Christian Drosten hält Schillerrede - Die epidemiologische Erziehung des Menschen

Am 10. November hält der Virologe Christian Drosten eine Rede auf einen großen Kollegen. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat ihn angefragt, die jährliche Laudatio auf den Theaterdichter und Mediziner Friedrich Schiller vorzutragen. Unseren Blick auf das Coronavirus könnte das verändern.

Über eine Rede von Christian Drosten hätte sich Schiller sicher gefreut / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Eigentlich wollte der Berliner Virusforscher Christian Drosten kein Welterklärer werden. Zwar plaudert der Mediziner in seinem seit nunmehr 32 Wochen vom NDR produzierten Podcast „Coronavirus-Update“ jenseits von Inkubationszeiten, Fallzahlen und Aerosolen auch mal interessiert über dies und das, für einen wahren Leonardo oder Leibniz, also für einem echten Universalgelehrten, reicht das vermutlich aber nicht. 

Noch im September, während des an Drosten vergebenen Sonderpreises des Beirats zum Deutschen Radiopreis versprach der 1972 geborene Professor der Berliner Humboldt-Universität daher, dass er aus der Öffentlichkeit verschwinden werde, sobald auch das Coronavirus nicht mehr auffindbar sei. Indes, das Ende dieses windigen Virus, die aktuellen Infektionszahlen verraten es, lässt noch immer auf sich warten. Und so muss wohl auch die Öffentlichkeit noch ein paar Monate – oder vielleicht gar Jahre? – mit dem redegewandten Virologen leben lernen, schließlich, so hieß es im September bei derselben Preisverleihung an den stets etwas schüchtern wirkenden Berliner Professor, seien die Virologen die wahren Popstars unserer Zeit.

Schiller war ein Popstar der Klassik

Und Pop verkauft sich. Diesen Umstand scheint sich nun das Deutsche Literaturarchiv Marbach zunutze gemacht zu haben. Für die dort jährlich abgehaltene Geburtstagsfeier für den Dichter, Stürmer und Dränger Friedrich Schiller – einst wohl ebenfalls so eine Art Popstar seiner Epoche – hat man nämlich ausgerechnet den bewährten Covid-Kommunikator Christian Drosten eingeladen. Der soll nun die turnusgemäß am 10. November vorzutragende Schillerrede halten. Wenn es die Infektionszahlen zulassen, wird dann nach Grußworten der baden-württembergischen Wissenschaftsministerin Theresia Bauer und der Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Sandra Richter der sprachgewandte Virologe seine Überlegungen zur deutschen Klassik vorstellen.

Nun muss man der Fairness halber einschieben, dass fachfremde Betrachtungen auf den Autor von Dramen wie „Don Karlos“ oder „Kabale und Liebe“ in Marbach Tradition haben. Im letzten Jahr etwa hielt der Grünen-Politiker Cem Özdemir, ein nach eigenen Angaben völlig unbeleckter Schiller-Leser, die Geburtstagsrede auf seinen schwäbischen Landsmann, davor waren es Ernst Ulrich von Weizsäcker, Monika Grütters oder Norbert Lammert. Als totes und mithin selbstverständlich auch mundtotes Geburtstagskind kann man sich gegen seine Laudatoren nicht mehr wehren. 

Eine Rede auf einen Kollegen

Doch über Drosten, das scheint schon jetzt gewiss zu sein, hätte sich der Jubilar anlässlich seines 261. Geburtstags ganz sicher gefreut, nicht zuletzt sind die beiden Kollegen. Friedrich Schiller, die wenigsten wissen es noch, hatte nach einem missglückten Studium der Rechtswissenschaften ab 1775 selbst einst Medizin studiert und wurde fünf Jahre später sogar in dem Fach promoviert. 

