagen überhaupt im Rennen ist, macht absehbar vieles umsonst.

Argumente aus normalen Zeiten gelten nicht mehr

Alle Teams und auch die Behörden versuchen Schritte nun vorzuziehen, die mitunter nacheinander folgen. Das Paul-Ehrlich-Institut etwa bietet den Unternehmen Gespräche über das Design der klinischen Studien am Menschen an, wenn diese noch an Tieren forschen. „Wir sprechen auch selbst Akteure an, die an Impfstoffentwicklungen zu Covid-19 forschen, was in diesem Ausmaß einmalig ist – wir haben Priorität für Covid-19 eingeräumt“, sagt Cichutek. Eine Behörde streckt in diesen Zeiten die Hand nach der Wirtschaft aus. Auch kann der Zulassungsantrag schrittweise in Paketen abgeschickt werden. Hersteller müssen nicht erst warten, bis sie alle Unterlagen beisammenhaben. „Das hilft enorm“, urteilt Hömke vom Verband forschender Arzneimittelhersteller. 

Aber dem Parallelisieren sind Grenzen gesetzt. „Wenn die Unternehmen noch in der Phase I sind wie momentan, ändert sich oft sogar noch die Struktur des Impfstoffs. Da können wir nicht sinnhaft über das Design der Phase III sprechen“, stellt Cichutek klar. Auch soll es keine Abstriche bei den Anforderungen an die Prüfungen geben, betont er. Der Nutzen müsse das Risiko überwiegen, und gerade ein Impfstoff, der Gesunden verabreicht werde, dürfe keine unvertretbaren Nebenwirkungen haben. Dennoch bekunden alle Gesprächspartner aus der Industrie, sie erwarteten, dass die Zulassungsbehörden nun „offen“, „aufgeschlossen“ und „entgegenkommend“ handeln würden. In den Vereinigten Staaten etwa erhielt das Unternehmen Moderna grünes Licht für die klinische Studie der Phase I, ohne dass es die sonst erforderlichen Tierversuche vorgelegt hat. Der Impfstoffkandidat sei ähnlich zu bereits an Tieren getesteten Substanzen, hieß es dazu. In normalen Zeiten hätte man diese Argumentation kaum gelten lassen.

Die Rallye kennt nur eine Handvoll Gewinner

Parallelisieren bedeutet, viel Personal auf die Karte „Corona“ zu setzen und viel Geld in kurzer Zeit auszugeben. Aber die hohen staatlichen und institutionellen Förderungen sichern dieses Vabanquespiel ab. Und um das finanzielle Risiko zusätzlich auszutarieren und überhaupt die erforderlichen Produktionsmengen erreichen zu können, schließen sich die meisten Akteure zudem mit großen Unternehmen zu Konsortien zusammen. Denn ein kleineres Einzelunternehmen ist nicht in der Lage, die Produktionskapazität für Millionen Impfdosen in kurzer Zeit auf die Beine zu stellen. Seit April und Mai vermelden die Akteure fast wöchentlich neue Zusammenschlüsse, eine wichtige Vorbereitung für die Rallye. Trotzdem existieren in diesem Rennen für einzelne Teams immer noch viele Unbekannte und Gefahren des Scheiterns. 

Denn erstens werden von den 115 Beteiligten nur wenige gewinnen. Diejenigen, die als Erste Impfstoffe in großen Dosen produzieren, teilen den Markt unter sich auf. Weil die Nachfrage, zumindest nach gegenwärtigem Stand der Pandemie, groß sein wird, dürften durchaus mehrere Impfstoffe über die Zielgerade gehen. Das wird von den Behörden und Regierungen sogar regelrecht eingefordert. Wer aber als Sechster, Siebter oder Achter die Ziellinie passiert, kommt zu spät und gehört mit allen anderen zu den Verlierern. 

Verschwindet das Virus von allein?

Zweitens flaut die SARS-CoV2-Welle in Asien und der EU gegenwärtig ab. Niemand kann genau sagen, warum – zumal die ergriffenen Maßnahmen von Land zu Land durchaus unterschiedlich sind. Der Vorgänger des aktuell im Umlauf befindlichen Coronavirus, der Erreger der Sars-Epidemie, verschwand von selbst wieder. Könnte auch SARS-CoV2 einfach wieder abtauchen? Da es sich direkt von Mensch zu Mensch überträgt, jeder Infizierte ohne Beschränkungen gewöhnlich bis zu drei weitere Personen ansteckt, glauben etliche Infektionsforscher nicht daran.

