
- Die Seenotrettung ist eine Pflicht
Carola Rackete wurde aus dem Hausarrest in Italien entlassen. Doch das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer ist damit noch nicht geklärt. Um daraus auszubrechen, sind mehrere Schritte notwendig. Zwei Maßnahmen seien dabei besonders hilfreich, schreibt Joachim Stamp
Ist eine differenzierte Debatte zur „Sea Watch 3“ möglich? Zunächst grundsätzlich: Seenotrettung ist kein Verbrechen. Im Gegenteil: Solange Menschen das Ertrinken droht, ist Rettung Pflicht.
Leider wird humanitäre Hilfe von Schleppern brutal ausgenutzt. „Setz Dich in unser Schlauchboot, dann wirst Du gerettet und kommst nach Europa“. So werden hoffnungslose Menschen gelockt. In Gesprächen in Marokko mit verzweifelten Migranten aus Subsahara-Afrika wurde uns das drastisch geschildert: „Dann setze ich mich in ein Boot und entweder bin ich tot oder werde gerettet und bekomme eine Perspektive in Europa. Hier sterbe ich jeden Tag ein Stück, so sterbe ich entweder ganz oder bekomme eine neue Chance.“ Der Ist-Zustand befördert diese perverse Lotterie.
Ein ethisches Dilemma
Wer jetzt jedoch meint, durch ausbleibende Seenotrettung diese Lotterie zu durchbrechen, nimmt dafür billigend den Tod all derer in Kauf, die in ihrer Verzweiflung dennoch mit den Schlauchbooten aufbrechen. Diese Inkaufnahme widerspricht zutiefst den humanitären Grundsätzen Europas. Sie widerspricht nicht nur der christlichen Nächstenliebe, sondern auch der kantischen Pflichtethik, nach der ein Mensch stets Zweck an sich und nie bloß Mittel zum Zweck sein darf. Nichts rechtfertigt, Menschen einfach ersaufen zu lassen.
Wir befinden uns in einem ethischen Dilemma, weil die humanitäre Hilfe einerseits Pflicht ist, andererseits von Schleppern als Argument ausgenutzt wird, um weitere Menschen in die Schlauchboote zu holen und damit ihr Leben zu gefährden. Diesen Aspekt dürfen wir nicht ignorieren. Ein weiterer Punkt wird in der Debatte fast völlig ausgeblendet: Es sterben noch weit mehr Migranten auf dem Weg zur nordafrikanischen Küste in den Wüsten der Sahara als im Mittelmeer. Darum kann es in einer ehrlichen Debatte nicht nur um Seenotrettung gehen.
Wir brauchen sichere Zonen nicht nur an den Küsten Nordafrikas, sondern auch in der Subsahara unter dem Dach des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), von wo sich Migranten entweder aus humanitären Gründen oder als Arbeitskräfte für legale und sichere Einreise nach Europa bewerben können. Bei Folgekonferenzen zum UN-Migrationspakt müssen diese Zonen zügig vorangebracht werden, wenn dieser Pakt nicht zu einer reinen Symbolveranstaltung degenerieren soll. Um dem ethischen Dilemma zu entkommen, müssen die Migranten dann konsequent in diese sicheren Zonen gebracht werden, um ausschließlich von dort geordnet nach Europa zu kommen.
Folgeregelung für Dublin
Die EU darf Italien, Spanien und Griechenland nicht weiter im Stich lassen. Es ist unerträglich, dass das Migrationsthema nicht andere Priorität genießt. Wir brauchen dringend eine Dublin-Folgeregelung, die diese Länder entlastet und geordnete Migration ermöglicht. Dass dies bisher gescheitert ist, darf nicht als Argument gelten. Wir brauchen dringend einen neuen Anlauf, um Migration seitens der EU umfassend und fair zu steuern.
Bis allerdings eine solche geordnete Migrationspolitik erreicht wird, bleibt die Verpflichtung, niemand einfach sterben zu lassen. Das kann und darf aber nicht Aufgabe von „Sea Watch“ oder anderen privaten Organisationen sein, sondern muss die EU selbst gewährleisten.
Mit einer umfassenden Präsenz der EU in den dortigen Gewässern kann sie gleichzeitig gegen Schlepper vorgehen. Wenn die EU diesen Weg durch eine reformierte Mission Sophia konsequent beschreiten würde, wären private Initiativen überflüssig und sollten dann auch vollständig unterbleiben.