Die medizinisch-akademische Abschlussarbeit, die der selbst stets etwas kränklich wirkende Dr. med. Schiller damals an der „Hohen Karlsschule zu Stuttgart“ schrieb, kann noch heute als kleiner Geniestreich auf jenem Fachgebiet bezeichnet werden, das man im 21. Jahrhundert vermutlich Psychosomatik nennen würde: Unter dem Titel „Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ schrieb der spätere Dichter darin über die Leib-Seele-Einheit aller menschlichen Kreatur und kam zu dem Schluss, dass „jede Überspannung von Geistestätigkeit jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge“ habe. 

Medizin als Kunst

Apropos Überspannung: Nach nur kurzer Zeit als Regimentsmedicus schmiss Schiller nach wenigen Monaten Skalpell und Hörrohr wieder hin und machte sich als Fahnenflüchtiger auf den Weg nach Mannheim. Erkrankt an Malaria blieb die Ordination des jungen Theaterdichters von da an geschlossen. Und dennoch: Gerade heutige Mediziner könnten eine Menge vom Kollegen Schiller lernen – nicht zuletzt dessen Sicht auf das große Ganze. Die Medizin nämlich, die heutigen Spatenwissenschaften scheinen das gerne zu vergessen, ist einst als Heilkunst aus den Künsten hervorgegangen, und die Künste wiederum waren noch in der Renaissance mit den Naturwissenschaften eng verbunden. Ganzheitlichkeit wäre also ein Stichwort, das bei Drostens Schillerrede nicht fehlen sollte.

Man darf also gespannt sein, was Schillers frisch erkorener Geburtstagsredner den Schillerfreunden am 10. November auch darüber hinaus noch alles zu erzählen weiß. Ein weiterer Vorschlag gefällig? Wie wäre es mit einer Interpretation des unvergessenen und durchaus wissenschaftlich angelegten Poems „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“, welches der Busenfreund des Dichters, der Geheime Rat, Naturforscher und Autor Johann Wolfgang von Goethe 1826, also bereits 21 Jahre nach Schillers Tod, zu Papier gebracht hat?

Ohne Geist kein Schädel

Die Geschichte dahinter ist diese: Nachdem Goethe sich den vermeintlichen Schädel des einstigen Freundes aus dem Kassengewölbe, einem Mausoleum auf dem Weimarer Jacosbfriedhof, hatte beschaffen lassen und auf einem blauen Samtkissen in seinem Studierzimmer drapieren ließ, schrieb er einige Verse über die abendländische Leib-Seele-Problematik: „Niemand kann die dürre Schale lieben / Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte“. Will heißen: Allein aus der Betrachtung von nackten Knochen ist längst kein Menschenbild gewonnen. Und schließlich: „Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? / Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.“

Es braucht also immer beides: Seele und Knochen, Geist und Schädel – sowie, etwas moderner gesprochen, Viren und Virenträger. Wer nur das eine in den Fokus nimmt, wird das andere verlieren und am Leben in seiner Gesamtheit wohl unvermeidlich vorbeischrammen. Es war im Jahr 1794, Schillers Schädel war noch von Schillers Lebenskraft durchwoben, als ein damals noch vollkommen unbekannter Naturforscher namens Alexander von Humboldt die Herren Schiller und Goethe in Weimar besuchte. Damals soll Schiller über den späteren Star-Forscher des 19. Jahrhunderts gesagt haben, dass vermutlich nie etwas Ordentliches aus diesem werden würde. Dieser Humboldt nämlich sei nur an Daten und Messungen interessiert und zeige, trotz vielfältigen Wissens, eine „Dürftigkeit des Sinnes“.

Mikro- und Makrokosmos

Dass sich Schiller mit dieser Einschätzung dann doch geirrt hat, lag nicht notgedrungen an ihm selbst. Es war eher Humboldt, der in den Folgejahren mehr und mehr die Belebtheit und das Durchwobensein der gesamten Natur erkannt hat. Uns Heutige lässt das Raum zu hoffen: Vielleicht braucht es doch mehr, als den mikroskopischen Blick eines Virologen, um den Makrokosmos von Leben, Tod und Krankheit, mithin des gewaltigen Kosmos um uns her, in letzter Konsequenz begreifen zu lernen.  
 

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