Seenotrettung - Der Walter-Ulbricht-Moment

Demokratie heißt, mit unterschiedlichen Meinungen um die Mehrheit konkurrieren. Politiker wollen dabei ihre Wahrheit als die richtige erscheinen lassen. Wenn Journalisten da aber mitspielen, produzieren sie Misstrauen. Damit tun sie der Demokratie auch beim Thema Seenotrettung keinen Gefallen

Menschen in Frankfurt demonstrieren für sichere Häfen / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht. So sprach einst der Volksmund. Leider ist das heute nicht mehr so einfach. Lügenpresse, Fake-News und Bullshit grassieren und werden heftig beklagt. Es ist aber nicht immer klar, was damit eigentlich gemeint ist. Gibt es so viele Fake-News, wie manch einer behauptet, oder ist der Vorwurf, etwas sei Fake-News, eine Methode, unliebsame Informationen abzulehnen? Während die eine Seite alles zu Fake-News erklärt, was ihr nicht passt, sieht die andere Seite darin die Axt einer radikalen, oft rechten Gesinnung, die an das Gemeinwesen gelegt wird. Wer lügt hier also?

Eine Antwort ist schwierig, und mit dem Philosophen Slavoj Zizek möchte man meinen, dass etwas nicht wahr ist, nur weil die Rechten es als Fake-News bezeichnen. Und leider hilft die klassische Definition von Bullshit hier auch nicht weiter. Denn es handelt sich nicht um prätentiöses Sprechen, das seine eigenen Lügen für wahr hält. Ein solches Blabla findet man zum Beispiel auf Vernissagen, wo eine tiefe Betroffenheit durch die Kunst erlogen wird, um als Reicher auch gefühlvoll zu erscheinen. Solange man das nicht glaubt, tut es niemandem weh.

Der Walter-Ulbricht-Moment

Die Form des Lügen-Sprechens, um die es hier geht, ist etwas anderes. Man findet sie vermehrt in politischen Debatten, und ihre Folgen sind verworren und nicht selten fatal. Der deutsche Klassiker einer solchen Aussage war Walter Ulbrichts Satz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Was rückwirkend wie eine plumpe Lüge wirkt, um aufkeimende Unruhen zu beschwichtigen, hat in unserer Gegenwart seltsame Nachfolger gefunden.

Noch kurz vor der Weltfinanzkrise wiederholte der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, sein Mantra: „Ich darf ihnen versichern, dass wir nichts unternehmen werden, was nicht im Interesse unserer Aktionäre, unserer Kunden und Deutschlands liegt“. Heute wissen wir, das war ein Walter Ulbricht-Moment. Vorgetragen in dem leicht schleppenden Tonfall eines Schweizerdeutschen lief damals jedem Zuhörer der wohlige Schauer der Verlässlichkeit über den Rücken. Hier sprach der Goldstandard des Vertrauens höchstpersönlich. Der naheliegende Reflex des Argwohns (jemand betont, wie ehrlich er doch ist), wurde durch Amt, Aura und Sprachmelodie eingeschläfert.

Heute stehen alle vor den Trümmern einer Deutschen Bank, die um ihr Überleben kämpft, während die Steuerzahler weltweit mit den Folgen der Weltfinanzkrise leben müssen. Ein wenig Misstrauen ist also gerechtfertigt gegenüber den großen Worten der Anführer und Anführerinnen der Welt.

Ende der Diskussion?

Eine ähnlich gestrickte Aussage wurde während der Flüchtlingskrise 2015 von der Bundeskanzlerin getätigt. Wollte man ihren Worten glauben, so sind Grenzen in der heutigen Zeit nicht mehr zu sichern. Wenige Monate nach dieser Behauptung sicherte die türkische Regierung ihre Grenzen, und der Flüchtlingsstrom nahm merklich ab. Nun könnte man die ironische Bemerkung machen, dass eine Grenzsicherung, die an der Ausreise hindert, für Angela Merkel offensichtlich zu den politisch denkbaren Mitteln gehört, eine Grenzsicherung, die an der Einreise hindert, hingegen nicht. Es wäre also ein seitenverkehrter Ulbricht-Moment. Die Folgen dieser offensichtlich falschen Aussage sind aber fataler als dieser Witz der Geschichte. Sie haben zu einer bis heute andauernden Unwucht in der öffentlichen Debatte über Migration geführt.