Klaus Cichutek, Direktor des Paul-Ehrlich-Instituts, ist da vorsichtiger: „Keine Aussage, das kann niemand wissen!“ Das Abflauen der Infektionswelle wäre zwar eine gute Nachricht für die Menschheit. Klinische Studien und damit die Impfstoffentwicklung würden dadurch allerdings erschwert. Die Industrie nämlich hat in der Vergangenheit alle 22 Impfstoffentwicklungen gegen Sars eingestellt, als keine Infektionen mehr auftraten. „Wir wollen mehrere Impfstoffe bis zur Zulassung entwickeln. Dann haben wir gute Vorarbeiten, um beim Auftreten einer neuen Epidemie mit einem verwandten Erreger darauf zurückzugreifen“, sagt Cichutek. Das sei „das Konzept der Zukunft“. Auch jetzt knüpften viele an Vorarbeiten zu den verwandten Mers- und Sars-Viren an. 

Drittens besteht für alle 115 Teams ein erhebliches Risiko darin, dass die auserkorene Substanz schlicht scheitert. Und Scheitern ist in der pharmakologischen Forschung viel häufiger als der Erfolg. Dass es nach Milliardeninvestitionen und intensivem Forschen gar keinen Impfstoff gibt, kann also nicht ausgeschlossen werden. Gegen verschiedene Meningokokken-Stämme mühte sich die Industrie jahrelang, um ein Vakzin zu finden, ebenso gegen Hepatitis C. Gegen HIV fehlen nach drei Jahrzehnten der Forschung bis heute effiziente Impfmöglichkeiten.

Impfstoff ist nicht gleich Impfstoff

Allerdings deuten viele Indizien darauf hin, dass es möglich sein sollte, die Immunabwehr gegen SARS-CoV2 zu rüsten. Jedenfalls tragen Genesene Antikörper gegen das Virus im Blut. Das ist es, was man mit einer Impfung erreichen möchte. Auch gibt es bisher keine Hinweise, dass das Virus so rasch mutiert und so wendig gegenüber der Körperabwehr agiert wie HIV. „Ich gehe davon aus, dass aus all diesen Ansätzen mindestens ein, zwei wirksame Impfstoffe hervorgehen“, so Bernd Ziegler von Boston Consulting: „Da habe ich keine Zweifel.“ 

Ein Scheitern sämtlicher Teams erscheint momentan auch deshalb unwahrscheinlich, weil sie mehrere ganz unterschiedliche Konzepte verfolgen. Darunter sind altbewährte wie ein Impfstoff auf Basis des toten Virus, seiner Bestandteile oder der abgeschwächten lebenden Viren. Mindestens sieben Teams weltweit setzen auf diese Strategien. Viele ältere Impfungen, etwa jene gegen Polio und Masern, funktionieren so. Daneben verwenden andere ein spezielles Impfvirus und schweißen eine Oberflächenkennung von SARS-CoV2 daran. Die meisten neueren Impfstoffe beruhen auf dieser Technik. 

Darüber hinaus gibt es mehrere innovative Ansätze, die gleich mehrere Firmen verfolgen. Relativ neu ist die Methode, mit einem Virus als Vehikel ein kleines Genfragment von SARS-CoV2 in die Zellen einzuschleusen. Der jüngst zugelassene Ebola-Impfstoff beruht auf dieser neuen Strategie. Mindestens 28 Teams wollen indes bestimmte Eiweißbausteine von SARS-CoV2 direkt oder verpackt in die Zellen injizieren und hoffen, so die Körperabwehr gegen das Virus zu richten. Ähnlich innovativ: Impfstoffe auf Basis von DNA, also von Erbinformationen, und auf Basis von mRNA, also den in der Zelle schwimmenden Bauanleitungen für Eiweißstoffe. Bisher gibt es allerdings weder kommerzielle DNA- noch mRNA-Impfstoffe. Dennoch setzen rund 20 Teams auf diese beiden Vorgehensweisen. Denn in beiden Fällen ließe sich ein solcher Impfstoff vergleichsweise rasch in großen Mengen herstellen. Und bei dieser Rallye ist vor allem Tempo gefragt. 

