Ostukraine nach Putins Annexion - Saporischja trotzt dem Terror

Die Bewohner der Industriestadt Saporischja, die seit Freitag aus Putins Sicht zu Russland gehört, leiden unter fast täglichen Raketenangriffen der russischen Armee. An Kapitulation denkt hier jedoch niemand. Im Gegenteil.

Opfer des russischen Raketenangriffs vom Freitag auf eine zivile Fahrzeugkolonne außerhalb der Stadt Saporischja. Über 30 Menschen kamen dabei ums Leben / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Ich habe heute den ganzen Tag damit verbracht, meinen Kunden in Europa zu erklären, dass wir hier nicht von den Russen besetzt sind“, schimpft Jewgenij, Direktor einer Firma, die Elektrokabel herstellt. Es ist der 30. September, und die Medien rund um den Globus melden, Putin hätte die Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischja annektiert. Was aber nur die halbe Wahrheit ist: Das Gebiet Donezk kontrolliert die russische Armee nur zu knapp 60 Prozent, das Gebiet Saporischja nur zu zwei Dritteln. Und eben nicht die Hauptstadt des Gebiets mit ihren 700.000 Einwohnern. Jewgenij hat die Folgen sofort zu spüren bekommen: Seine Kunden meldeten sich, um Aufträge zu stornieren, weil sie davon ausgingen, dass er sie nicht mehr erfüllen könnte.

Die Industriestadt Saporischja, gelegen am Fluss unterhalb des Dnjepr-Staudamms, war zu Beginn des Kriegs von der Eroberung durch die Russen bedroht. Aber etwa 45 Kilometer vor der Stadtgrenze konnten die Ukrainer die Russen aufhalten. Über den Sommer war es relativ ruhig in der Stadt, viele Menschen kehrten zurück, hinzu kommen weit über 100.000 Flüchtlinge aus den von Russland besetzten Gebieten.

Eskalation in den letzten Wochen

Doch in den vergangenen zwei Wochen schlugen jede Nacht Raketen in die Stadt ein, zum Teil in Industriebetriebe, immer wieder auch in Wohnhäuser. Das Problem: Die Russen schießen aus relativ kurzer Entfernung mit den eigentlich zur Luftabwehr genutzten S-300-Raketen in die Stadt, die niedrig fliegen und für die ukrainische Luftabwehr praktisch nicht zu erreichen sind. Zur Flucht in die Bombenkeller bleibt keine Zeit.

Der Samstag ist ein herrlicher Herbsttag mit Sonnenschein und Temperaturen deutlich über 20 Grad. Immerhin: Die Nacht nach Putins Annexionsshow in Moskau blieb in Saporischja ruhig, auch wenn viele Menschen in der Stadt gerade nach diesem Tag eine Eskalation befürchteten. Aber nur direkt am Dnjepr-Ufer hört man dumpfes Artilleriefeuer, dessen Echo der Fluss aus südlicher Richtung transportiert.

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Auf dem Weg Richtung Osten erreicht man einen mit Betonblöcken befestigten Kontrollpunkt, an dem nur noch Menschen passieren dürfen, die in den dort gelegenen Orten registriert sind. Die Gebiete kontrolliert zwar die ukrainische Armee, aber hier ist der Kampfeslärm deutlich zu hören. Wer weiterfährt, sieht links und rechts der Straße Kilometer über Kilometer nicht abgeernteter Felder: vertrocknete Sonnenblumen, die ihre Köpfe geneigt haben und schon ihre Samen in den Boden fallen lassen. Während die Ernte in der restlichen Ukraine relativ problemlos verläuft, schrecken die Bauern hier davor zurück.

Park unweit des Dnjepr-Ufers in Saporischja / Moritz Gathmann

Iwan aus Kiew, Anfang 40, eigentlich erfolgreicher PR-Experte, ist gleich zu Anfang des Kriegs als Militärsanitäter in die Territorialverteidigung eingetreten, nachdem er Frau und Kind bis zur Westgrenze gebracht hatte. Er ist kräftiger als früher, der Kopf kahlrasiert, der Bart wild wuchernd. Nach der Ausbildung im Gebiet Lemberg sind er und seine Einheit seit dem Sommer an der Front bei Saporischja im Einsatz. An ihr bewegt sich im Unterschied zur Front bei Donezk und Cherson seit Monaten praktisch nichts mehr. Möglicherweise hängt die Ruhe mit dem nahegelegenen Atomkraftwerk Saporischja zusammen, mit seinen sechs Reaktoren das größte AKW Europas, besetzt von russischen Truppen. Im September hatte eine Mission der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA sich um eine Deeskalation rund um das Kraftwerk bemüht. Am Samstag wird bekannt, dass die Russen den Direktor des AKW festgenommen haben.