Aktuell erleben wir eine Variation davon in dem erbittert geführten Streit über die Frage, ob es Pull-Faktoren für Migration gibt oder nicht. Auch hier steht die Bundeskanzlerin ganz vorne. Ihre Selfie-Bilder mit Flüchtlingen verbreiteten sich in Sekundenschnelle über die ganze Welt, und die Flüchtlingszahlen nahmen, vorsichtig formuliert, zumindest nicht ab. Doch wer daraus den Schluss zog, dass sich durch solche Fotos vielleicht Menschen eingeladen fühlen könnten, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen, der wurde von einem sehr bärbeißigen Peter Altmeier niedergebrüllt. Das sei kein Pull-Faktor, weil es überhaupt keine Pull-Faktoren gebe. Ende der Diskussion.

Halbwahre Behauptungen

Und dieses Verdikt gilt in bestimmten Kreisen bis heute. Wer etwa die Frage aufwirft, ob es Faktoren gibt, die eine bestimmte Fluchtroute besser erscheinen lassen als eine andere oder ein bestimmtes Fluchtziel erstrebenswerter als andere, katapultiert sich augenblicklich auf die Seite des Bösen. Die Zurechtweisung lautet dann: Es sei wissenschaftlich bewiesen, dass es keine solchen Pull-Faktoren gebe und außerdem sei man es leid, über so einen Quatsch überhaupt reden zu müssen

Bei all diesen Aussagen handelt es sich nicht um plumpe Lügen, sondern um etwas sehr viel Komplizierteres. Es sind halbwahre Behauptungen, die so forciert vorgebracht werden, damit sie wie ganze Wahrheiten erscheinen. Josef Ackermann will, dass man ihm vertraut. Angela Merkel will, dass ihre Politik alternativlos richtig erscheint. Würden aber die Tatsachenbehauptungen (die Deutsche Bank ist ehrlich, Grenzen kann man nicht schließen und es gibt keinen Pull-Faktor) in Frage gestellt, so bräche das Gebäude aus Halbwahrheit und politischem Wollen zusammen. Denn wenn die Prämisse nicht stimmt, folgen nur selten richtige Handlungen.

So besteht eine der wichtigsten Aufgaben politischer Rhetorik darin, die Prämisse der eigenen Meinung als alternativlos richtig erscheinen zu lassen. Der Idealfall ist erreicht, wenn die Aussage allgemein akzeptiert wird und eine öffentliche Infragestellung vor allem Konsequenzen für den Fragesteller hat. Oder wie es Peter Tauber während der Flüchtlingskrise gesagt hat: Wer hier nicht für Angela Merkel ist, ist ein Arschloch und kann gehen.

Undemokratisches Vorgehen

Seitdem wird immer selbstverständlicher zum Mittel der moralischen Ausgrenzung gegriffen, um eine Infragestellung zu verhindern. Wer etwa nach der Existenz von Pull-Faktoren fragt, gilt als sehr verdächtig, und wer behauptet, man könne Grenzen sichern, wird zur AfD geschickt.

Dass ein solches Verfahren undemokratisch ist, liegt auf der Hand. Denn wenn etwas absolut gültig ist, ist eine Abstimmung sinnlos. In einem Gottesstaat steht die Existenz Gottes auch nicht zur Abstimmung, sondern es werden diejenigen verfolgt, die nicht an ihn glauben. Demokratie setzt also voraus, dass unterschiedliche Meinungen um die Mehrheit konkurrieren. Nimmt eine Meinung für sich in Anspruch, wahrer als die anderen zu sein, folgt daraus, dass sie die demokratische Abstimmung ablehnt. Trumps Aussage zur Präsidentschaftswahl war hier exemplarisch: Ich akzeptiere das Wahlergebnis, wenn ich gewählt werde.

Leider sind die liberalen Demokraten häufig näher an einem solchen Denken als ihnen lieb sein kann. So ist in der Öffentlichkeit ein gefährlicher Cocktail entstanden, der eine halbwahre Behauptung mit der schärfsten Ablehnung ihrer Infragestellung verrührt hat. Wer diesen Cocktail verabreicht bekommt, soll sich der Wahrheitsbehauptung kritiklos unterwerfen. Wird der Öffentlichkeit dieses Mittel allzu häufig verabreicht und erweisen sich die Behauptungen später als Lügen, dann entsteht ein kollektives Unwohlsein über die halben Wahrheiten und ihren Vertrauenszwang. In einer solchen Lage befinden wir uns, und das ist, gelinde gesagt, keine gute Voraussetzung, um die komplexen Herausforderungen von Migration bis Klimawandel angemessen verhandeln zu können.

