Stilkritik zu den Wahlplakaten mit Franziska Giffey - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Ausgerechnet die Ostdeutsche Franziska Giffey verkörpert im Kampf um die Nachfolge von Michael Müller jenes West-Berlin, das dereinst vom Kontrollpunkt Dreilinden bis zu Butter Lindner in Charlottenburg reichte. Mit dem Mauerfall ist dieser tote Winkel der damals angeblich so freien Welt in Vergessenheit geraten.

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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Haben Sie es im vorigen Februar auch gesehen? Kamala Harris war in der Vogue. Sie trug einen sportlichen Hosenanzug in Zedernholz-Optik, ein helles Shirt und dazu Turnschuhe der Marke Converse. Im Hintergrund waren Stoffbahnen in edlen Pastellfarben aufgespannt. Alles wirklich piekfein und dennoch irgendwie lässig-leger. Fotografiert wurde Amerikas damals wohl stilsicherste Nachwuchskraft, diese Newcomerin mit Wow-Effekt, vom Kamera-Shootingstar Tyler Mitchel.

Und haben Sie möglicherweise auch dies gesehen? Franziska Giffey war in der Brigitte. Sie hatte eine altbackene Steckfrisur, trug ein altrosa Etuikleid und einen Kurzblazer wie ein Vintage Revival aus dem Wirtschaftswunderland. In Szene gesetzt wurde das bereits 2018 veröffentlichte Shooting von einem gewissen Gene Glover – aber es hätte natürlich auch von F.C. Gundlach oder von Irving Penn sein können. Denn Giffey hat den New Look – also die original Apparenz aus dem Hause Christian Dior. In der Erscheinung der 43-Jährigen pendelt irgendwie noch immer der Schwung von Hula-Hoop und Swingin‘ Fifties nach.

„Fachkraft fürs Gedöns“

Das ist natürlich für sich genommen kein Novum. Schon 2018, als Angela Merkel die damalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln zu sich an den Kabinettstisch holte, fiel die gebürtige Ost-Brandenburgerin in erster Linie durch Gesetzesinitiativen mit lustigem Beinamen sowie eben durch ihre putzigen und verzopften Kostümchen auf. Doch die Deutschen schienen Giffeys Kombi zu lieben: Aus Merkels „Fachkraft fürs Gedöns“ wurde damals wie über Nacht die beliebteste Ministerin der Großen Koalition.

Blondinen bevorzugt: Wahlplakat der SPD

Nun aber, wo das plagiierte Fräuleinwunder ansetzt, Regierende Bürgermeisterin von Berlin zu werden, hat sie die Fünfzigerjahre endgültig zum markenspezifischen Signet erkoren. Denn wenn Berlins derzeit wohl aussichtsreichste Anwärterin auf den Chefsessel im Roten Rathaus durch die Werbelandschaften der SPD stolziert, dann ist es, als würde eine zugegeben etwas pausbäckige Jeanne Moreau ein letztes Mal durch das Set von Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ herumirren. Wie hineingestanzt wirkt sie in überbelichtete Stadtlandschaften oder an die Beckenränder von Schwimmbassins, die mit ihren ausgewaschenen Farben nach Chlor und Persilschein riechen.

Zeitreise ins West-Berlin vor dem Mauerfall

Es ist eine merkwürdige Zeitreise, die man derzeit als Wähler auf den Großflächenplakaten der Hauptstadt antreten kann: Mit Giffey, dieser letzten Probiermamsell der Berliner Sozialdemokratie, kriegen besonders die einstigen Insulaner aus Trizonesien wieder Heimweh nach dem Kurfürstendamm, und ab und an wünscht man sich mindestens noch einen Koffer in Berlin zu haben – und nicht, wie derzeit eher üblich, ein Betoninvestment, gehalten von einem x-beliebigen dänischen Pensionsfonds. Ausgerechnet die Ostdeutsche Franziska Giffey verkörpert im aktuellen Kampf um die Nachfolge von Michael Müller jenes West-Berlin, das dereinst vom Kontrollpunkt Dreilinden bis zu Butter Lindner in Charlottenburg reichte. Mit dem Mauerfall ist dieser tote Winkel der damals angeblich so freien Welt ebenso in Vergessenheit geraten wie Pittiplatsch und Schnatterinchen.

Es ist ein wirklich großartiger Coup, der der Agentur „Ballhaus West“ mit dieser visuellen Suche nach der verlorenen Zeit gelungen ist. Denn nichts vermisst der 1989 in die Zukunft geschubste Berliner doch letztlich so sehr, wie seine unabgeschlossene Vergangenheit – diese nie zu Ende getrauerte Wehmut um Manna und Rosinenbomber. Giffeys Zweiteiler sind in dieser Hinsicht wie stoffgewordene Zeichen einer ehemals ebenso zweigeteilten Stadt.

Sehr spezifische Berliner Dialektik

Auf die CDU um den Spitzenkandidat Kai Wegner muss die SPD-Kampagne geradewegs wie ein zweiter Sputnik-Schock gewirkt haben. Hüben French Couture und wadenlange Röcke, drüben ein Kandidat, der selbst von seinem Spandauer Ortsverband im piefigsten Jargon nur „Kleingarten-Kai“ genannt wird. Und selbst die Grünen scheinen von Giffeys Kostümzwang noch immer derart benommen zu sein, dass Spitzenkandidatin Bettina Jarrasch nun zum Gegengift greift: „Politik, die sich in kein Kostüm zwängen lässt“, so der aktuelle Slogan der grünen Amtsanwärterin, die auf ihren eigenen Plakaten eher nach Rockröhre, denn nach dem Handbuch für die gute Hausfrau aussieht.

Giffeys Zeitsprung zeigt also Wirkung. Das Allerbeste an dem ganzen Fifties-Gedöns ist indes dieses: Bei der Rolle rückwärts kann das Beste immer noch kommen! Jeder, der von heute aus auf die Nierentisch-Ära unserer Großeltern schaut, weiß schließlich nur allzu gut, dass die klemmigen Nachkriegsjahre ja nur die Startrampe in Prosperität und Wohlstand waren. Giffey scheint diese sehr spezifische Berliner Dialektik verstanden zu haben. Ihr Retro-Style ist wie ein Versprechen: Man kann an der Spree auch alt aussehen und gerade deshalb für den kommenden Fortschritt stehen. Da muss man erst mal drauf kommen. Auch in dieser Hinsicht verkörpert die SPD-Kandidatin eine olle Knef-Kamelle: „Nichts haut mich um – aber du!“

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