Putin hat seine Aura verloren

Iwan und seine Kameraden haben auf ihrer Position die Rede Putins vom Freitag verfolgt – mobiles Internet gibt es auch im Schützengraben. „Aber wir fürchten uns nicht mehr davor“, sagt Iwan. „Er hat inzwischen seine Aura verloren.“

Das sei im Februar noch anders gewesen, als Putin den Beginn seiner „Spezialoperation“ verkündete und für Wochen die Existenz der Ukraine als Staat auf dem Spiel stand. „Für mich ist es bis heute wie ein Wunder, dass wir durchgehalten haben, auch dank der Hilfe aus dem Westen“, sagt Iwan. Die militärischen Erfolge der letzten Monate haben ihm und seinen Kameraden Mut gemacht – auch wenn ein Ende des Kriegs noch nicht in Sicht ist. Der Soldat erzählt davon, wie surreal es sich für ihn immer wieder anfühlt, wenn er für ein paar Stunden aus dem Wald nach Saporischja kommt – und dort das scheinbar ganz gewöhnliche Leben der Menschen sieht. „Manche meiner Kameraden macht das sogar wütend. Sie fragen: Wie können die hier ihr friedliches Leben genießen, während wir hier kämpfen?“, erzählt er.

Hochzeit in Kriegszeiten

Auf den ersten Blick ist die Normalität des Lebens tatsächlich verblüffend: In einem kleinen Park unweit des Dnjepr sind an diesem Samstag hunderte Menschen unterwegs. Ihre kleinen Kinder fahren mit Elektroautos und Fahrrädern über den Asphalt, am Kletterpark stehen die älteren Schlange. Andere sitzen vor den Cafés, trinken Bier und essen Schaschlik und Piroggen.

Hochzeit in Saporischja / Moritz Gathmann

Im Hotel Reikartz, direkt am Dnjepr-Ufer, feiern Jelisaweta und Jewgenij, beide Mitte 20, ihre Hochzeit. Auf den mit weißen Decken bespannten Tischen ist reich gedeckt: Früchte aller Art, Schaschlik, Wodka und Wein. Ein Animateur sorgt für Stimmung unter den etwa 50 Gästen, russische Popmusik schallt aus den Lautsprechern, während draußen die Abendsonne über dem Dnjepr untergeht. Auch wenn alles wirkt wie auf einer typischen Hochzeit – die Menschen täuschen Normalität nur vor.

„In Wirklichkeit ist alles sehr schlecht“, sagt Dima, ein kräftiger junger Mann im weißen Hemd. Die Hochzeit sollte eigentlich schon im Frühjahr stattfinden, wurde aber immer wieder verschoben: „Weil wir in den Schutzkellern saßen.“ Noch am Freitag stand die Feier auf der Kippe: Am frühen Morgen war nahe der Stadt eine russische Rakete in eine Fahrzeugkolonne von Menschen eingeschlagen, die auf dem Weg in die besetzten Teile des Gebiets Saporischja war. Mindestens 30 Menschen starben, darunter mehrere Kinder.

Und dann sind da die Eltern der Braut, die per Skype von einem Bildschirm die Hochzeit ihrer Tochter verfolgen: Sie sitzen in ihrem Wohnzimmer in Polen, wohin sie nach Kriegsbeginn geflohen sind. Viele Gäste aus anderen ukrainischen Städten sind nicht zur Feier gekommen. Und um zehn Uhr abends muss Schluss sein: Bis zur Sperrstunde um 23 Uhr müssen alle Hochzeitsgäste zu Hause sein.

Eines der letzten Lieder, das an diesem Abend aus den Lautsprechern schallt, ist „Wse bude dobre“, eine Hymne des ukrainischen Sängers Swjatoslaw Wakartschuk und seiner Band „Okean Elzy“. „Alles wird gut, für jeden von uns, alles wird gut, unsere Zeit wird kommen“, singt Wakartschuk mit seiner kehligen Stimme. Dima singt aus voller Kehle mit, dann kommen ihm die Tränen, die er sich mit Daumen und Zeigefinger aus den Augen reibt.

Am Sonntagmorgen werden die Menschen in Saporischja dann von Donnerschlägen geweckt: Vier russische S300-Raketen haben um kurz nach sechs Uhr in der Stadt eingeschlagen.

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