Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
()
Spengler und die Ibsenweiber

Mit seiner Zeitdiagnose allgemeiner Dekadenz stieg Oswald Spengler ("Der Untergang des Abendlandes") zum berühmtesten Kulturpessimisten seiner Generation auf. Er ersehnte ein neues Cäsarentum - und damit, so seine Kritiker, wurde er zum geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Heute ist die Spengler-Rezeption differenzierter. War er Hassprediger oder Visionär? Und warum durchzieht ein angstneurotisches Frauenbild sein Werk? Diesen Fragen geht Gerhard Henschel nach

Im Dezember 2009 fand im belgischen Leuven eine internationale Tagung statt, deren Organisatoren sich vorgenommen hatten, den Kulturphilosophen Oswald Spengler "als Zeitgenossen zu 'rehabilitieren'" und ihm gerechter zu werden als jene seiner Widersacher, die sich über ihn lustig machten, ohne seine Werke gelesen zu haben. In der Ankündigung hieß es: "Nach der Verstörung von eindeutigen Links/Rechts-Gegensätzen seit 1989 kann eine auffällige Renaissance von Spenglers Werk - und allgemeiner von kulturpessimistischen Diskursen - festgestellt werden." Der Gerechtigkeit halber gehört dazu allerdings auch das Bild, das Spengler von sich selbst gezeichnet hat, in privaten, der Nachwelt hinterlassenen Notizen. Darin zeigt sich ein Mensch, der insgeheim ganz andere und viel größere Sorgen hatte als die um das untergangsbedrohte Abendland.

Unmittelbar nach dem militärischen Zusammenbruch der Mittelmächte, der Abdankung und der Flucht des Kaisers und der Ausrufung der Republik im November 1918, veröffentlichte die monarchistische Kreuz-Zeitung einen Leitartikel, dem die seelische Erschütterung seines Verfassers anzumerken war: "Wir stehen noch mitten in einer Umwälzung, wie sie die Geschichte bisher nicht gesehen hat. Selbst der Umsturz des zaristischen Russland ist kaum zum Vergleich heranzuziehen, denn dort war die Struktur des Staates schon längst auf flüssigen Sand gebaut, während wir alle fest geglaubt hatten, dass der Aufbau Preußen-Deutschlands und vor allem der Armee zu fest verankert ist, um innerhalb weniger Tage in die Brüche zu gehen."

Eine Erklärung für diese dramatische Umwälzung schien das konservative Bildungsbürgertum in Oswald Spenglers Studie über den "Untergang des Abendlandes" finden zu können. Die These, dass der organische Zyklus der abendländischen Kultur gegenwärtig seinem schicksalhaft bestimmten Ende entgegengehe, bot den Lesern immerhin den Trost des Glaubens an eine historische, selbst in den blutigsten Klassenkämpfen und im Siegeszug einer profanen Massenzivilisation wirksame Gesetzmäßigkeit.

Damit ließ sich alles, was den Lesern widerstrebte, als Zeichen eines unaufhaltsamen Niedergangs deuten, der noch jede große Kultur ereilt habe.

Sozialdemokratie, Bolschewismus, Warenhäuser, Frauenwahlrecht, Pferderennen, Kintopp, Illustrierte, Jazz und freie Liebe fügten sich hier scheinbar zwanglos in das Gesamtbild einer untergangsgeweihten Epoche ein, und über all diesen Verfallserscheinungen kreiste einsam der Geist eines trauernden, für eine Glanzrolle in der Renaissance leider viel zu spät geborenen Systematikers: "Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen Takte geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewusstsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des 'Vergnügens' und die geistige der 'Aufregung' des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewusstsein genossene Mystik - das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder. Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten - man wird das alles in Rom wiederfinden, und ein Kenner sollte einmal die Untersuchung auf die indischen, chinesischen und arabischen Weltstädte ausdehnen."