Die Situation im Mittelmeer

Die Folgen sind heute bei jeder beliebigen Nachrichtensendung, beispielsweise über die Lage im Mittelmeer, zu beobachten. Die offizielle Logik sieht in diesem Fall folgendermaßen aus: Es gibt doch kaum noch Flüchtlinge, die es bis Italien schaffen. Warum regt sich der italienische Innenminister so auf? Das macht er doch nur, um Panik zu schüren und die Bevölkerung für sich zu gewinnen.

Was bei dieser Logik unter den Tisch fällt, weil es in ihr ja keine Pull-Faktoren gibt, ist die Ursache für die Verlagerung der Fluchtrouten. Seit Italien ein hartes Grenzregime hat und die staatliche Seenotrettung eingestellt wurde, verlaufen die Fluchtrouten woanders und die absolute Zahl an Flüchtlingen und Toten ist deutlich zurückgegangen. Es ist also genau andersherum als es der gängige Bericht behauptet. Erst war die harte Grenzpolitik des Innenministers, dann wurden es weniger Migranten. Und in dieser Logik würde die Zahl wieder ansteigen, wenn die Grenzen wieder geöffnet würden.

Der aktuelle Eiertanz in der EU um die Frage, wer denn die Geretteten aus dem Mittelmeer aufnimmt, kreist um die Verleugnung dieses Zusammenhangs. Die Debatte ist so verlogen, weil niemand öffentlich ausspricht, dass es einen Zusammenhang von offenen Grenzen und Migration gibt. Offiziell gibt es keine Pull-Faktoren, in der Praxis verhalten sich aber alle so, als gäbe es sie doch, dürften das aber nicht sagen. So versucht man, eine Lösung zu finden, die auf keinen Fall einen Pull-Faktor nach sich zieht, ohne aber diese Schwierigkeit offen benennen zu dürfen. Da könnte ein normaler Beobachter schon auf die Idee kommen, dass hier Fake-News produziert werden. Und die Vermutung liegt nahe, dass eine Lösung deutlich einfacher zu finden wäre, wenn nicht alle mit der Halbwahrheit operieren müssten.

Eine höhere Form von Wahrheit

Man möchte allen, die in herausgehobenen Positionen öffentlich sprechen, einen Verzicht auf die strategisch eingesetzten Halbwahrheiten empfehlen. Denn es gibt gerade im politischen Sprechen sehr wirkungsvolle andere Mittel, um für seine Meinung zu kämpfen. Angela Merkel hätte seinerzeit auch sagen können, ihr Menschenbild und ihre politische Überzeugung, gerade als ehemalige DDR-Bürgerin, manifestierten sich darin, Deutschland nicht abzuschotten. Geschlossene Grenzen sind also mit ihrer gewählten politischen Meinung als Bundeskanzlerin unvereinbar. Das wäre eine legitime Aussage gewesen, für die sie sicherlich viel Zustimmung bekommen hätte. Doch ein solches Sprechen setzt voraus, dass man Politik nicht als Exekution von alternativlosen Wahrheiten versteht (es ist unmöglich, Grenzen zu schließen), sondern als das Ringen um die Durchsetzung der eigenen Überzeugungen.

Die Tendenz der öffentlichen Debatten weist leider in die entgegengesetzte Richtung. Immer mehr Positionen nehmen für sich eine höhere Form von Wahrheit in Anspruch. Das beliebteste Mittel ist hier die Moral. Man selbst steht dabei naturgemäß auf der Seite der Guten, und alle, die einem widersprechen, stehen darum automatisch auf der Seite des Bösen.

Es würde die politische Öffentlichkeit deutlich intelligenter machen, wenn unterschieden werden würde zwischen einem moralischen Wert, den eine Position hat, und dem Missbrauch der Moral, der einsetzt, wenn sie dazu benutzt wird, die Gegenmeinung mundtot zu machen. Man kann die Meinung vertreten, Deutschland solle seine Grenzen für alle Flüchtlinge der Welt öffnen. Und man kann diese Meinung mit hohen moralischen Werten begründen. Man sollte es aber unterlassen, der Gegenmeinung jede Berechtigung abzusprechen und sie als unmoralisch zu brandmarken.

