Anne Will zur Finanzpolitik - „Das ist doch Voodoo“

SPD, CDU und Linke streiten bei „Anne Will“ über Mindestlohn, Steuererhöhungen und Umverteilung – und werfen sich gegenseitig finanzpolitische Ahnungslosigkeit vor. Kurz vor den Wahlen sitzt vor allem der CDU die Angst vor einer Niederlage offensichtlich im Nacken.

Bei Anne Will ging es ums Geld / Screenshot ARD Mediathek
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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„Linksrutsch“, „Planwirtschaft“, „finanzpolitischer Voodoo“ – drei Wochen vor der Bundestagswahl geht es ums Geld und dementsprechend hoch ist die Attackenfrequenz. „Mindestlohn, Reichensteuer, Schuldenbremse – steht Deutschland vor einer Richtungswahl?“ Darüber diskutierte Anne Will gestern Abend in ihrer Sendung mit Ralph Brinkhaus, Unionsfraktionsvorsitzender im Bundestag, dem SPD-Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans, der Linken-Parteivorsitzenden Janine Wissler, dem AfD-Bundesvorsitzenden Tino Chrupalla und Helene Bubrowski, Korrespondentin der FAZ in der Parlamentsredaktion. Letztere wirkten fehl am Platz: Chrupalla mit einem langen Exkurs zur realitätsfernen AfD-Maximalforderung nach einem EU-Austritt Deutschlands (84 Prozent der Deutschen fühlen sich als EU-Bürger), Bubrowski mit einer Sonntagslobrede auf den deutschen Status Quo.

Der zentrale Konflikt spielte sich zwischen Brinkhaus, Wissler und Walter-Borjans ab. Brinkhaus stichelte erwartungsgemäß gegen Walter-Borjans und setzte auf die derzeit lautstark geführte Rote-Socken-Kampagne, mit der die CDU auf die drohende Wahlniederlage reagiert. Und so drehte sich die Runde zu Beginn lange um die Frage, ob die SPD, die derzeit in Umfragen mit 25 Prozent deutlich vor der CDU und den Grünen liegt, sich für den Fall eines Wahlsiegs eine rot-rot-grüne Koalition offenhält. „Die Menschen“ müssten wissen, so Brinkhaus, „wenn sie Olaf Scholz wählen, wählen sie einen Linkskanzler.“ Nachdem lange beklagt worden sei, dass CDU und SPD zu wenig polarisieren, sei nun zumindest klar, „was die Unterschiede sind.“

Was die Parteien wollen

Laut dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), das die zentralen Reformvorschläge der Parteien zur Bundestagswahl 2021 untersucht hat, lauten die Unterschiede grob zusammengefasst: „Die vorgeschlagenen Steuerentlastungen von FDP und Unionsparteien entlasten die höheren Einkommensklassen deutlich, während die Programme von SPD, Linke und Grünen besonders für untere und mittlere Einkommen einen Zuwachs beim verfügbaren Einkommen aus Netto-Lohn und Sozialtransfers bedeuten.“

Die SPD setzt dafür, wie ein Einspieler in Anne Wills Sendung zeigt, auf einen Spitzensteuersatz, der ab einem Bruttoeinkommen von 100.000 Euro für Ledige greifen soll. Ab 250.000 Euro wollen die Sozialdemokraten eine Reichensteuer von 48 Prozent. Die Linke geht weiter: Sie will einen Mindestlohn von 13 Euro und einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent, der ab 70.000 Euro greifen soll. Geringverdiener sollen entlastet werden. Die Partei will eine Reichensteuer von 60 Prozent, wer mehr als eine Million Euro im Jahr verdient, soll 75 Prozent Steuern bezahlen. Die CDU spricht sich gegen derartige Steuererhöhungen aus. Dabei lag der Spitzensteuersatz unter Helmut Kohl zwischen 1982 und 1990 bei 56 Prozent, 1990 wurde er auf 53 Prozent gesenkt – was der aktuellen Forderung der Linken entspricht.

Wirtschaft gut, alles gut?