Die Aufzählung moderner Zivilisationsphänomene weist Spengler jedoch nicht als ihren Kenner, sondern nur als ihren Gegner aus. Er wusste nicht, wovon er sprach, als er das sinnliche Vergnügen an Kinofilmen, Kartenspielen und Tanzabenden in Anführungsstriche setzte, und wenn es in Rom tatsächlich so etwas wie Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten gegeben hätte, wäre ein Vorläufer Oswald Spenglers dort als Vergnügungsreiseleiter eine krasse Fehlbesetzung gewesen. Zu seiner Unvertrautheit mit dem großstädtischen Nachtleben passt auch die trotzige Geste, mit der er alle ihm unbekannten Prosawerke seiner Zeitgenossen abtat. "Bis jetzt haben wir nur die Romane von Goethe, der Rest ist Plunder."

Der Gedanke, dass der Romanautor Goethe dem Lyriker und dem Dramatiker Goethe hoffnungslos unterlegen sei, konnte Spengler in seiner Isolation nicht so leicht anfliegen wie die Vermutung, dass es außerhalb seiner Studierstube gegenwärtig fideler zugehe als auf den Höfen des altgermanischen Bauernstands: "Das Urweib, das Bauernweib ist Mutter. Seine ganze von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen. Jetzt aber taucht das Ibsenweib auf, die Kameradin, die Heldin einer ganzen weltstädtischen Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, 'sich gegenseitig zu verstehen'. Es ist ganz gleichgültig, ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet, weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet, dass ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie 'sich selbst gehört'. Sie gehören alle sich selbst, und sie sind alle unfruchtbar."

Für das moderne Ibsenweib hatte Spengler nur Verachtung übrig, und es schauderte ihn vor dessen Verehrern: "Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeit lang das Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen." Sich selbst rechnete Spengler dem kulturfähigen Menschentum zu, das seine Entmachtung durch den Fellachentypus mannhaft ertragen müsse, mit dem Mut der Verzweiflung über ein grausames, nur wahrhaft großen Menschen zugemessenes Schicksal.

Für einen innerlich gestählten Denker, der im Zerfall des geistigen Adels eine historische Notwendigkeit erkannt und sich von allen Illusionen befreit hatte, ging Spengler dann aber doch mit einem etwas zu giftigen Zungenschlag auf das Treiben der Fellachen und den Egoismus unfruchtbarer Ibsenweiber ein, die er natürlich nicht persönlich kannte, sondern allein aus der Literatur und vom Hörensagen. Auch zum unverdorbenen bäurischen Urweib unterhielt er keine nähere Beziehung als die eines schwärmerischen Gelehrten zu verschollenen Objekten der Geschichtswissenschaft, und es ist fraglich, ob man ihm seine Verehrung für das schlichte Bauernweib abnehmen darf. Zwischen Mann und Frau sah er einen unüberbrückbaren Abgrund klaffen: "Im Wesen des Mannes liegt etwas Zwiespältiges. Er ist dies und noch etwas anderes, was das Weib weder begreift noch anerkennt und als Raub und Gewalt an seinem Heiligsten empfindet. Das ist der geheime Urkrieg der Geschlechter, der ewig dauert, seit es Geschlechter gibt, erbittert ohne Versöhnung, ohne Gnade. Es gibt auch da Politik, Schlachten, Bündnisse, Vertrag und Verrat. Die Rassegefühle von Hass und Liebe, die beide aus den Tiefen der Weltsehnsucht, aus dem Urgefühl der Richtung stammen, herrschen zwischen den Geschlechtern unheimlicher noch als in der andern Geschichte zwischen Mann und Mann. Es gibt Liebeslyrik und Kriegslyrik, Liebestänze und Waffentänze und zwei Arten der Tragödie - Othello und Macbeth -, aber bis an die Abgründe von Klytämnestras und Kriemhilds Rache reicht nichts in der politischen Welt." Davor schauderte es Spengler, und in seinem Grauen vor der Raserei des entfesselten Weibes übersah er den denkbaren Einwand, dass auch Kriemhild und Klytämnestra dem männlichen Geist entsprungen seien.

