Schwere Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann - Entartete Kunst

Weibliche Fans haben gegen den Sänger von Rammstein Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe erhoben. In der medialen Berichterstattung vermischen sich allerdings Zeugenaussagen mit Vorverurteilungen und feuilletonistischem Dünkel gegenüber der Band. Die Parallelen zum Fall Julian Reichelt sind unübersehbar. Und dann gibt es noch ein interessantes Detail.

Rammstein-Sänger Till Lindemann bei einem Konzert im mexikanischen Toluca, Dezember 2022 / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Wer den aktuellen Rammstein-Skandal aus popfeuilletonistischer Perspektive kommentiert, lässt in diesem Zusammenhang nur selten einen Zweifel daran, dass er oder sie diese Band schon immer für zumindest überbewertet wenn nicht kulturell wertlos oder gar für verachtungswürdig hielt. Rammstein gilt in den aufgeklärten Kreisen gewissermaßen als das musikalische Dunkeldeutschland: eine aus dem Osten stammende Brachial-Kapelle mit dumpfen Melodien, gewaltverherrlichenden Texten – und einem Frontmann, der seine sexistischen Sado-Fantasien auch noch nebenbei in Gedichtform veröffentlicht.

Erschienen sind Till Lindemanns Poeme im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, der sich nach den mutmaßlichen Übergriffen ihres Autors gar nicht schnell genug von ihm trennen konnte: „Mit Erschütterung“ habe man in den zurückliegenden Tagen die Vorwürfe gegen den Sänger verfolgt und dabei „Kenntnis erlangt von einem Porno-Video, in dem Till Lindemann sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert“ und in dem das 2013 im eigenen Verlag erschienene Buch „In stillen Nächten“ eine Rolle spiele. Kerstin Gleba, die Verlegerin höchstpersönlich, verkündet die Beendigung der Zusammenarbeit mit der Begründung eines „unheilbar“ zerrütteten Vertrauensverhältnisses.

Gedichte und Pornos

Selbstverständlich kann Lindemann, ob er nun Pornos oder Heimatromanzen dreht, seine eigenen Bücher als Requisite verwenden. Das weiß natürlich auch Kerstin Gleba, und dass ihr die beanstandete Sache mit den Sexfilmen eben erst zu Ohren gekommen sein soll, ist mindestens so glaubwürdig wie die gebetsmühlenartige Versicherung eines anderen Autors aus dem Hause Kiepenheuer & Witsch, sein neuer Bestseller sei rein fiktional und habe allenfalls in sehr groben Zügen mit eigenen Erlebnissen zu tun. Die Rede ist von Benjamin von Stuckrad-Barres „Roman“ mit dem Titel „Noch wach?“, in dem es unverkennbar um die vermeintliche (und in wesentlichen Teilen inzwischen widerlegte) #MeToo-Affäre des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt geht.

Der medial gehypte Ankläger gegen behaupteten strukturellen Sexismus im Springer-Konzern veröffentlicht seine Bücher im selben Verlag wie ein angeblich notorisch übergriffiger Rockstar? Dass da ein paar unangenehme Fragen auf sie zukommen könnten, ahnte die Chefin von Kiepenheuer & Witsch durchaus zu Recht – und dürfte deshalb lieber zu schnell als zu langsam die Notbremse gezogen haben. Originellerweise rekurriert Gleba in ihrer Kündigungsschrift an den Rammstein-Mann auf „die von uns so eisern verteidigte Trennung zwischen dem ,lyrischen Ich‘ und dem Autor/Künstler“, welche Lindemann durch die Platzierung seines eigenen Gedichtbandes in seinem eigenen Porno „selbst verhöhnt“ habe. Nun ja: An der kalkulierten Vermischung von „lyrischem Ich und dem Autor/Künstler“ verdient Glebas Verlag derzeit im Fall von Stuckrad-Barre jedenfalls ein Vermögen. Noch wach?

Die Parallelen zwischen dem Fall Lindemann und der Causa Reichelt liegen auch sonst einigermaßen offen zutage: Der Ex-Bild-Chef soll einst von einer seiner Kolleginnen „Sex on Demand“ erwartet haben (inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Avancen umgekehrt von der Mitarbeiterin selbst ausgingen). Rammstein-Sänger Lindemann wiederum wird vorgeworfen, am Rande von Konzerten gegenüber weiblichen Fans sexuell übergriffig geworden zu sein: Die Rede ist von einer Art Casting, bei dem junge Frauen vorab ausgewählt worden seien, um sie dem 60 Jahre alten Frontmann im Backstage-Bereich „zuzuführen“. Dort sei es zu Misshandlungen gekommen; eine Konzertbesucherin berichtet auch von eingesetzten „K.O.-Tropfen“. Lindemann und die anderen Rammstein-Musiker bestreiten die Vorwürfe und bitten darum, auf öffentliche Vorverurteilungen zu verzichten. Was natürlich völlig vergeblich ist, denn die mediale und politische Vorverurteilungsmaschinerie ist längst angelaufen und entfaltet jene brachiale Gewalt, mit der die Band sich sonst unter Zuhilfenahme von Pyrotechnik auf der Bühne in Szene setzt.

