Die WHO in Zeiten von Corona - Gesundheit made in Germany

Die USA kehren der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Rücken. Deutschland hingegen engagiert sich immer stärker für Gesundheit weltweit - solange die heimische Wirtschaft keinen Schaden nimmt. Über eine politische Neuausrichtung und ihre Widersprüche.

Will neue Akzente setzen: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seinen europäischen Kollegen / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Susanne Donner ist freie Journalistin und schreibt zu Themen aus Medizin, Gesellschaft und Ökonomie.

So erreichen Sie Susanne Donner:

Anzeige

Autoreninfo

Jakob Simmank lebt in Berlin und arbeitet als Wissenschaftsredakteur zu Gesundheitsthemen bei Zeit Online.

So erreichen Sie Jakob Simmank:

Anzeige

Es ging so schnell, dass es fast surreal erschien: von China nach Italien, dann quer durch Europa, Asien, die USA, ganz Amerika und Afrika. Innerhalb einiger Wochen verbreitete sich das neue Coronavirus über die ganze Welt und bedroht seither in vielen Ländern die Gesundheit von Menschen, die Gesundheitssysteme und damit die Wirtschaft auf dem ganzen Planeten. „Gesundheit ist global“ – die lapidare Feststellung von Experten ist auf einmal bedrückende Realität. 

Epidemiologen hatten immer davor gewarnt: Menschen treiben weltweit Handel miteinander, reisen im Minutentakt rund um den Globus. Mobilität und Globalisierung beschleunigen zwangsläufig das Tempo, in dem sich Krankheitserreger ausbreiten. 20 Jahre dauerte es im Mittelalter, bis die Pest Europa erreichte. Sars-CoV-2 reist quasi im Flugzeug um die Welt. 

Während etwa Handelsabkommen weitgehend globalisiert zwischen Regierungen und Wirtschaftsräumen geschlossen werden, vollzieht sich Gesundheitspolitik nach wie vor traditionell in überwiegend nationalen Strukturen – auch in Deutschland. Bezeichnete der Begriff „globale Gesundheit“ vor Corona scheinbar noch ein entwicklungshilfepolitisches Nischenthema, so ist spätestens jetzt klar geworden, was für eine globale Relevanz es tatsächlich hat, insbesondere für die Industriestaaten.

Deutschlands Stimme ist lauter geworden

Tatsächlich hat sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit die Rolle Deutschlands bei der globalen Gesundheit in den vergangenen Jahren verändert – weg von der eines leisen Beitragszahlers an die WHO hin zu einem der Hauptakteure. Und diese Rolle scheint die Bundesregierung weiter ausbauen zu wollen, zumal die USA ihren Austritt aus der WHO nun offiziell erklärt haben. Insbesondere weil China hier zugleich versucht, Terrain zu gewinnen, könnte Deutschland zum neuen westlichen Gegengewicht in Sachen Gesundheit werden.

„Die Bundesregierung hat sich beim Thema globale Gesundheit stark nach vorne gespielt“, sagt Andreas Wulf von der Hilfsorganisation Medico International. Die Politikwissenschaftlerin Maike Voss von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin urteilt: „Andere Länder und internationale Organisationen schreiben Deutschland heute eine führende Rolle in globaler Gesundheitspolitik zu.“ Der Direktor des Heidelberger Instituts für Global Health und Mitglied im 2019 gegründeten Global Health Hub Germany, Till Bärnighausen, konstatiert: „Deutschlands Stimme ist lauter geworden, und ich erwarte, dass sie noch lauter wird.“

Ebola gab den Anstoß

Tatsächlich kam der erste Impuls für diesen anhaltenden Wandel von außen aus den Nachbarländern. Die Schweiz, Österreich, Großbritannien und Schweden legten im Jahr 2012 eine Strategie für globale Gesundheit vor. 2013 zog Deutschland nach. Diese Strategie umfasste drei Ziele: Erstens, Gesundheit im Inland durch globales Handeln zu schützen. Zweitens, sie auch im Ausland zu verbessern. Und drittens, internationale Gesundheitsorganisationen zu stärken. Dann fiel der Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014 und 2015 in Deutschlands G-7-Präsidentschaft, und Bundeskanzlerin Angela Merkel ärgerte sich, dass die Antwort auf das Virus in Westafrika zu schwach, zu spät und schlecht organisiert ablief. Schon damals war die Gefahr spürbar: Was, wenn die Krankheit nach Europa käme? 