Aus dem geheimen Urkrieg zwischen den Geschlechtern zog Spengler sich auf den Standpunkt zurück, dass alles darauf ankomme, die eigene Würde zu wahren: "Ehre im Leibe haben, heißt beinahe so viel wie Rasse haben. Das Gegenteil sind die Thersitesnaturen, die Kotseelen, der Pöbel: 'Tritt mich, aber lass mich leben.' Eine Beleidigung hinnehmen, eine Niederlage vergessen, vor dem Feinde winseln -, das ist alles Zeichen wertlos und überflüssig gewordenen Lebens und also etwas ganz anderes als priesterliche Moral, die sich nicht an das wenn auch noch so verächtlich gewordene Leben klammert, sondern vom Leben und damit der Ehre überhaupt absieht."

Das Los, sich vor dem Bajonett eines feindlichen Soldaten spontan zwischen Todesmut und Kotseelenfeigheit entscheiden zu müssen, war Spengler erspart geblieben, doch er fand auch im Hinterland Gelegenheiten zur Bewährung seiner Opferbereitschaft. Einen im Felde stehenden Bekannten informierte er 1915 brieflich darüber, dass er als nervenleidender Zivilist in München Ärgeres erdulden müsse als irgendein Frontsoldat: "4 Tage in der Woche Kopfschmerzen und buchstäblich nicht einen Menschen, mit dem man über etwas tiefere Sachen reden könnte ('unter Larven die einzige fühlende Brust'), das drückt mitten in einer großen Stadt mehr als im Schützengraben." Denn der Alltag im Schützengraben verlief zweifellos abwechslungsreicher als das Leben eines kontaktarmen Denkers, der in einer Millionenstadt den Anschluss an ebenbürtige Gesprächspartner vermisste, und insofern hatte Spengler sicherlich recht mit der Vermutung, dass er an der Front seltener als in der Heimat dazu gekommen wäre, seinem Leidensdruck nachzuspüren und die eigene Brust als die einzige fühlende unter Larven zu betrachten, die über etwas tiefere Sachen nicht mit sich reden ließen. Er war dann aber doch so gefühlsroh, dass er mit der Klage über sein Kopfweh einem Frontsoldaten zu imponieren versuchte, und so tumb, dass er in seinem Selbstmitleid keinen Widerspruch zu seinen unablässig angestimmten Heldengesängen wahrnahm.

In diesem Weltkrieg hatte Spengler, wie er offenherzig eingestand, nicht genug Blut gesehen: "Wir brauchen eine Züchtigung, gegen die die vier Kriegsjahre noch harmlos sind." Die Züchtigung der Frontsoldaten durch Gasangriffe und der Kriegerwitwen durch ihr namenloses Leid hatte Spenglers Vergeltungsdrang nicht befriedigt. Er wünschte sich jetzt "eine Diktatur, irgendetwas Napoleonisches", und dann, so fuhr er fort, "muss Blut fließen, je mehr, desto besser; eine lächerliche Nachgiebigkeit in Form von Mehrheitsregierungen und Duldung aller Meinungen, wie sie unsere lächerlichen Literaten von der Nationalversammlung erträumen, ist gar nicht möglich". Die Möglichkeit, dass in der ersehnten Diktatur auch sein eigenes Blut fließen könne, scheint Spengler in seinem Zorn nicht bedacht zu haben. Gottes Züchtigung flehte er ausschließlich auf die Kotseelen herab, auf die Fellachen und ihre Ibsenweiber, in privaten Briefen, die ihm drastischere Selbstbekenntnisse ermöglichten als der entsagungsvolle Dienst an seinem Lebenswerk.

Es sollte dastehen wie eine Kathedrale, doch es knirschte im Gebälk. Robert Musil missfiel an Spenglers Stil das "Überfließen einer lyrischen Ungenauigkeit in die Gevierte der Vernunft", und das war eine sehr höfliche Umschreibung des Eindrucks, dass der Autor schwadroniere und sich nicht beherrschen könne. Ein später geborener Leser fand etwas deutlichere Worte der Kritik: "Dass sich diese latent todessüchtige Untergangsphilosophie an sich selbst berauschte, gehört zu den vielen Fragwürdigkeiten des Spengler'schen Werkes."

