Wissenschaftsfreiheit - Basta, Bologna!

Vor 25 Jahren wurde an den Universitäten der Bologna-Prozess gestartet. Er hat ein Hochschulsystem geschaffen, in dem Konformität der Weg zum Erfolg geworden ist. Gefördert wird derjenige, der sich den Drittmittelgebern anpasst.

25 Jahre nach der „Bologna-Erklärung“ / Illustration: Karsten Petrat
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Sandra Kostner ist Historikerin an der PH Schwäbisch-Gmünd. Während ihrer Promotion arbeitete sie als Lehrbeauftragte am Historischen Institut und am Institut für Jüdische Studien der University of Sydney. 

So erreichen Sie Sandra Kostner:

Anzeige

Um die Jahrtausendwende wurden die Hochschulen tiefgreifenden Strukturreformen unterworfen. Die in der Öffentlichkeit bekannteste dieser Reformen trägt den Namen der ältesten europäischen Universitätsstadt: Bologna. Die 1999 unterzeichnete „Bologna-Erklärung“ zielte darauf ab, die Hochschulen zu einem Motor der Europäisierung zu machen und ihre Attraktivität im weltweiten Wettbewerb um Studierende und Wissenschaftler zu steigern. Zeitgleich wurden Reformen initiiert, deren Ziel eine stärkere Wettbewerbsorientierung von Hochschulen und Wissenschaftlern war. 

25 Jahre nach der „Bologna-Erklärung“ und zu Beginn des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufenen „Wissenschaftsjahrs 2024 – Freiheit“ ist es an der Zeit zu fragen, welche Folgen diese Reformen für die intellektuelle Freiheit an den Hochschulen hatten.

Vergleichbarkeit von Abschlüssen

Mit dem Maastrichter Vertrag (1992) hat die Harmonisierung innerhalb der EU-Mitgliedstaaten massiv an Fahrt aufgenommen. Bildungs- und Wissenschaftspolitik betreffend fand das Harmonisierungsbestreben einen ersten Niederschlag in der 1998 von den Wissenschaftsministern Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens unterzeichneten „Sorbonne-Erklärung“, die den Universitäten eine wichtige Rolle im Europäisierungsprozess zuweist. 

Laut dieser Erklärung soll Europa „nicht nur das Europa des Euro, der Banken und der Wirtschaft“, sondern auch ein „Europa des Wissens“ sein. Um dieses zu schaffen und aufrechtzuerhalten, soll ein „europäischer Raum für Hochschulbildung“ entstehen. Die zentralen Instrumente dazu lauten: Vergleichbarkeit von Abschlüssen, leichtere Mobilität zwischen europäischen Hochschulen und dadurch mehr Auslandserfahrung für Studierende sowie internationale Attraktivität des europäischen Hochschulstandorts.

Jeder Dritte bricht sein Bachelorstudium ab

Bei der „Bologna-Erklärung“ handelt es sich inhaltlich im Wesentlichen um eine Konkretisierung der Ziele, die in der „Sorbonne-Erklärung“ genannt sind: Einführung eines zweistufigen Studiensystems, eines Leistungspunktesystems und eines Diplomzusatzes zum Abschluss, der berufsrelevante Qualifikationen ausführt und damit international anschlussfähig macht. Dergestalt sollte das Hochschulsystem europäisiert, internationalisiert und mobilitätsfördernder sowie wettbewerbsfähiger aufgestellt werden. 

Mit der Reform des Hochschulrahmengesetzes wurde 2002 die Umstellung des Studiums in Deutschland von einer Phase (Diplom, Magister, Staatsexamen) auf zwei Phasen flächendeckend eingeleitet. Mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen wollte die deutsche Hochschulpolitik über Bologna hinausgehende Ziele erreichen, allen voran: die Verringerung der Studienzeiten, der Abbruchquoten und der Studierhemmungen aufseiten junger Menschen aus nichtakademischem Elternhaus. Zudem sollten gerade im Bachelorstudium die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts stärker berücksichtigt werden. Diese Hoffnungen haben sich jedoch nur teilweise erfüllt; so bricht immer noch fast jeder Dritte sein Bachelor- und jeder Fünfte sein Masterstudium ab.