Unter dem Eindruck dieser Bedrohung schlug Merkel im Rahmen der G-7-Präsidentschaft einen Plan mit sechs Punkten vor, darunter: Fachpersonal und medizinisches Material für den weltweiten Einsatz, ein Notfallfonds für solche Krisen und auch eine stärkere WHO. Im April 2018 rief sie dann gemeinsam mit Ghanas Staatspräsidenten Nana Akufo-Addo und Norwegens Ministerpräsidentin Erna Solberg den WHO-Generaldirektor auf, einen globalen Aktionsplan zum Entwicklungsziel Gesundheit vorzulegen. Schließlich gründete das Bundesministerium für Gesundheit 2019 den Global Health Hub Germany, in dem sich seither Experten aus Industrie, Forschung, aus NGOs und der Jugend zum Thema globale Gesundheit austauschen und zusammenarbeiten. 

Der Ruf nach einem westlichen Gegengewicht zu China

Mittlerweile ist globale Gesundheit als Politikfeld ressortübergreifend in den Bundesministerien verankert. Für Ende des Jahres 2019 war eine neue Strategie zur globalen Gesundheit angekündigt worden, die nun nach dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie „zeitnah vorgelegt werden soll“, wie das Bundesministerium für Gesundheit Cicero mitteilt. Darin soll es vorrangig um den Schutz vor Pandemien, die Stärkung der Gesundheitssysteme weltweit und der WHO gehen. 

Während US-Präsident Donald Trump der WHO den Rücken kehrt, hält Deutschland eisern fest. In den vergangenen Jahren hat es dort sogar immer mehr Mitarbeiter in Spitzenpositionen untergebracht. Die Bundesrepublik machte sich für eine Anhebung der Pflichtbeiträge um 10 Prozent stark, auch wenn daraus 2018 letztlich nur 3 Prozent mehr wurden. Es spricht einiges dafür, dass Deutschlands Aktivitäten für Gesundheit in der Welt weiter zunehmen werden. Fast alle Fraktionen des Deutschen Bundestags haben Ende Mai in eigenen Anträgen zu mehr Engagement aufgerufen. Aber auch eine zunehmend „bipolare Weltlage, die durch China und die USA bestimmt wird“, wie Gesundheitsminister Jens Spahn es formulierte, schafft Handlungsbedarf. Sollten die USA tatsächlich als wichtigster WHO-Beitragszahler ausfallen, würde der Druck auf Deutschland wachsen, sich stärker einzubringen – als wichtige Industrienation und nach passablem Abschneiden in der vorläufigen Corona-Krise.

In ähnlicher Weise wirkt „Chinas Charmeoffensive“, wie sie Andreas Wulf von Medico International bezeichnet. Auf der jüngsten Generalversammlung der WHO am 15. Mai hielt der chinesische Ministerpräsident unmittelbar nach der Eröffnung eine denkwürdige Rede. China würde zwei Milliarden Dollar gegen Covid-19 mobilisieren und sich auch verstärkt in der Entwicklungshilfe für Afrika engagieren. Chinas wachsender Einfluss für die Weltgesundheit spiegelte sich bereits in der Wahl des China wohlgesonnenen Generaldirektors Tedros Adhanom Ghebreyesus wider. Und kaum hatte Donald Trump einen zunächst vorübergehenden Zahlungsstopp an die WHO verkündet, kündigte China eine Zahlung von 30 Millionen US-Dollar an – gleichwohl nur ein Bruchteil des Beitrags der USA. 

Das nährt den Ruf nach einem Gegengewicht, das westliche Werte und Ideen der Gesundheitspolitik vertritt. Und wieder fällt der Blick auch auf Deutschland. „Man will dem mutmaßlichen Ausfall der USA etwas entgegensetzen und deutlich machen, dass man es jetzt nicht China überlässt“, sagt Wulf. 