Den Geschichtsphilosophen Hermann Lübbe irritierte Spenglers intellektuelle "Selbstaufblähung", die sich ins Groteske steigerte, als er mit seinem Hauptwerk aus dem Schattendasein eines leutescheuen Sonderlings in den Rang einer Berühmtheit aufstieg. Dabei wäre es, wie Egbert Klautke vermutet hat, ein Irrtum gewesen, die Bedeutung des Werks nach der Zahl seiner Käufer zu bemessen: "Der große Erfolg, den Spenglers 'Morphologie der Weltgeschichte' erzielte, ist weniger auf die Überzeugungskraft seiner Ideen zurückzuführen als auf den zugkräftigen Titel seines Opus Magnum, der die Stimmungslage nach der Niederlage im Weltkrieg für viele Deutsche, aber auch in anderen europäischen Ländern auf ein suggestives Schlagwort brachte."

Spengler übernahm jedoch bereitwillig die Rolle eines geistigen Rädelsführers, und sobald er sich in nobler Bescheidenheit übte, trat sein Größenwahn nur umso schroffer hervor: "Wenn ich ein Verdienst in Anspruch nehmen kann, so liegt es darin, dass man die Zukunft nicht mehr als unbeschriebene Tafel ansehen wird, auf der alles Platz findet, was dem Einzelnen gut dünkt. Das schrankenlose und ungebändigte 'so soll es sein' hat einem kalten und klaren Blick Platz zu machen, der die möglichen und deshalb notwendigen Tatsachen der Zukunft umfasst und danach seine Wahl trifft."

Mit seinem geschärften, von persönlichen Hoffnungen und Glücksansprüchen scheinbar ungetrübten Blick in die Zukunft hatte Spengler allerdings nicht einmal die deutsch-österreichische Weltkriegsniederlage vorhergesehen. Er wollte, was die geschichtliche Entwicklung betraf, "Kenner sein, überlegener, sicherer, kalter Kenner", wie er 1921 kundtat, in einer höhnischen Wendung gegen "die Feigheit der geborenen Duckmäuser und Träumer", die es nicht vertrügen, "der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen", aber als er sich dann über die künstlerische Boheme und ihre "marklosen, weibischen, überflüssigen 'Bewegungen'" äußerte, war seine Temperatur bereits spürbar angestiegen, und sein Blut geriet in Wallung. Einen überlegenen, kühl kalkulierenden Kenner des Menschengeschlechts hätten die hilflosen Gehversuche einiger Schwächlinge kälter gelassen als den Hitzkopf Spengler, der nun abermals sein Heil in der Erwartung eines gnadenlosen Strafgerichts suchte: "Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt."

Wenn sich ein Mann so ungestüm seiner Kälte und Härte rühmt, die er den verweichlichten Duckmäusern voraushabe, liegt der altvertraute Gedanke nahe, dass hier ein Bewusstsein vom Sein bestimmt worden sei. "Nur Träumer glauben an Auswege. Optimismus ist Feigheit." Von der Welt erwartete Spengler nichts Gutes. Zu dieser Haltung sollten seiner Meinung nach auch alle anderen Bewohner des Abendlandes erzogen werden, und wenn sie sich weigerten, verdienten sie erst recht die Zuchtrute, so wie das Künstlervolk, das er in München in der Vorkriegszeit um die Häuser und in die Spelunken ziehen gesehen hatte: "Die Aufbruchstimmung in Literatur und Kunst war ihm nichts als sudelnde Perversion", konstatierte sein Biograf Detlef Felken. Die Verehrer des Dichters Stefan George wiederum erschienen Spengler "weibisch wie Isispriester und Kastraten", und er hielt sich, wie Detlef Felken berichtet hat, konsequent abseits: "Mitten in Schwabing zog er sich in nietzscheanische Höhen selbst gewählter Einsamkeit zurück."

Zu seinem "Wahlspruch" erkor er die Verse: "Verachte deiner Zeit geliebte Freuden. / Mit kalter Lippe strafe ihre Ziele / Und ihres Pöbels feile Leiden. / Sei stolz, dass niemand Gleiches mit dir fühle!" So machte Spengler sich Mut in seiner Einsamkeit, die er durchaus nicht aus freiem Entschluss gewählt hatte. Einerseits peinigten ihn, wie er bekannte, "glühend sinnliche Träume" und andererseits eine "schreckliche Angst vor allem Weiblichen, maßlose, lächerliche Schüchternheit". Gerade der Stolz, mit dem er auf alle Freuden seiner Zeit herabsah, und die kalte Lippe, die er in dieser Pose hervorkehrte, führen ihn, entgegen dem angestrebten Effekt, als gekränktes Mauerblümchen vor, das aus seiner Seelennot eine monströse Weltanschauung gestaltet hat.