Curevac und Biontech - zwei Hoffnungsträger aus Deutschland

Wer das Rennen machen wird, ist derzeit nicht absehbar. Viel Aufmerksamkeit liegt auf jenen acht Teams, die bereits in klinische Studien eingetreten sind, sowie auf den Unternehmen, die auf mRNA setzen. Mit Letzterem arbeiten insbesondere die amerikanische Firma Moderna und die beiden deutschen Unternehmen Biontech und Curevac. Obwohl es bis heute keine entsprechenden Impfstoffe aus diesen Bausubstanzen gibt, halten Forscher und auch angestammte Impfhersteller den Ansatz für durchaus vielversprechend. Das geht so weit, dass der französische Impfstoffhersteller Sanofi Ende April bekannt gab, nun neben einem klassischen Impfkonzept auch den mRNA-Ansatz zu verfolgen. 

Auch das Medienecho im März um die Tübinger Firma Curevac hat dazu beigetragen. Das Unternehmen plane den Beginn der ersten klinischen Studie im Frühsommer, sagt die Technologiemanagerin Mariola Fotin-Mleczek. „Unser Impfstoffkandidat auf Basis von mRNA ruft in Mengen von einem Mikrogramm bereits eine gute Immunantwort hervor. Damit sind wir sehr zufrieden“, so Fotin-
Mleczek. Eine bestehende Anlage könne einige Hundert Millionen Dosen des Stoffes bereitstellen. Die Europäische Kommission hat den innovativen Tübingern nach den Übernahmegerüchten aus den Vereinigten Staaten 80 Millionen Euro zugesagt. Mit diesem Geld werde man eine vierte Produktionsanlage errichten, die ungefähr eine Milliarde Impfdosen pro Jahr erzeugen könne. Noch aber laufen die Gespräche mit der Europäischen Investitionsbank; das Geld ist nicht eingegangen. Der Aufbau der Anlage und deren Prüfung würden dann ungefähr zwei Jahre in Anspruch nehmen. 

„Für die breite Masse frühestens 2022“

Auch Richter-Helm Biologics kündigt einen Ausbau der Produktionskapazitäten an. Eine Anlage mit einigen Millionen Impfdosen könne 2023 betriebsbereit sein. Es ist nicht der Bau der Anlagen, sondern die Freigabe jedes Anlagenteils vom Rohr bis zur Pumpe, die so lange Zeit in Anspruch nimmt – diese strengen Anforderungen sind noch eine Folge des Contergan-Skandals aus den sechziger Jahren. 

Die langen Zeiten zum Ausbau von Produktionskapazitäten sind auch eine Warnung. Tatsächlich sei die Behauptung, ein Impfstoff könne schon in zwölf Monaten in hohen Mengen verfügbar sein, nicht durch Fakten gedeckt. Die Technologiemanagerin Fotin-Mleczek sagt: „Im Fall einer Ausnahmegenehmigung könnte vielleicht eine kleinere Zahl an Impfungen für Hochrisikopersonen schon 2021 möglich sein, aber für die breite Masse frühestens 2022.“

„Am Anfang wird es eine Impfstoffknappheit geben“, ist auch Pharmaspezialist Ziegler von Boston Consulting überzeugt. Die ersten Kontingente gingen aller Erwartung nach an Industrienationen, die sie zum regulären Preis beziehen können, und stünden dort nur für besonders gefährdete Personen zur Verfügung. „Das ist ein ethisches Dilemma“, so Ziegler. Welche Risikogruppen das in Deutschland sein werden, werde die Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts dann festlegen, erklärt Cichutek dazu. Klar ist: Besonders gefährdet und auch systemrelevant ist das medizinische Personal. Covid-19 ist aber auch für Menschen über 60 überdurchschnittlich riskant, genauso für Herzkranke, Diabetiker, Krebskranke und viele weitere Patienten. Eine gestaffelte Impfung würde damit eine neue Form der Triage bedeuten. 

