Sondierungsgespräche nach der Bundestagswahl - Wider den Zeitgeist

Aus den Sondierungsgesprächen soll kein Sterbenswörtchen an die Öffentlichkeit dringen. Dabei sind Loyalität und Diskretion doch schon längst aus der Mode gekommen, oder? Heute gilt vielmehr Transparenz, am besten via Instagram, zu den höchsten Tugenden in einer auf ihre demokratischen Werte so stolzen Gesellschaft.

Auf dem Bildschirm eines Smartphones sind die Icons von Instagram, Facebook und WhatsApp zu sehen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Seit Montag sondieren sie also und loten aus, ob zu verhandeln sich lohnt: SPD, Grüne und FDP haben aus ähnlichen Gesprächen in der Vergangenheit gelernt. Kein Sterbenswörtchen soll an die Öffentlichkeit dringen, bevor man heute oder morgen an die Öffentlichkeit tritt. In kleinen Gruppen tasten die Vertreter der jeweiligen Parteien hinter verschlossenen Türen ab, was eventuell geht und was gegebenenfalls nicht geht. Es ist die Stunde der Geheimdiplomatie und der Geheimniskrämerei. Und wie gebannt starrt die Öffentlichkeit auf den imaginierten Schornstein, ob weißer oder schwarzer Rauch aufsteigt.

Was für ein Anachronismus, könnte man meinen. Leben wir nicht in einem Gemeinwesen, das seine angebliche Offenheit wie eine Monstranz vor sich herträgt? Gilt Transparenz nicht als eine der höchsten Tugenden in einer auf ihre demokratischen Werte so stolzen Gesellschaft? Und nun auf einmal das: Verschwiegenheit, Diskretion, Heimlichtuerei.

Als der Whistleblower noch ein Verräter war

Dabei galt die Fähigkeit, Geheimnisse zu wahren, einmal als hohes Gut. Ein Herrscherhaus, eine Dynastie oder eine Regierung, die nicht in der Lage war, Geheimisse zu wahren und entsprechend loyale Mitarbeiter und Beamte an sich zu binden, galt bis in das 20. Jahrhundert hinein einfach als unfähig und zerrüttet. Es war die Zeit, als ein Whistleblower nicht der strahlende Held der Zivilgesellschaft war, sondern schlicht ein Verräter.

Aber die Tugend der Loyalität ist aus der Mode gekommen und mit ihr der Wert, Geheimes für sich behalten zu können. Heutzutage zählt nicht mehr Treue, sondern das individuelle Gewissen. Dessen Triumph illustriert sehr schön den Wandel der öffentlichen Moral, weg von traditionellen Tugenden hin zum subjektiven Moralisieren. Man kann das für einen Fortschritt halten, muss es aber nicht.

Selbst die Aufklärung war im Geheimen gewachsen

Es war die Aufklärung, die von der Idee besessen war, dass Licht ins Dunkel gebracht und alle Geheimnisse gelüftet werden müssen. Geheimniskrämerei, das roch nach Geheimwissen, nach Zauberei, Magie und Alchimie, also all dem, was die Aufklärer des 18. Jahrhunderts aus der Welt schaffen wollten. Im Übereifer vergaßen sie allerdings, dass die Aufklärung selbst im Geheimen gewachsen war, in Geheimbünden und Geheimgesellschaften, bei Freimaurern, Illuminaten und andere Logenvereinigungen. Das Geheimnis ist nicht an sich verwerflich. Es kommt eben darauf an, was geheim gehalten werden soll.

Den kulturellen und sozialen Wert des Geheimnisses hat niemand klarer erkannt als der Soziologe Georg Simmel. 1908 schrieb er: Das Geheimnis „ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können“. Und tatsächlich ist es so, dass sich der Wert menschlicher Beziehungen, in einer Familie oder unter Freunden, auch daran bemisst, Dinge für sich behalten zu können, die nicht jeder wissen soll. Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit sind eben nicht immer wünschenswert.

Wer bricht das Schweigegelübde?

Doch unsere spätmodernen Gesellschaften haben den Wert des Geheimnisses vergessen. Alles soll auf den Tisch. Am besten ist es, wenn jeder alles weiß. Das Geheimnis hat etwas Anrüchiges bekommen, auch im Privaten. Man ist nicht mehr dezent und diskret. Zum Zeitgeist gehört es, sich auszusprechen, ehrlich, offen und schonungslos. Man will keine Geheimnisse voreinander haben. Intimitäten werden nach außen getragen, am besten via Instagram und vor ein Millionenpublikum.

Instinktiv fühlt der Bürger der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, dass Geheimnisse eine Exklusionsfunktion haben. Sie schmieden zusammen, schließen aber auch aus. Sozialer Ausschluss aber ist etwas, was das nach Anerkennung und Likes gierende Subjekt unserer Konsumgesellschaft unter keinen Umständen toleriert.

Entsprechend verpönt ist alles, was nach Geheimnis aussieht. Denn wer Geheimnisse hat, lässt nicht teilhaben. Und wer nicht teilhaben lässt, diskriminiert. Entsprechend ungeduldig schaut die Öffentlichkeit auf das geheime Treiben der drei möglichen Koalitionäre und wartet heimlich darauf, dass einer der Teilnehmer doch sein Schweigegelübde bricht. Dabei könnte sie lernen, dass Geheimnisse nichts Unheilvolles sind, sondern gerade in Zeiten von Twitter und Co. die Grundlage vertrauensvoller Zusammenarbeit und einer funktionierenden Gemeinschaft.

Anzeige