In sich selbst hatte Spengler keine Ruhe finden können: "Es ist nicht 'Glück', das mir gefehlt hat; ich wäre für jedes große Unglück dankbar, das mich getroffen hätte, wenn es nur Leben gewesen wäre. Aber bis zum heutigen Tage kann ich weder von Freunden noch Erlebnissen noch Taten noch Freuden und Leiden erzählen, sondern nur vom Ich, Ich, Ich, das in mir eingekapselt, wie im Kerker, seiner Haft sich bitterlich bewusst, sich quälte, ohne je eine Beziehung zum Draußen zu finden. Meine Biografie ist Beschreibung dieses Zustandes, nichts weiter. Ich beneide jeden, der lebt. Ich habe nur gegrübelt, und wo mir die Möglichkeit nahetrat, wirklich zu leben, da zog ich mich zurück, ließ sie vorübergehen, und sobald es zu spät war, packte mich bitterliche Reue."

Von dem schneidenden Hohn auf die genusssüchtige Demimonde unterscheidet sich diese Selbstauskunft eines zerknirschten Versagers radikal. Die Hölle, das waren für Spengler ganz und gar nicht die anderen, die Kotseelen und Kastraten mit ihrem primitiven Blut und ihren unfruchtbaren Flittchen; die Hölle trug er selbst mit sich herum, in seinem eingekapselten, zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilten Ich. "Wenn ich mein Leben betrachte, ist es ein Gefühl, das alles, alles beherrscht hat: Angst. Angst vor der Zukunft, Angst vor Verwandten, Angst vor Menschen, vorm Schlaf, vor Behörden, vor Gewitter, vor Krieg, Angst, Angst. Ich habe nie den Mut gefunden, das anderen zu zeigen. Sie hätten mich auch nicht verstanden."

Seinen Lebensweg sah er rückblickend als "Bußgang" an, "etwa wie eine trostlose Wanderung durch eine Wüste", die er mit trockener Kehle durchquert hatte, mutterseelenallein, voller "Angst vor jeder Art von Bindung" und zumal "vor Weibern (sobald sie sich ausziehen)" und doch zugleich voller Gier nach Geselligkeit, Überschwang und erotischer Herzenslust: "Auf einem Maskenball, mitten in Musik und Lachen, mit einem schönen Mädchen in den Armen, und dann sich so grenzenlos einsam fühlen, so verächtlich, leer, dass man schreien und sich töten möchte. Und doch am andren Tage sich nach dem nächsten Feste sehnen, wo es ebenso sein wird."

Kein Hund möchte so leben, aber jede Regung des Mitleids mit dem verzweifelten Angstneurotiker Spengler wird von der gehässigen Propaganda erstickt, die er gegen alle viel geliebten Freuden seiner Zeit gerichtet hat. Das friedliche Zusammenleben der Völker bezeichnete er 1933 als "das happy end eines inhaltleeren Daseins, durch dessen Langeweile Jazzmusik und Niggertänze den Totenmarsch einer großen Kultur zelebrieren". Wein, Weib und Gesang verwies er spöttisch in den Zuständigkeitsbereich eines Erbfeinds, der sich mit seinem Savoir-vivre das eigene Grab schaufele: "Der Franzose endlich, dem faustische Triebe peinlich sind, erfand neben der Tracht des Erfolges und der des Berufs die Damenmode. An die Stelle von Business und Dienst tritt - l'amour." Und das war, aus der Sicht des neidischen Grüblers Spengler, so ziemlich das Letzte, womit man sich im untergehenden Abendland die Zeit vertreiben sollte.