Es reicht, das Werk abscheulich zu finden

Aus der eingangs erwähnten popfeuilletonistischen Perspektive geht es denn auch weniger darum, die gegen Lindemann gerichteten Aussagen weiblicher Groupies auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen oder das Ergebnis laufender polizeilicher Ermittlungen abzuwarten. Sondern darum, sein Mütchen an der gesamten Band zu kühlen, die den eigenen ästhetischen und weltanschaulichen Vorstellungen offenbar komplett widerentspricht. So urteilt etwa der Stern-Autor Stephan Maus: „Eine irische Rammstein-Verehrerin erhebt schwere Vorwürfe gegen Sänger Till Lindemann. Bewiesen ist noch nichts. Doch man braucht kein Gerichtsurteil, um die Band abscheulich zu finden. Das Werk reicht.“ Exakt nach denselben Mechanismen hat vor gut zwei Jahren die #MeToo-Kampagne gegen Reichelt funktioniert: Es genügte, dass da ein als unangenehm empfundener Journalist bei einem als unangenehm empfundenen Verlag (Springer) für eine verhasste Zeitung (Bild) vermeintlich skandalöse Regierungskritik betrieb (etwa an den Corona-Maßnahmen), um ihn medial hinzurichten. Ganz nach dem Motto: Egal was dran ist, es trifft schon den Richtigen.

Wenig verwunderlich sind es die Grünen (im Münchener Stadtrat), die als erste Partei politisches Kapital aus der Rammstein-Affäre schlagen wollen: Eine Band, die in ihren Shows und Texten derart provokativ an den Grundfesten des politischen comme il faut rüttelt, muss auch im echten Leben, gelinde gesagt, höchst fragwürdig sein – zumal sie mit ihrem Programm auch noch maximal massentauglich ist, und zwar weltweit. Natürlich hüten sich die Grünen vor expliziten Präjudizien, aber der mit Blick auf bevorstehende Rammstein-Konzerte formulierte Forderungskatalog lässt wenig Zweifel daran, dass sie die aktuelle Gelegenheit auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen wollen. Darin finden sich ein Verbot des Row-Zero-Bereichs unmittelbar vor der Bühne (wo die von Rammstein handverlesenen Groupies die Konzerte aus nächster Nähe mitverfolgen konnten) ebenso wie die Bereitstellung von „Awareness Teams“ und die Einrichtung von „Safe Spaces“ für Fans. Anne Hübner, SPD-Fraktionschefin im Münchener Stadtrat, bezeichnete diese Initiative zwar schlichtweg als „Aktionismus und Augenwischerei“ – was die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus allerdings nicht davon abhielt, sich die Forderungen ihrer bayerischen Parteifreunde zu eigen zu machen. Merke: Vorverurteilungen können auch durchaus subtil daherkommen.

Unschuldsvermutung gilt auch für Böse-Buben-Bands

Gut möglich, dass sich die Vorwürfe gegen Lindemann und das „System Rammstein“ bestätigen. Aber die entsprechende Aufklärung ist Aufgabe der Ermittlungsbehörden und der Justiz. So ist das in einem Rechtsstaat. Dass die Medien eventuelle Missstände recherchieren, ist deren vornehmste Aufgabe. Doch solange die Aussagen möglicher Opfer ohne handfeste Beweise im Raum stehen (und auf Widerspruch der Betroffenen stoßen), gilt die Unschuldsvermutung – und zwar sogar für Böse-Buben-Bands wie Rammstein. Politiker, die dieses Prinzip verwässern, nur weil es ihnen gerade in den Kram passt, erweisen sich als ihres Amtes unwürdig. Das muss man so klar aussprechen, damit der in Deutschland vorherrschenden Gesinnungsindustrie nicht immer weiter Vorschub geleistet wird. Es ist schon genug ins Rutschen geraten.

Ein besonders abschreckendes Beispiel lieferte an diesem Dienstag eine Kabarettistin namens Teresa Reichl in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Über die (immerhin vormals durch Veröffentlichung in einem renommierten Verlag nobilitierten) Verse Till Lindemanns befand sie: „Wieso will jemand solche Gedichte schreiben? Und wieso sollte jemand solche Gedichte lesen wollen?“ Diese Fragen – übrigens erkennbar nicht in einem humoristischen Kontext gestellt – lassen Schlimmeres befürchten. Und tatsächlich schob Reichl auch gleich ihre Antwort hinterher: „Das ist keine Literatur, die es braucht!“

Oder wie man früher gesagt hätte: Der Rammstein-Lyriker produziert entartete Kunst.

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