Slavoj Zizek - Manches bleibt besser hinter der Tür

Im vierten Teil seines Essays über Ernst Lubitsch schreibt der Philosoph Slavoj Zizek über sexuelle Codes im Film und in der Wirklichkeit und erläutert, warum in der indirekten Darstellung einer Tatsache oft mehr Wahrheit als in der direkten. Das muss auch eine Figur aus „Sex and the City“ feststellen

„Sex and the City“-Darstellerinnen: „Rede über alles, was du willst, außer das eine“ / picture alliance
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Autoreninfo

Slavoj Zizek, Jahrgang 1949, ist einer der bekanntesten Philosophen der Gegenwart. Der in Ljubljana geborene Denker war 1990 in Slowenien Präsidentschaftskandidat. Seit Anfang 2007 ist er International Director des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London. Hegel, Marx und Lacan haben seine Werke maßgeblich beeinflusst. Er bezeichnet sich als eurozentrischen Marxisten.

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Die Indirektheit von Lubitsch geht nicht auf ein primitives Spiel zurück, in dem präzise Codes vermitteln, was hinter der veschlossenen Türen geschieht (ein sexueller Akt oder ähnliches). Lubitsch ist sich sehr bewusst, dass ein solches Spiel pervers wäre, weil es das Gesetz der Zensur nur um seine obszönen Kehrseite ergänzen würde, also macht er etwas anderes. Was? Obwohl ich kein Fan der Serie „Sex and the City“ bin, gibt es einen interessanten Punkt in einer der Episoden. Miranda lässt sich mit einem Mann ein, der während des Sex die ganze Zeit dreckig reden will. Und da sie normalerweise lieber schweigt, während sie Liebe macht, bittet der Mann sie, auszusprechen, was für dreckige Dinge in ihrem Kopf auftauchen –  egal was, ohne Einschränkung.

Zuerst widersetzt sie sich, aber dann geht auch sie in diesem Spiel auf. Die Dinge laufen gut, der Sex ist intensiv und leidenschaftlich bis… bis sie etwas sagt, das ihren Liebhaber total verstört, und er sich schließlich völlig zurückzieht, was zum Bruch der Beziehung führt. Inmitten ihres Geschwätzes hatte sie nämlich erwähnt, dass sie bemerkt habe, wie er es genieße, wenn sie, während sie Liebe machen, ihren Finger in seinen Hintern steckt. Ohne es zu wissen, hatte sie damit die Ausnahme berührt: Ja, rede über alles, was du willst, über alle schmutzigen Bilder, die in deinem Kopf auftauchen, außer über dieses eine.

Wenn das Verborgene heraustritt

Die Lektion dieses Vorfalls ist wichtig: Auch das allgemeingültige freie Sprechen beruht auf diesen Ausnahmen. Das verbotene Detail ist an und für sich relativ unbedeutend und unschuldig, und wir können nur ahnen, warum der Liebhaber Mirandas dabei so empfindlich ist – wahrscheinlich, weil die passive Erfahrung des analen Eindringens sein männliches Selbstbild verletzt. Lubitsch war sich dieser Paradoxien genau bewusst: Als er es vorzog, nicht zu zeigen, was hinter den verschlossenen Türen vor sich ging, wusste er, wie er trotzdem die peinlichen Details zeigen konnte, die viel mehr bedeuten können als das Geheimnis hinter der Tür. 

Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling definiert „unheimlich“ als das Auftreten, das Heraustreten, von etwas, das verborgen bleiben soll. So verursacht das Unheimliche Angst – nicht weil es uns mit der Tatsache konfrontiert, dass etwas fehlt, sondern weil Mangel an sich fehlt, weil wir zu viel von etwas bekommen. Mirandas Geliebter fühlt sich kastriert, weil er zu viel von ihr bekommt, mehr als er wirklich verlangt hat – er bat sie, schmutzig zu reden, alle Obszönitäten zu sagen, die in ihr auftauchen, und was er bekommt, ist die Ausnahme, auf der seine Universalität basiert. Ihm kommt nichts abhanden, er bekommt etwas dazu – und wird dadurch kastriert. 