Ambivalenzen des Multilateralismus

Globale Gesundheit soll auch ein Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden. Offenbar will die Bundesregierung in der EU vormachen, was international tragen könnte. „Europa braucht einen besseren Mechanismus für Gesundheitskrisen, so wie wir auch einen für Finanzkrisen gefunden haben: Die EU als Kern eines Bündnisses zur gegenseitigen Unterstützung im Pandemiefall, eine Art Gesundheits-Nato“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn gegenüber der Rheinischen Post. Schnelle, handlungsfähige, gemeinsame Strukturen, die auf Experten, Ärzte, Ressourcen zugreifen können, brauche es. Die europäische Gesundheitsbehörde, das European Center for Disease Prevention and Control, solle zur zentralen Forschungseinrichtung der Seuchenfrüherkennung und -prävention in der EU werden. So könnte sie langfristig mit den etablierten Centers for Disease Control and Prevention, einer Behörde des US-Gesundheitsministeriums, gleichziehen, die eng mit der WHO kooperiert.

Spahns Vision bedeutet aber vor allem: mehr Solidarität und gemeinsames Handeln der EU-Länder. Darin steckt auch eine andere Botschaft. Deutschland will nicht, schon aufgrund historischer Erfahrungen, allein vorangehen, sondern setzt vielmehr auf Konsens und Multilateralismus. Nicht der leiseste Verdacht eines „Germany First“ soll aufkommen. Jeder Schritt bedarf eines Aufrufs oder einer Legitimation von außen. Das hat eine Kehrseite: Es geht nur schleppend voran, insbesondere, wenn sich nicht auf Anhieb überstaatliche Allianzen finden. Und es führt mitunter zu einem zaudernden Kurs. „Da könnte mehr Zug darin sein“, findet deshalb Maike Voss von der Stiftung Wissenschaft und Politik. 

Der multilaterale Anspruch erklärt auch manchen Widerspruch. So fordert die WHO seit Jahren, Deutschland solle 0,1 Prozent seines Bruttonationalprodukts (BNP) beisteuern. Es ist zwar einer der größten Beitragszahler (mit 255 Millionen Euro für 2018 und 2019), bleibt aber deutlich unter dem geforderten Ziel. Die Unterstützung ist über die Jahre gestiegen, aber nicht in der Weise wie von der WHO gewünscht. Für eine Anhebung des Pflichtbeitrags für alle Mitgliedstaaten setzte sich Deutschland aber ein. 

Ambivalenzen zeigen sich auch beim im Juni ins Leben gerufenen Covid-19 Technology Access Pool (C-TAP) der WHO. Darin werden gezielt Gelder gesammelt, um Wissen, Technologien und Impfstoffe später möglichst vielen Ländern günstig zur Verfügung zu stellen. Produktentwickler sollen dafür ihre geistigen Eigentumsrechte und Daten freiwillig in einen Patentpool einbringen, um eine schnelle und kostengünstige Generikaproduktion zu ermöglichen. Fünf EU-Staaten beteiligen sich an dem Fonds – nicht jedoch Deutschland. Und das, obwohl die Kanzlerin bei der Weltgesundheitsversammlung erklärt hatte, dass Covid-19-Impfstoffe allen Menschen weltweit zugänglich sein müssten.

Wenn die heimische Wirtschaft globalen Zielen im Weg steht

Deutschland hat eine bedeutende Pharmabranche und eine ebensolche Gesundheitswirtschaft. „Wenn es um Patente und Arzneimittelpreise geht, agiert die Bundesregierung eher blockierend“, sagt Wulf. Das Engagement in globaler Gesundheit bewegt sich generell im ständigen Spannungsfeld mit innen- und wirtschaftspolitischen Interessen. Wenn das kollidiert, schlägt das Pendel meist zugunsten der inländischen Wirtschaft aus. Ein anderes Beispiel: Die Anti-Tabak-Konvention der WHO unterschrieb Deutschland zwar wie andere Staaten, aber bis es Zigarettenwerbung in den Kinos verbot, vergingen Jahre. „Sobald globale Gesundheit mit nationaler Politik in Konflikt gerät, wird es eng“, sagt Wulf. Doppelmoral auch bei der Gesundheit von Flüchtlingen. Weltweit fordert man bessere Gesundheitsversorgung, aber hier besteht kein Anspruch auf eine den Bundesbürgern gleichwertige Gesundheitsversorgung.