Ein vernünftiges und zielgerichtetes Agieren

Die Umstellung auf ein zweistufiges Studiensystem hätte keine Auswirkungen auf die intellektuellen Entfaltungsspielräume von Studierenden haben müssen. Der Hauptgrund für die Verengung intellektueller Freiräume ist, dass die Modularisierung der Studiengänge mit einer Prüfungsfixierung einhergeht. So hat die Einführung von Modulen, denen Leistungspunkte (ECTS) zugewiesen werden müssen, vielerorts dazu geführt, dass – obwohl nicht von Bologna gefordert – für jedes Modul eine Prüfungsleistung zu erbringen ist, die in die Endnote einfließt und im sogenannten „Transcript of Records“ verzeichnet ist. 

Studierende haben verinnerlicht, dass jede Note zählt, und sie handeln entsprechend: Sie unterscheiden Seminarinhalte nach ihrer Prüfungsrelevanz in wichtig oder unwichtig und sie streben danach, dass ihnen Lehrende beibringen, was richtig und was falsch ist, damit sie in Prüfungen „das Richtige“ schreiben oder sagen, um eine gute Note zu erzielen. Das ist aus studentischer Sicht ein durchaus vernünftiges und zielgerichtetes Agieren. 

In absehbarer Zeit wird es auch unter den Lehrenden einen wachsenden Anteil derjenigen geben, die in diesem stark an einem Richtig-falsch-Denken orientierten System studiert haben. Also in einem System, in dem eigenständiges Streben nach Erkenntnis eher erschwert als gefördert wird. Das liegt auch daran, dass Module häufig überfrachtet wurden, sodass für eine eigenständige Erschließung von Themen nicht hinreichend Zeit bleibt. Es zeichnet sich ab, dass diejenigen, die im neuen System studiert haben, dieses als normal betrachten und die Verengung, die es für intellektuelle Spielräume mit sich brachte, nicht wahrnehmen. Je mehr von ihnen an den Hochschulen lehren, desto stärker werden sich die negativen Folgen der Reformen dort verfestigen.

Feste Seminarstruktur und Prüfungsfixierung

Nun war zwar die Grundidee, dass im Bachelor verstärkt arbeitsmarktrelevante Qualifikationen vermittelt und im Master ein „besonderes Gewicht auf Forschung und eigenständiges Arbeiten“ („Sorbonne-Erklärung“) gelegt wird. Dem steht in der Realität aber entgegen, dass im Bachelor eine Konditionierung Richtung Aneignung vorgegebenen Wissens stattfindet, die im Master nicht so leicht aufzubrechen ist, zumal viele Masterstudiengänge ebenfalls eine feste Seminarstruktur und Prüfungsfixierung aufweisen.

Illustration: Karsten Petrat

Die Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder wandte die in vielen westlichen Ländern in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren populären New-Public-Management-Ansätze auf den Hochschulsektor an. Die Grundidee war, dass mehr Wettbewerb zu einem größeren und qualitativ besseren Forschungsoutput führt. Um diesen Wettbewerb sowohl zwischen Wissenschaftlern als auch zwischen Hochschulen anzufachen, wurden Leistungsindikatoren eingeführt. 

Die wichtigsten lauten: Höhe der eingeworbenen Drittmittel und ein hoher Hirsch-Index. Letzterer bildet die Anzahl von Publikationen in renommierten Fachzeitschriften sowie die Häufigkeit des Verweises auf die entsprechenden Texte in anderen Publikationen ab. Reputation, Karrierechancen und (im Fall von Professoren) Besoldung hängen damit in erster Linie davon ab, dass Wissenschaftler erfolgreich Drittmittel einwerben und dass ihre Texte ein Peer-Review-­Verfahren erfolgreich durchlaufen und als zitierfähig gelten. 

Grundfinanzierung der Hochschulen reduziert

Gesteuert wird der Wettbewerb durch eine Reihe an Instrumenten, die vor allem über die Ressourcenzuteilung ihre Wirkung entfalten sollen: Hochschulen, deren wissenschaftliches Personal viel Drittmittel einwirbt, erhalten aufgrund der leistungsorientierten Mittelvergabe einen größeren Anteil des Hochschulbudgets ihres Bundeslands. Die Hochschulen ihrerseits können die drittmittelstarken Fachbereiche beziehungsweise Professoren dadurch belohnen, dass sie ihnen einen entsprechend höheren Anteil dieser leistungs­orientierten Mittel zuteilen. 