In einer Rede, die er 1924 vor dem "Hochschulring deutscher Art" in Würzburg hielt, lobte er seine Landsmänner für ihre "Fähigkeit zu hassen. Wer nicht zu hassen vermag, ist kein Mann, und die Geschichte wird von Männern gemacht." Und nicht von verkappten Maskenballbesuchern, die sich mitten in Musik und Lachen so grenzenlos einsam fühlten wie der Hassprediger Spengler: "Dass wir als Deutsche endlich hassen können, ist eins der wenigen Ergebnisse dieser Zeit, die für unsere Zukunft bürgen können." Denn von der Zukunft glaubte er ja etwas mehr zu verstehen als das gemeine Volk, und am Ende seiner Ansprache wies er der gläubigen Jugend den Weg in die Wüste: "Sich als Material für große Führer erziehen, in stolzer Entsagung, zu unpersönlicher Aufopferung bereit, das ist auch eine deutsche Tugend." Was sie wert war und wohin sie führte, zeigte sich zwanzig Jahre später in Stalingrad, und wenn Spengler nicht schon 1936 gestorben wäre, hätte er seinen eigenen Opfermut im Volkssturm bei der Verteidigung Schwabings beweisen und dabei zur Abwechslung eine bessere Figur machen können als in den Notizen, die er von seinem vermurksten Innenleben genommen hatte.

Es war ruchlos von Spengler, jungen Menschen das Ideal einer blinden Führergefolgschaft anzupreisen, während er sich insgeheim nach dem nächsten Feste sehnte, auf dem er als gehemmter Hagestolz nicht willkommen gewesen wäre. In seinen Kommentaren zum Zeitgeschehen stellte er sich quer gegen "eine Schar von Literaten, die in Romanen, Dramen und Filmen eine Erotik ohne Folgen behandeln", und gegen "die Girlkultur, die den weiblichen Körper nicht für Mutterschaft, sondern für sportliche Leistungen ausbildet: Das alles ist ein Vorklang des 'panem et circenses', das sich wie ein einstimmiger Ruf aus der römischen Zivilisation erhob".

Die Erotik ohne Folgen und die Girlkultur beschäftigten den Denker Spengler in seinen reiferen Mannesjahren so intensiv, dass er dazu überging, politische Gegner mit dem Schmutz aus den unreinen Gefilden seiner eigenen Fantasie zu bewerfen. Im Mai 1924 denunzierte er die Politiker, die bei den Waffenstillstandsverhandlungen die deutschen Interessen vertreten hatten, als Säufer und Hurentreiber: "In Weimar betranken sich die bekanntesten Helden dieses Possenspiels an dem Tage, wo in Versailles unterzeichnet wurde, und es geschah nicht viel später, dass mit großen Ämtern ausgestattete Führer des Proletariats sich in einer Berliner Schiebervilla mit Nackttänzerinnen betranken, während Arbeiterdeputationen vor der Tür warteten. Das ist kein Zwischenfall, sondern ein Symbol. So ist der deutsche Parlamentarismus."
Der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Erich Kuttner ersuchte Spengler daraufhin brieflich um die Beweise für seine Beschuldigungen: "Ich bitte um Angabe der Namen der Herren, die sich am Abend der Unterzeichnung in Versailles in Weimar betrunken haben." Und ferner, die Ereignisse in der Schiebervilla betreffend: "Ich bitte um Angabe, um welche Herren es sich handelt, wer der betreffende Schieber ist, wo sich die Villa befindet und schließlich um das Datum des Ereignisses." Aus einer Nichtbeachtung seiner Anfrage müsste er den Schluss ziehen, "dass Sie zu einer positiven Beantwortung meiner Frage nicht imstande sind".

Spenglers Antwort fiel blamabel aus: "Ich pflege in meinen politischen Schriften Zustände und Systeme anzugreifen, nicht die mehr oder weniger belanglosen Personen. Infolgedessen habe ich aus meinem Material Fälle herausgegriffen, welche Zustände beleuchten, ohne Rücksicht auf die Person. Die Zuverlässigkeit meines Materials zu beurteilen, wollen Sie mir überlassen, ebenso die Entscheidung, ob und wann ich Gründe für vorliegend halte, die Namen in diesen und andern mir bekannten Fällen zu nennen. Im Übrigen weise ich den Versuch zurück, eine Ihnen zusagende Antwort dadurch erzwingen zu wollen, dass Sie die Nichtbeantwortung Ihrer Fragen für gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit erklären, sie beantworten zu können."