Lubitschs Spiel mit den sexuellen Codes

In Lubitschs „Der lächelnde Leutnant“ von 1931 (kurz vor der Einführung des Hays Code) wird dieser obszöne Exzess auf die Spitze getrieben. Die ersten fünf Minuten des Films leiten den Übergang ein von der Indirektheit (der Grundstimmung des Lubitschen Blicks) zum Übermaß (seiner immanenten Kehrseite). Es beginnt mit einer kurzen Szene der Indirektheit: Ein formal gekleideter Mann steigt eine Treppe hinauf, bleibt vor einer Wohnungstür stehen, zieht ein Dokument (eine Rechnung für teure Kleidung) aus der Aktentasche und läutet die Glocke. Niemand antwortet, er klopft an die Tür, aber wieder antwortet niemand, und der Mann geht. Unmittelbar nach seinem Abgang kommt eine junge Dame die Treppe herauf und klopft auch an die Tür, aber dieses Mal folgt ihr Klopfen einem offensichtlich kodierten Muster, die Tür öffnet sich, und sie tritt ein. Nach einem offenbar sexuellem Intermezzo, das durch das Ausschalten der Lichter signalisiert wird, verlässt sie die Tür voller Freude.

Auf diese indirekte Weise erfahren wir alles Wesentliche über den Bewohner der Wohnung, ohne ihn überhaupt zu sehen: Er ist Niki, ein Offizier der österreichischen kaiserlichen Armee (wie uns der Teller neben der Tür sagt), der sich teuer kleidet und das Leben genießt und Mädchen reihenweise verführt. Aber jetzt kommt die Kehrseite: Unmittelbar nachdem das Mädchen gegangen ist, folgt ein Schnitt in das Innere der Wohnung und wir sehen Niki (gespielt von Maurice Chevalier) in einem Nachthemd; zufrieden steht er da, sieht uns (die Zuschauer) direkt an und singt ein äußerst obszönes und peinliches Lied, welches das Armeeleben preist. Das Lied basiert auf der Parallele zwischen militärischen Übungen (Befehlen, Angriffen, Schießen) und Liebesspielen.

Es beschreibt die Pflicht der Offiziere, „Mädchen zu erobern“. Niki bringt das mit einem obszön hervorgehobenen „Ratatataa“ zum Ausdruck. Was zur Obszönität beiträgt, ist, dass Chevalier seine Aufführung auch noch mit seinem französischen Akzent und zahlreichen französischer Worten garniert, also das populäre Kulturbild des raffiniert verführerischen und promiskuitiven Franzosen darstellt (in völliger Unvereinbarkeit mit seiner Identität als österreichischer Offizier). Die Parallele zwischen militärischer und sexueller Aktivität betont auch, dass bei der Kopulation ein Mann der Frau dient, ihrer Ordnung gehorcht, weshalb Niki nach seiner Hochzeit mit der Prinzessin bewusst vorgibt, ihre sexuellen Avancen nicht zu verstehen. Seine Rebellion dagegen, es mit ihr zu tun, sollte auch verstanden werden als der Akt der Rebellion eines Arbeiters dagegen, seinem Meister zu dienen. 

Die Kraft des Indirekten

Eine Serie komischer Umkehrungen folgt, und am Ende des Films, nachdem Niki sich von seiner Frau doch noch verführen hat lassen, schließt er (wieder) die Schlafzimmertür und singt uns das gleiche Lied vor, nur mit leicht verändertem Inhalt (er preist nicht mehr nur vorübergehende sexuelle Beziehungen, sondern auch den ehelichen Geschlechtsverkehr) und endet wieder mit dem obszönen „Ratatataa“. Als er die Schlafzimmertür öffnet, hören wir von innen die Stimme seiner Frau, die dasselbe obszöne „Ratatataa“ von sich gibt. Der Sexualakt geschieht also immer noch hinter der Tür, so dass auf einer formalen Ebene die Indirektheit bleibt. Aber die Obszönität dessen, was vor der Türe passiert ist in gewisser Hinsicht viel peinlicher und „schmutziger“ als eine direkte Darstellung dessen, was hinter der Türe geschah.

Zurück zu Miranda aus „Sex and the City“: „Ratatataa“ spielt genau die gleiche Rolle wie das „Finger in den Hintern stecken“, nämlich die eines Details, das unausgesprochen und versteckt hätte bleiben sollen. Die direkte Obszönität des „Ratatataa“ macht deutlich, dass „Der lächelnde Leutnant“ in der Ära vor dem Hays-Code gedreht wurde, und auch bevor Lubitsch seinen Blick endgültig definiert hatte: Bei dem älteren Lubitsch ist eine solche direkte Obszönität ausgeschlossen. 

Übersetzung: Constantin Wißmann

Dies ist der vierte Teil des Essays von Slavoj Zizek. Den ersten Teil lesen Sie hier, den zweiten hier und den dritten hier. Fortsetzung folgt in Kürze

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