Die Einführung der W-Besoldung für Professoren soll auf der individuellen Ebene Anreize zu mehr Leistung erzeugen: Professoren erhalten seit 2005 ein Grundgehalt, das durch ein besonderes Engagement in Forschung und Lehre ergänzt werden kann. Wer also bei den wissenschaftlichen Währungen Drittmitteleinwerbung und Publikationsstärke viel vorzuweisen hat, erzielt ein höheres Einkommen.

Parallel dazu wurde die Grundfinanzierung der Hochschulen reduziert. Damit stehen weniger Mittel aus der Quelle zur Verfügung, aus der unbefristete Beschäftigungsverhältnisse finanziert werden können. Folglich sind immer mehr Wissenschaftler darauf angewiesen, Drittmittel einzuwerben, um ihre Stelle weiter zu finanzieren. Wer die begehrten Drittmittel vergibt, ist dadurch in eine machtvolle Position gekommen. So können Drittmittelgeber schon allein dadurch, wofür sie Forschungsgelder zur Verfügung stellen, das Erkenntnisinteresse von Wissenschaftlern steuern. Und die Jurys, die sie zur Begutachtung einsetzen, können dafür sorgen, dass Anträge, die aus ideologischen Gründen unerwünscht sind, aussortiert werden.

Mehr Lenkungsmöglichkeiten durch den Staat

In einem System, in dem über 80 Prozent der Wissenschaftler befristet beschäftigt und in dem Drittmittel auch für Professoren reputations- und einkommensrelevant sind, ist Konformität der Weg zum Erfolg. Wer erfolgreich Drittmittel einwerben möchte, tut gut daran, der gewünschten Erkenntnisrichtung zu folgen und keine „problematischen“ Forschungsfragen zu stellen. 

Drittmittelabhängige Forschung hat überdies dem Staat mehr Lenkungsmöglichkeiten gegeben. Das betrifft insbesondere die Fachrichtungen, in denen in erheblichem Umfang Drittmittel von Ministerien ausgeschrieben werden. Hier kann die Politik das Erkenntnisinteresse von Wissenschaftlern in gewünschte Richtungen steuern: schlicht und einfach dadurch, dass sie die Wissenschaftler, die sich auf die Ausschreibungsziele einlassen, mit Ressourcen belohnt. 

Dort, wo Forschung ohne Drittmittel nur eingeschränkt möglich ist, wirkt sich der Erfolg bei der Mitteleinwerbung unmittelbar auf die zweite wissenschaftliche Währung aus: Publikationen. Diese steigen im Wert, wenn sie in prestigeträchtigen Fachzeitschriften oder Verlagen erscheinen und wenn sie „peer reviewed“ sind, also von anderen Wissenschaftlern positiv begutachtet wurden. 
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Das Peer-Review-Verfahren soll der Qualitätssicherung dienen, es hat aber erhebliche freiheitsfeindliche Nebenwirkungen. Und zwar dann, wenn den Gutachtern die charakterliche Stärke oder aus ideologischen Gründen die intellektuelle Offenheit dafür fehlt, Texte nur nach ihrer wissenschaftlichen Qualität und nicht nach der Opportunität der Ergebnisse für die eigene Forschung zu bewerten. Da Forschungsfragen, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie Gutachtern missfallen, karrierehinderlich sind, nehmen Wissenschaftler, die im System vorankommen möchten, davon lieber Abstand. 

In struktureller Hinsicht können die Hochschulreformen als Erfolg gewertet werden: Die Umsetzung der „Bologna-Erklärung“ hat wie beabsichtigt zu einer größeren Vergleichbarkeit von Abschlüssen und mehr Auslandsaufenthalten im Studium geführt. Die New-Public-Management-Reformen haben die Konkurrenz zwischen den Hochschulen und Wissenschaftlern belebt und zu einem gesteigerten Forschungsoutput geführt. 