Er blieb also alle Beweise schuldig, und zwar vorsorglich auch für die anderen ihm bekannten Fälle, die er aus seinem umfangreichen Material möglicherweise noch herausgreifen werde. "Auch in Spenglers Schau über die Zeiten", jubilierte sein Adept Manfred Schröter, "spüren wir diesen mächtigen, spähenden, durchdringenden und umfassenden Adlerblick als Ausdruck deutscher Geisteskraft und deutscher Geistesweite." Und Erich Kuttner musste sich damit abfinden, dass ihm der mächtige Adlerblick auf die Nackttänzerinnen in einer Berliner Schiebervilla versagt blieb.

Die bizarren Widersprüche in Spenglers Weltbild waren auch dem sonst recht wohlmeinenden Philosophen Ernst ­Troeltsch unangenehm aufgefallen: "Leider folgt nun aber doch Spengler von seinen beiden, allein erwähnten Meistern in Wahrheit mehr dem Manierismus und der Zarathustra-Pose Nietzsches als der Ruhe, Klarheit und Sachlichkeit Goethes, den er doch als den eigentlichen Meister zu verehren vorgibt, sowenig seine Skepsis und sein tragischer Pessimismus in Wahrheit mit Goethes gläubiger Gesundheit zu tun hat." Zu Ruhe, Klarheit und Sachlichkeit hätte Spengler leichter gefunden, wenn er beim Schreiben nicht unentwegt in Gedanken an Niggertänze, Isispriester und Ibsenweiber abgeirrt wäre.

Um allen Anfechtungen standhalten zu können, gewöhnte er sich eine starre Erhabenheitsgestik an, die auf die Nachwelt befremdlich gewirkt hat. "Von der Dissertation über Heraklit bis zum letzten Buche, durch ein volles Menschenalter, kehren stets die gleichen Erlebnisqualitäten wieder: vornehm, stolz, groß, streng; Verachtung, Ekel, Hass und Härte." So fasste der Verehrer Anton M. Koktanek die Lebensleistung Oswald Spenglers zusammen. Nach Detlef Felkens Einschätzung war Spengler "unfähig zur Hingabe und fixiert auf eine Egozentrik, der jede Intimität zum unerträglichen Eingriff in die Privatsphäre geriet. Nirgends in seinem Leben findet sich die Spur einer menschlichen Leidenschaft, nirgends, mit der einzigen Ausnahme Eduard Meyers, stößt die abnorme Hybris seiner Persönlichkeit an die Grenze einer großen Zuneigung." Spenglers Jünger Wahrhold Drascher hatte noch einen anderen Ausnahmefall erkannt: "Wenn in Spenglers Dasein überhaupt je eine gefühlsmäßige Regung von Bedeutung war, so ist es das Nationalgefühl gewesen."

Vor "Weibern" (sobald sie sich auszogen) war Spengler also verängstigt zurückgewichen, an seinen Schreibtisch, um von dort aus alle Welt über die Lust, die Lebensfreude und den Rausch zu belehren, die in ihrem wahren Wesen gar nicht mehr begriffen würden, es sei denn natürlich von Oswald Spengler. Tanzmusik und Lachen bereiteten ihm Seelenqualen, aber mit dem kosmischen Takt kannte er sich dann eben doch unendlich viel besser aus als alle seine Mitmenschen, und er duldete keine anderen erleuchteten Meister neben sich außer Goethe und Nietzsche.

Höchstwahrscheinlich hätte Spengler auch von Bhagwan Shree Rajneesh alias Osho nicht sonderlich viel gehalten, aber gerade von diesem Mann hätte er etwas Erhellendes über seine persönliche Eignung zum Geschichtspolitiker und Meinungsbildner erfahren können: "Solange du nicht glücklich und zufrieden mit dir selbst bist, kannst du auch keinem anderen einen Dienst erweisen, einfach weil du anderen nicht zeigen kannst, wie man glücklich und zufrieden wird. Solange du selbst nicht vor Seligkeit überfließt, bist du eine Gefahr für die Menschheit, denn einer, der sich aufopfert, wird notgedrungen zum Sadisten."

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.