Die Konturen der deutschen Vision von globaler Gesundheit seien überschaubar, analysiert Voss. Die markanteste Linie: Man will unter anderem Gesundheitssysteme in anderen Ländern stärken. Das unterscheidet Deutschland auch von Strategien der USA oder Großbritannien. „Wir stehen sehr stark in der bismarckschen Tradition und sind ein ernsthafter Makler für Sozialsysteme“, erklärt dazu Björn Kümmel, stellvertretender Leiter des Referats Globale Gesundheitspolitik im Gesundheitsministerium. So bildet man etwa in Malawi Gesundheitspersonal aus, damit mehr Menschen medizinisch behandelt werden können. „Deutschland baut in afrikanischen Staaten über die GIZ seit vielen Jahren Gesundheitssysteme auf, und das sehr erfolgreich“, so Till Bärnighausen, der die Gesundheitsversorgung in Afrika beforscht.

Private Interessen und die WHO

Diese Vision von globaler Gesundheit trifft dabei auf eine gegenläufige Entwicklung innerhalb der WHO. Noch vor 30 Jahren kümmerte sie sich zwar noch intensiv um den Aufbau allgemeiner Gesundheitsversorgungsstrukturen in ärmeren Ländern. Doch seit Jahren ist die WHO in der Krise. Die Mitgliedstaaten decken mit ihren Pflichtbeiträgen nur noch 20 Prozent ihres Budgets ab. Die übrigen 80 Prozent müssen die einzelnen WHO-Abteilungen bei einzelnen Staaten, Organisationen und der Industrie kurzfristig einwerben. Dabei konkurrieren sie auch noch miteinander. Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung ist einer der wichtigsten Geldgeber.

„Die WHO bekommt nicht primär Gelder der Pharmabranche, sondern sie wartet auf Zuwendungen aus den reichen Industriestaaten, die immer ihre Industrien schützen wollen“, sagt Tine Hanrieder mit Blick auf den Vorwurf, die WHO würde direkt von der Industrie unterwandert. WHO-Programme, die kurzfristig sichtbare Erfolge produzieren wie Impfkampagnen, sind bei Gebern beliebt. Dagegen gibt es wenig Geld zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen, weltweit einem der drängendsten Gesundheitsprobleme. Dafür müssten Arzneimittel nämlich sparsamer und umsichtiger eingesetzt und mehr neue Antibiotika entwickelt werden. Infolge der unsicheren Finanzierung hat sich die Arbeit der WHO über die Jahre von den Gesundheitsproblemen des armen Südens ein Stück weit auf die Probleme des reichen Nordens verlagert. Ein bedenklicher Trend, findet Hanrieder und kritisiert: „Gesundheit ist auch nicht nur Medizin. Die Lebensumstände, Arbeit, Umweltverschmutzung, der Klimawandel – das bestimmt zuvorderst, ob wir gesund sind.“

Die WHO ist nur so stark, wie ihre Mitglieder sie haben möchten

Die unsichere Finanzierung der WHO schwächt sie in ihrer Kontinuität und Position. So sehr, dass ihr während Corona im Frühjahr das Geld ausging und „sie mit dem Hut herumgehen muss“, sagt Wulf. „So kann sie nicht gut in Krisen agieren.“ Um solche Engpässe künftig zu vermeiden, wurde Ende Mai eigens eine Stiftung, die WHO Foundation, gegründet, die Gelder einsammeln soll. „Die Frage ist aber, wer da einzahlen wird und darf. Hoffentlich nicht Unternehmen wie Nestlé und Co.“, sagt Hanrieder. 

Zwar hat die WHO als Teil der UN als Einzige das Mandat, als Regierungsorganisation zu Fragen der internationalen Gesundheit zu entscheiden. Aber faktisch wird sie dabei in undurchsichtiger Weise auch von Interessen verschiedener Drittmittelgeber geleitet. Wer diese Ausrichtung des wichtigsten Akteurs in der globalen Gesundheit tatsächlich ändern will, braucht Langmut und mehr als eine Allianz. „Die WHO ist immer nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie haben wollen“, sagt Voss. Die Bundesregierung möchte eine stärkere WHO. Das ist eine große Aufgabe.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

Anzeige