Keine Rolle bei all diesen Reformen aber spielte die Stärkung intellektueller Freiräume als Voraussetzung für ein kreatives und innovatives Hochschulsystem. So wie in Deutschland vielfach Bachelor- und Masterstudiengänge konzipiert wurden, engen sie jedenfalls intellektuelle Freiräume und damit auch Freiräume zur Persönlichkeitsentwicklung ein. Und: Die New-Public-Management-Reformen haben die intellektuelle Risikobereitschaft von Wissenschaftlern, aus der Innovation erwächst und Kreativität freigesetzt wird, nicht gefördert. Im Gegenteil: Sie haben ein System hervorgebracht, in dem derjenige erfolgreich ist, der sich den Interessen der Drittmittelgeber und Gutachter anschließt. 

Ideologisch konforme Forschungsanträge

Die Hochschulen sollten sich auf die „Magna Charta Universitatum“ besinnen, die 1988 im Rahmen der Neunhundertjahrfeier der Universität Bologna von 388 Rektoren und Präsidenten europäischer Hochschulen unterzeichnet wurde, und die mittlerweile die Unterschriften von mehr als 900 Hochschulen trägt. Konkret: Sie sollten prüfen, inwieweit die Reformen der vergangenen 25 Jahre mit dem in der Charta festgehaltenen Grundsatz der Unabhängigkeit „gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mächten“ im Einklang stehen. 

Das gilt vor allem für die Drittmittelfinanzierung, die Wissenschaft in ein deutlich größeres Abhängigkeitsverhältnis von Wirtschaft und Politik gebracht hat. Es betrifft aber auch ideologische Strömungen, die in Teilen des Wissenschaftssystems den Konformitätsdruck stark erhöht haben, weil Wissenschaftler, die Forschung und Lehre als Mittel der Umsetzung gesellschaftspolitischer Agenden betrachten, nur ideologisch konforme Forschungsanträge oder Texte positiv begutachten.

Illustration: Karsten Petrat

Wettbewerb und intellektuelle Freiheit, welche der wichtigste Gradmesser für die im System verwirklichte Freiheit von Forschung und Lehre ist, sind nicht per se ein Gegensatzpaar. Sie werden es, wenn der Wettbewerb mit Instrumenten gesteuert wird, die dazu führen, dass Wissenschaftler vor der Frage stehen: Betrete ich mit Forschungsfragen karrieregefährdendes Territorium? Es ist Aufgabe der Hochschulen, dafür zu sorgen, dass Wissenschaftler sich solche Fragen nicht stellen müssen – solange diese Fragen sich im Rahmen von Verfassung und Gesetz bewegen. 

Hochschulen brauchen dafür die Unterstützung der Politik, die sich mit den freiheitsverengenden Konsequenzen der Hochschulreformen auseinandersetzen sollte. Das „Wissenschaftsjahr 2024“, das anlässlich des 75. Jubiläums des Grundgesetzes dem Thema Freiheit gewidmet ist, ist die perfekte Gelegenheit, um darüber nachzudenken, welche Veränderungen notwendig sind, damit wieder mehr intellektuelle Freiräume entstehen – für Studierende und Wissenschaftler.

Experimentieren mit Ideen und Argumenten

Abschließend noch einige Anregungen für all diejenigen, die derzeit für Forschung und Lehre Verantwortung tragen: Was es derzeit braucht, um das Hochschulsystem zu verbessern, wäre eine Erhöhung der Grundfinanzierung, sodass mehr drittmittelunabhängige Stellen geschaffen werden können. Ferner müssen Mechanismen eingerichtet werden, die verhindern können, dass die Vergabe von Drittmitteln de facto an ideologiekonforme Forschung gebunden ist. Zudem müssen Studiengänge so gestaltet werden, dass Freiräume für eigenständiges Denken, Experimentieren mit Ideen und Argumenten eine tragende Säule des Studiums sind. 

Dazu ist vor allem eine noch stärkere Abkehr von der Prüfungsfixierung und eine Entrümpelung der Curricula notwendig, ergänzt durch die Einrichtung einer größeren Zahl an Lehrformaten, die der Anregung und Entfaltung der intellektuellen Neugier dienen. Last but not least obliegt es auch den Studierenden, diese Freiräume einzufordern.
 

 

Die Januar-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

Jetzt Ausgabe kaufen
 

 

 

 

 

Sandra Kostner im Gespräch mit Ralf Hanselle
Cicero Podcast Gesellschaft: „Mit bestimmten Themen schießt man sich ins wissenschaftliche Aus“ 

Anzeige