Warum er dagegen sei, wenn die Linke nur umsetzen wolle, was schon Kohl wollte, fragte Will deswegen Brinkhaus. Es gehe darum, mehr Steuern zu kriegen, um die Staatssätze zu konsolidieren, so der CDU-Politiker. Das erreiche man nicht durch Steuersätze, sondern dadurch, „dass die Wirtschaft brummt, dass wir viele gut bezahlte Arbeitsplätze haben“. Janine Wissler wendete ein: „Wir haben mehr Jobs, aber es gibt Leute, die haben drei davon, weil sie von einem nicht mehr leben können. Wenn ein Unternehmen wie Amazon riesenhohe Gewinne macht, aber keine Tarifverträge einhält und kaum Steuern zahlt, dann zeigt das doch, dass dieses Rauswachsen nicht funktioniert.“

Tatsächlich sprechen viele Zahlen gegen Brinkhaus` Mantra, den Menschen gehe es gut, wenn es der Wirtschaft gut geht. Trotz Wirtschaftswachstum ist laut dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung für Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ökonomischer Aufstieg immer schwieriger. Laut dem Paritätischen Wohlfahrtverband ist die Armutsquote seit 2006 um 66 Prozent gestiegen, 2,8 Millionen Minderjährige werden als arm eingestuft. Ein Drittel der Menschen, die in Armut leben, ist laut dem Verband erwerbstätig, ein Drittel in Rente. Dem derzeit von konservativen Politikern befürchteten Linksrutsch geht also ein Auseinanderrutschen zwischen Arm und Reich voraus.

Schuldenbremse sei nicht einhaltbar

Hinzu kommt: Deutschland hat an den Kosten der Corona-Pandemie zu knabbern (etwa 470 Milliarden Euro Schulden seit Beginn der Pandemie), es kommen Kosten in Milliardenhöhe für den Klimaschutz auf das Land zu, gleichzeitig will die CDU mittlere und kleine Einkommen entlasten und dabei die Schuldenbremse einhalten. „Ist das nicht doch finanzpolitischer Voodoo?“, fragte Will Brinkhaus.

Brinkhaus blieb dabei, aus einem Schuldenstaat könne man nur rauswachsen, nicht sich rausbesteuern – auch, als Will ein Zitat von Michael Hüther, dem Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, einblendete: „Angesichts der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung bräuchte es dafür ein utopisches Wirtschaftswachstum. Ohne ein Öffnen der Schuldenbremse wird man kaum zurechtkommen.“

Wissler und die Trotzkisten

Warum die Linke zum Beispiel den Biontech-Gründern ihren Erfolg nicht gönne, wollte Anne Will von Wissler wissen und spielte dabei auf die Forderung nach einem Steuersatz von 75 Prozent, aber einer Million Euro an. Dies beträfe nicht mal ein Prozent der Bevölkerung, zudem sei Reichtum oft nicht erwirtschaftet, sondern vererbt, sagte Wissler und drehte die Frage um. Wer all die Kosten denn bezahlen solle, „die alleinerziehende Verkäuferin wird es nicht bezahlen können“. In der Pandemie seien 70.000 neue Millionäre dazugekommen, „da stimmt doch was nicht an der Verteilung von Reichtum“.

Ob man sie gutheißt oder nicht: Fehlende Klarheit bezüglich ihrer sozialpolitischen Pläne kann man Wissler nicht vorwerfen. Das gilt nicht für ihre Position zur extremistischen Gruppe Marx21. Kurz vor Schluss sprach Will die Linken-Politikerin auf ihre Rolle in der trotzkistischen Gruppe an, die den Parlamentarismus überwinden will (ihre Nähe zu Islamisten erwähnte Will nicht) und der Wissler bis vor Kurzem über 20 Jahre angehörte. Die Linken-Politikerin reagierte genervt und redete lange und ausweichend, sie sehe keinen Grund für eine Distanzierung.

Walter-Borjans hielt sich noch mit einer Distanzierung die Tür zur FDP offen, man stehe auf dem Boden der Marktwirtschaft, beteuerte er.

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