Kulturelle Aneignung
Das Vorhandene zu nehmen, es weiterzutreiben, ihm neuen Puls einzupusten, das ist das lebendige Wesen von Kultur. Ihm entgegen steht das sture Beharrenwollen vieler Folkloristen, die tribal, identitär und statisch im Denken sind, und die sich, wenn es im Kopf so dunkel wie im Kühlschrank wird, Konzepte überlegen wie das von der „kulturellen Aneignung“. Michael Köhlmeier ist dieser Einfrierkultur abhold. In „Das Schöne“ nimmt er sich vor, was ihm gefällt, und er wienert auch alten Schmuckstücken neuen Glanz ab: Thomas Mann, Robinson Crusoe, Bulgakow – sie spenden Menschen aller Herkunft Trost. Ergänzend wagt Köhlmeier eine Ortsbegehung der krude ausgebauten, mies beleuchteten Festung des kulturellen Identitätsgedankens, dann wendet er sich wieder dem Schönen und universell Kennenswerten zu. Youtube-Videos etwa, in denen alte rostige Scheren so lange bearbeitet und poliert werden, bis sie wieder blitzen – verbeult und gebraucht und doch wie neu.
Michael Köhlmeier: Das Schöne. 59 Begeisterungen. Ungekürzte Lesungen. Der Hörverlag 2023. 7 Stunden, 23 €
Berufsaneignung
Wenn Promis aller Sparten, bloß weil ihr Gesicht bekannt ist, sich als Autorinnen oder Schauspieler betätigen, frage ich mich: Wann hat Deutschland aufgehört, Ausbildungsland zu sein? Und ist diese Form des beruflichen Übergriffs nicht eine kulturelle Aneignung? So wie du die Regeln einer Kultur erlernt hast, so hast du ja auch deinen Schauspielerinnen- und Sprecherberuf unter Schweiß und Tränen erworben. Warum zum Himmel sollen dann Schauspieler Romane schreiben, Dichter das Tagesgeschehen kommentieren, Milliardäre boxen oder Fußballtrainer im „Tatort“ spielen? Für das Hörbuch von Uwe Johnsons Klassiker „Jahrestage“ hat man sich nun entschieden, neben der sicheren Nummer Charly Hübner die Tagesthemen-Sprecherin Caren Miosga auf das Filetstück loszulassen. Die Nachricht dazu sei hiermit verlesen und verkündet: Sie macht es gar nicht mal verkehrt! Eigentlich atmet man sogar auf, dass keine Ausgebildete von der dramatisch-verletzlichen deutschen Vorlesereikunst sich hier nach vorn drängeln durfte.
Uwe Johnson: Jahrestage. Ungekürzte Lesung mit Charly Hübner und Caren Miosga. Der Audio Verlag 2023. ca. 74 Stunden, 60 €
Historien-Aneignung
Vor allen anderen Kulturen muss man sich zunächst die eigene aneignen. Das fällt schon schwer genug. Im zweiten Teil des Hörbuchprojekts „Jahrhundertstimmen“ tritt uns die deutsche Überlieferung entgegen: Mit äußerstem Fleiß zusammengetragen, baut sie sich monumental vor uns auf. Da tut es gut, dass (Kultur-)Geschichte sich immer auch als Farce abspielt und gern mal unfreiwillig komisch wird. Dieser Franz Josef Strauß etwa, der gerade zwei Kilo Kreide geschluckt hat, um sich im Bundestagswahlkampf als weiser Mann zu präsentieren, und der dann doch nur wieder in Polemik abdriftet. Oder Udo Lindenbergs bubenhafter Stolz auf seine PR-Tricksereien mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker („Das war ’ne totale Verarsche!“). Willy Brandts nervenzerfetzende Schwerfälligkeit am Mikrofon. Oder die Puppenstuben-Erklärung des Dritten Reiches und seiner Nachwirkungen durch Alexander Mitscherlich mithilfe des psychoanalytischen Zettelkästchens … Soll das nun alles meine Kultur sein, der ich schicksalhaft angehöre? I’d rather not.
Hans Sarkowicz u.a.: Jahrhundertstimmen 2: 1945–2000. Deutsche Geschichte in über 40 Originalaufnahmen. Der Hörverlag 2023. ca. 40 Stunden, 65 €
Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie direkt bei uns kaufen können.
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