Warum Impfstoffe eigentlich kein gutes Geschäftsmodell sind

Ein Impfstoff für die gesamte Weltbevölkerung ist indes ein Zukunftsszenario. Sieben bis zehn Milliarden Impfdosen seien dafür bei zwei Impfzyklen pro Person nötig, sagte der Manager David Loew vom Impfstoffhersteller Sanofi-Pasteur unlängst beim digitalen Global Solutions Summit. „Das ist ein Riesenmaßstab, den wir nie als Gesellschaft und als Industrie bewerkstelligt haben.“ Dafür brauche es noch größere Finanzierungsgarantien. 

Nicht ohne Grund hat es bisher noch nie eine weltweite Impfstoffversorgung auf Initiative der Industrie gegeben. Für Unternehmen sind Arzneimittel das erheblich lukrativere Geschäft. Die Zahl der Impfstoffhersteller geht deshalb schon seit Jahren zurück. Die Welt zu versorgen, ist zwar eine hehre Aufgabe, aber definitiv kein Geschäftsmodell. Denn in einem solchen Fall geben die Produzenten ihre Impfstoffe nach langen Verhandlungen zu Spottpreisen gewissermaßen für einen sozialen Zweck ab. Nur einmal in der Historie ist es überhaupt gelungen, auf diese Weise eine Krankheit ganz auszurotten: die Pocken – mit einer Sterblichkeit von 30 Prozent etwa 100-mal tödlicher als SARS-CoV2. Die Weltgesundheitsorganisation hat zu diesem Zweck bis zum Jahr 1980 rund 300 Millionen US-Dollar aufgebracht. Das Projekt dauerte zehn Jahre, Helfer verabreichten weltweit 2,4 Milliarden Impfdosen.

Wenn nun 115 Teams an einem Impfstoff arbeiten, motiviert sie sicherlich nicht die vage und über Jahre gestreckte Spekulation auf eine globale Impfung. Die enormen gegenwärtig verfügbaren Fördersummen locken allerdings schon. Und wer sich gegen Corona engagiert, poliert noch dazu sein Image auf. „Die Pharmabranche hat nicht den besten Ruf – jetzt fühlen sie sich bei ihrem Stolz gepackt zu zeigen, was sie Gutes tun können“, so Ziegler.

Tuberkuloseimpfung als Überraschungskandidat? 

Aber Forschung steckt immer voller Überraschungen. Und eine unerwartete Wendung könnte ebenfalls aus Deutschland kommen. Die Medizinische Hochschule Hannover beginnt demnächst eine klinische Studie der Phase III mit einem Tuberkuloseimpfstoff an rund 1000 Ärzten und Pflegekräften. Den stellt der weltgrößte Impfstoffhersteller Serum Institute of India seit langem routinemäßig her und hat Medienberichten zufolge gegenwärtig Kapazitäten für bis zu 400 Millionen Impfdosen. 

Aber was hat Tuberkulose mit Covid-19 zu tun? Nur das: Beides sind Atemwegserkrankungen. Und es gibt die Beobachtung, dass sich nach einer Tuberkuloseimpfung die Körperabwehr derart wappnet, dass ihr auch SARS-CoV2 nicht mehr so viel ausrichten kann. „Wir messen in der Studie die Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund von Atemwegssymptomen und erwarten, dass diese zurückgehen, weil die Erkrankung milder verläuft“, erklärt Christoph Schindler vom Forschungszentrum für klinische Studien an der Medizinischen Hochschule Hannover. Auf diese Weise kämen weniger Infizierte ins Krankenhaus, und weniger würden sterben. Schindler leitet die Studie und ist selbst an unterschiedlichen Impfstoffentwicklungen gegen SARS-CoV2 beteiligt. 

Wenn sich das bewahrheiten sollte, dann gäbe es 2021 einen unerwarteten Impfstoff: Dieser würde zwar nicht 100-prozentig vor Covid schützen. Aber wenn die Krankheit dann noch viel öfter als derzeit einen harmlosen Verlauf nimmt, wäre schon viel gewonnen. Vielleicht würde es der 88-jährigen Veronika Siebmüller ausreichen, um endlich ihre Wohnung wieder zu verlassen. 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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