Zum Tod von Florian Schneider-Esleben - Das Kraftwerk der modernen Musikgeschichte

Kein Musikprojekt hatte einen vergleichbaren Einfluss auf die Popmusik wie Kraftwerk. Die Düsseldorfer Musiker um den verstorbenen Florian Schneider-Esleben waren futuristische Romantiker und wagten auch äußerlich die Revolution.

Die Mensch-Maschine Kraftwerk / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die Zukunft begann im Jahr 1974 mit dem Öffnen und Zuschlagen einer Autotür. Dann hörte man einen Anlasser. Es folgte ein synthetisches Hupgeräusch, schließlich eine verfremdete Stimme, die in immer höheren Kadenzen das Wort „Autobahn“ zu einem einsetzenden monotonen Rhythmus wiederholte. Endlich setzte die Melodie ein: Vier Töne im 4/4-Takt in unaufgeregtem F-Dur, die schließlich in dem ebenso lakonischen wie naiven Refrain „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ münden. Das alles endet nach exakt 22 Minuten und 48 Sekunden.

Das Stück „Autobahn“ ist ein Meilenstein. Es ist nicht übertrieben, die moderne Musikgeschichte in die Zeit vor und die Zeit nach „Autobahn“ einzuteilen. Geschrieben hatten das Meisterwerk Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben.

Dann kam Kraftwerk

Elektronische Musik gab es auch vor „Autobahn“. Im Bereich der Kunstmusik experimentierte man schon in den 40er Jahren mit elektronisch erzeugten Tönen. 1951 dann gründete der Physiker Werner Meyer-Eppler beim damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) das legendäre Studio für elektronische Musik in Köln.

In der Popmusik kamen elektronische Sounds erst Ende der 60er Jahre zum Einsatz. 1964 hatte der Tüftler Robert Moog den ersten halbwegs transportablen und bezahlbaren Synthesizer auf den Markt gebracht. Die erste Band, die damit experimentierte, waren die Monkees, es folgten die Beatles auf ihrem Abbey-Road-Album, später die Doors und andere. Zumeist erschöpfte sich der Einsatz des Synthesizers jedoch in psychedelischem Hintergrundgewaber zwischen Sitarklängen und Rückkopplungsschleifen. Dann kam Kraftwerk.

„Ruckzuck“ macht Kraftwerk schlagartig bekannt

Kennengelernt hatten sich Schneider und Hütter 1968 auf einer Jazz-Akademie. Schneider-Esleben studierte zu dieser Zeit Querflöte am Düsseldorfer Robert-Schuhmann-Konservatorium. Sein Vater Paul schuf als Architekt Klassiker der bundesdeutschen Nachkriegsmoderne wie das Mannesmannhochhaus. In diesem Spannungsfeld zwischen Klassik und ästhetischem Futurismus wird sich Florian Schneider Zeit seines Lebens bewegen.

Zusammen mit Hütter gründet er zunächst die Band Organisation. Man experimentiert mit Free-Jazz-Elementen und freier Improvisation. 1970 folgt dann das Projekt Kraftwerk. Der Klang auf den ersten Alben wird bestimmt von Orgel, Flöte, Geige und Schlagzeug. Immerhin: Das Stück „Ruckzuck“ macht Kraftwerk schlagartig bekannt und avanciert zwischenzeitlich zur Erkennungsmelodie des Politmagazins Kennzeichen D.

Der Seitenscheitel sitzt

Später werden Hütter und Schneider die Alben vor „Autobahn“ aus dem offiziellen Kraftwerk-Kanon streichen. Denn „Autobahn“ markiert den Bruch. Erstmals legten die beiden Klangingenieure eine ausschließlich mit elektronischen Instrumenten erzeugte Platte vor. Gleichzeit änderte sich das ästhetische Konzept radikal: Einfache Melodien, klare Strukturen, markante Rhythmen, verfremdete Klänge, an die Minimal Music erinnernde Motivschleifen von mitunter meditativer Konzentration.

Und auch äußerlich wagen Kraftwerk die Revolution: In einer Zeit, in der lange Haare und schweißtreibendes Gitarrenspiel zum guten Ton gehören, stehen Schneider, Hütter und ihre Mitstreiter unbeweglich hinter ihren Synthesizern, der Seitenscheitel sitzt ebenso wie Anzug und Krawatte. Statt eine Bühnenshow flimmern Videos über Bildschirme. Als man ab 1978, anlässlich der Platte „Mensch-Maschine“, die Musiker durch roboterhafte Kopien ihrer selbst ersetzt, ist das nur konsequent. Und auch jenseits ihrer Musik verschreiben sich die Kraftwerker einem radikalen Minimalismus. Interviews gibt es kaum. Schon gar nicht von Schneider. Und wenn, geraten sie äußerst einsilbig.

Absage an jedes Authentizitätsgetue

Ästhetisch versuchte Kraftwerk an die 20er Jahre anzuschließen. Hütter und Schneider imaginierten einen deutschen Weg in die Populärkultur, den es in der Realität nicht gegeben hatte: die Moderne von Bauhaus und Metropolis im Computerzeitalter. Das hatte, bei aller Hypermodernität, auch immer eine nostalgische Note. Kraftwerk, das war futuristische Romantik. Und dank ihrer Kühle und technischen Präzision zugleich eine Absage an jedes Authentizitätsgetue.

Einer der ersten, die die Bedeutung von Kraftwerk in ihrer ganzen Tragweite erfasste, war David Bowie. Sein Angebot als Vorband aufzutreten, schlugen die Düsseldorfer aus. Bowie war nicht gram und widmete Schneider zusammen mit Brian Eno das Instrumentalstück „V-2 Schneider“.

Einfluss und Verehrung

Kein Musikprojekt hatte einen vergleichbaren Einfluss auf die Popmusik: Joy Division, New Order, OMD, Heaven 17, Depeche Mode, Radiohead bis hin zu Techno und Hip-Hop wären ohne Kraftwerk nicht denkbar. Keine Band genießt unter anderen Bands eine vergleichbare Verehrung.

Wie am Mittwoch bekannt wurde verstarb Florian Schneider, der mit Abstand wichtigste deutsche Musiker der Nachkriegszeit, Ende April, wenige Tage nach seinem 73. Geburtstag.

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