Der Schaden im Vertrauensverhältnis

Und vor allem sollte man die Debatten nicht mit dem unlauteren Mittel der Halbwahrheit führen wie zum Beispiel den Behauptung, Grenzen seien nicht zu sichern und es gebe keine Pull-Faktoren. Der Schaden im Vertrauensverhältnis überwiegt jeden kurzfristigen Vorteil. Die meisten dieser Halbwahrheiten entpuppen sich im Nachhinein ohnehin als komplette Lügen. Die oft beklagte Glaubwürdigkeitskrise ist hausgemacht.

Im Unterschied dazu kann eine politische Meinung nicht als Lüge enttarnt werden. Sie kann sich als falsch erweisen, wenn die Folgen ihrer Politik falsch sind. Und man kann seine Meinung revidieren, weil sich die Realität geändert hat. Das alles ist legitim und führt nicht zu Misstrauen. Wer jedoch eine Prämisse beansprucht und sie gegen jeden Einwand immunisiert, indem alle Kritiker zu moralisch verkommenen Subjekten erklärt werden, der muss sich nicht beschweren, wenn er Misstrauen erntet.

Von einer einfachen Lüge reingelegt zu werden, ist alltägliche Erfahrung. Man ärgert sich und versucht, das nächste Mal besser aufzupassen. Wird man hingegen gezwungen, einer Behauptung zu glauben, die einem nicht einleuchtet, führt das nicht nur zu Misstrauen, sondern zu Wut. Denn die Ohnmacht, die man erlebt, wenn man der nur halbwahren Behauptung nicht mehr widersprechen darf, verletzt tiefer als der Ärger, wenn man auf eine Lüge hereingefallen ist.

Wer konnte damit rechnen?

Ein letzte knappes Beispiel zeigt, wie überflüssig und fatal die Folgen einer solchen Kommunikation sind. Auf dem Seenotrettungs-Schiff „Sea Watch 3“ fuhr, wie man jüngst erfahren hat, ein NDR-Team mit. Das ist nichts Ungewöhnliches und taugt eigentlich nicht für eine „skandalöse Aufdeckung“. Die Anwesenheit eines TV-Teams ist nicht geheimnisvoll, sondern besteht gerade darin, Öffentlichkeit herzustellen. Dennoch führte die Aufdeckung zu einer aufgeregten Diskussion, in deren Verlauf sich der NDR in eine Verteidigungsposition bringen ließ. Schließlich schrieb die Chefredakteurin Anja Reschke folgenden Tweet:

Das ist eine überflüssige Halbwahrheit. Denn „wissen“ konnten sie es natürlich nicht, aber was sonst hätte der Grund sein sollen, die „Sea Watch 3“ zu begleiten, wenn nicht die Erwartung einer Seenotrettung? Wer eine Reportage über einen Krankenwagen dreht, wundert sich doch auch nicht, wenn es zu einem Notfalleinsatz kommt. Warum diese vorgetäuschte Überraschung: Ach, ein Notfall, wer konnte damit rechnen?

Die Aufgabe der Medien

Eine solche überflüssige Halbwahrheit provoziert lediglich eine weitere Portion Argwohn gegenüber der „Lügenpresse“. Und selbst der gutgläubige Zuschauer bekommt jetzt Zweifel, ob hier nur journalistisches Interesse verteidigt wird oder nicht vielleicht doch missionarischer Eifer kaschiert werden soll.

Dass Politiker zu allen Mitteln greifen, um ihre Meinung als einzig richtige erscheinen zu lassen, ist Alltag in einer Demokratie. Wenn Journalisten dieses Spiel mitspielen, produzieren sie Misstrauen. Denn die Aufgabe der Medien besteht im genauen Gegenteil zum politischen Sprechen. Sie sollen die Strategien offenlegen und damit im besten Fall über die andere Hälfte der Wahrheit aufklären. Produzieren Journalisten aber selbst mit Absicht Halbwahrheiten, um mit ihnen Politik zu machen, tun sie dem Vertrauensverhältnis in einer Demokratie keinen Gefallen. Denn die meisten Menschen reagieren sensibler auf Manipulationsversuche, als Politiker und Journalisten glauben mögen.

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