Ukraine-Krieg - Clausewitz lesen!

Putin verhält sich weder irrational, noch ist er ein Hitler. Sondern bewegt sich vollkommen in der traditionellen Logik des 19. Jahrhunderts. Das hätte man wissen können, wenn man im Westen die Theorien Carl von Clausewitz’ nicht voreilig als überholt abgetan hätte. Zeit, wieder in Clausewitz hineinzuschauen. Denn innerhalb von dessen Machtrationalismus liegen auch die Lösungen des Ukraine-Konflikts.

Carl von Clausewitz (Gemälde von Wilhelm Wach) / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Der Westen war naiv. Der Westen war verblendet. Und er ist es immer noch. Von sich selbst, seiner eigenen Modernität, seiner Friedfertigkeit. Niemand hat ernsthaft daran geglaubt, dass im 21. Jahrhundert jemand zu den Machtmitteln vergangener Jahrhunderte greifen könnte. Doch Putin hat es getan. Auch daraus erklären sich die unbesonnenen und kurz gedachten Reaktionen auf den russischen Einmarsch in der Ukraine.

Dass man so blind und selbstgefällig war, hat auch damit zu tun, dass man die grundlegenden Überlegungen jenes Mannes als vollkommen überholt abgetan hat, der wie kaum ein anderer das Wesen des Krieges analysierte: Carl von Clausewitz.
In seinem berühmten Buch „Vom Kriege“ findet man genau jenes Szenario breit entfaltet, das sich soeben vor unseren Augen abspielt. Doch Clausewitz gehört zu jenen Autoren, die zwar laufend zitiert, aber so gut wie nie gelesen werden. Stattdessen greift man lieber zu „Clausewitz für Manager“.

Das hat auch damit zu tun, dass die Theorien des preußischen Generals der napoleonischen Kriege angesichts des Atomwaffenzeitalters für überholt gehalten wurden. So kann man sich irren. Putin allerdings scheint seinen Clausewitz studiert zu haben.

Krieg als „fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln“

Denn dort kann man nachlesen, was Krieg seiner Sache nach ist: ein Mittel der Politik. In den Worten Clausewitz’: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ Krieg gehört somit zum politischen Besteckkasten. Putin war das immer klar. Den USA übrigens auch. Nur in Europa und insbesondere in Deutschland hat man so getan, als kämen diese Worte aus einer überholten Welt. Ein wichtiges Argument dafür war Clausewitz’ Bemerkung, dem Krieg wohne die Tendenz „zum Äußersten“ inne. Im Zeitalter von Atomwaffen ein Unding.

Doch Clausewitz’ Argument ist ein anderes, man muss nur mehr lesen als die Überschriften: Dass dem Krieg seiner Natur nach die Tendenz zum äußersten innewohne, ist eine Definition, keine Forderung. Gerade aber weil der Krieg immer auch ein Mittel der Politik ist, wird diese expansive Tendenz gebändigt und unter Kontrolle gehalten. Maß des Krieges ist daher immer „der politische Zweck“, dem er dient.

Daher auch sind Krieg und Frieden für Clausewitz keine Gegensätze. Sie sind lediglich Erscheinungsformen des Politischen. Das bedeutet zum einen, dass Krieg „nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln“, gerade deshalb aber immer das Primat der Politik gilt. Sie ist es, die über Ziel, Beginn, Ende und Umfang des Krieges entscheidet. Auch das ist im Übrigen keine Forderung, sondern eine begriffliche Feststellung.

Teilung des politischen Willens

In der russischen und sowjetischen Rezeption hat man diese Einheit von Politik und Krieg – anders als im Westen – nie vergessen. Lenin, begeisterter Clausewitz-Leser, erweiterte dabei Clausewitz’ Grundgedanken, indem er Politik wiederum als Ausdruck von Klasseninteressen interpretiert. Das führt in der Folge dazu, dass sich im sowjetischen Denken das Verhältnis von Krieg und Frieden verschob. Der langjährige sowjetischen Generalstabschef und enge Vertraute Stalins Marschall Schaposchnikow sah entsprechend im „Frieden nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“. Das ist ein reichlich verzerrt gelesener Clausewitz, doch ist man hier sehr dicht dran auch am postsowjetischen Denken Wladimir Putins.

Ganz anders im Westen. Hier wurde Clausewitz zwar gehypt: Es gibt Clausewitz-Tassen, Clausewitz-T-Shirts und Clausewitz-Mousepads. Nur gelesen hat ihn niemand. Sonst hätte man wissen können, dass Putin kein Verrückter ist, sondern nach traditioneller Rationalität das Schlachtfeld als einen Ort der Politik sieht. Es ist daher irreführend und gefährlich, in Putin einen Hitler zu sehen oder gar einen Geisteskranken. Denn Hitler sprengte mit seinem Handeln den Rationalitätsrahmen des 19. Jahrhunderts vollkommen. Für ihn war Krieg kein Mittel der Politik, sondern Politik überhaupt ein Zeichen von Schwäche. Anders Putin. Im Rahmen des von Clausewitz beschriebenen Denkrahmens verhält er sich rational und sachlich. Deshalb auch sind Befürchtungen, Putin plane eigentlich eine Art Restauratio imperii, vermutlich unbegründet. Der Kremlherrscher ist kein wahnsinniger Welteneroberer von der Sorte des Zollbeamtensohnes aus Braunau, sondern ein traditioneller Herrscher und Spieler alteuropäischer Machtlogik – die der Westen allerdings überwunden glaubte und nicht mehr versteht. Daraus entstehen leicht folgenschwere strategische Fehler.

Denn innerhalb der Clausewitz’schen Rationalität liegen auch die möglichen Lösungen des Konflikts. Wenn es keiner Partei gelingt, einen strategischen Sieg zu erringen, also der anderen Seite ihren politischen Willen aufzuzwingen, dann muss es zu einer Teilung des politischen Willens kommen.

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