Sachbücher im November: Habermas, Precht, Welzer - Diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

Jürgen Habermas will mit seiner Kritik an den sozialen Medien eine Kluft in seinem Werk schließen. Und Richard David Precht und Harald Welzer sehen Abgründe zwischen Volk und Medien. Alle drei sehen die Demokratie gefährdet - wenngleich aus unterschiedlichen Richtungen.

Richard David Precht und Harald Welzer bei der Vorstellung ihres neuen Buches auf der Frankfurter Buchmesse / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Seit mindestens 20 Jahren klafft eine Lücke im Lebenswerk des „mit Abstand bekanntesten Philosophen“ (Precht/Welzer) Deutschlands. Seit rund 60 Jahren arbeitet Jürgen Habermas am Projekt der „deliberativen Demokratie“. Er versuchte nicht nur zu begründen, warum die Rationalität ins menschliche Miteinander immer schon eingebaut ist, sondern wie dieser Impuls in Entwicklung und Sicherung einer demokratischen Gesellschaft überführt werden kann. Im Zentrum steht bei ihm dabei vor allem eine Instanz: die Öffentlichkeit. Sie ist der Ort, an den die „Zivilgesellschaft“ ihre Anliegen auslagert, auf diese Weise die Politik „belagert“ und so Diskurse und Entscheidungen erzwingt. 

Damit dies auf rationale Weise gelingt, braucht es eine ebenso rational strukturierte Öffentlichkeit. Sie ist das Medium, durch das die Bürgeranliegen in einer Massengesellschaft hindurchmüssen. Und da liegt das Problem: Mit dem Aufkommen der sozialen Medien und einem „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ darf man Zweifel haben, dass dies noch möglich ist. Zur Disposition steht vielleicht die deliberative Demokratie – und damit das Lebenswerk von Habermas.

Besorgt um die Demokratie

In einem schmalen Bändchen versucht der 93-Jährige die durch die neuen Medien gerissene Lücke zu schließen. Aber es will nicht recht gelingen. Zu erheblichen Teilen beschäftigt er sich nicht mit den neuen Phänomenen, sondern liefert eine Zusammenfassung seines bisherigen theoretischen Schaffens. Das ist nicht ohne Nutzen: Der Meister hat auch eine Einführung in sich selbst abgeliefert.

Habermas hält die technologische Revolution des Internets mit Recht für ebenso bedeutsam wie den Buchdruck. Erstmals in der Weltgeschichte würden Leser in der Breite selbst zu Autoren. Damit ist die hierarchische Ordnung zwischen Sender und Empfänger, idealerweise Kundigen und Wissbegierigen, empfindlich gestört. Habermas weist ein ums andere Mal darauf hin, was damit verbunden ist: Echte Legitimität kann die deliberative Demokratie nicht aus dem ewigen Palaver ziehen, sondern nur aus der „diskursiven Qualität der Beiträge“. Er nennt das die „epistemische Dimension“ der Demokratie.

Aber diese werde für alle offenkundig von „wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt“. Es ist der Souverän selbst, der mit dem Presslufthammer Hand an das Fundament Rationalität legt. Vor der naheliegenden Frage, ob die Demokratie vielleicht auch auf ihr Ende zusteuert, schreckt Habermas indes zurück. Zu sehr ist er von der Idee beseelt, dass die Rationalität wie ein Automatismus in der Welt wohnt. Aber er zeigt sich besorgt.

Ein Buch über sich selbst

Etwas praktischer gehen Harald Welzer und Richard David Precht die Sache an. Sie interessieren sich dabei nicht so sehr für die „Halböffentlichkeit“ (Habermas) des Bürgerinternets, sondern für die Rolle traditioneller Medien. Und ihr Urteil fällt vernichtend aus. Sie konstatieren eine eklatante „Repräsentationslücke“ zwischen der Meinung des Volkes und dem, was die „amtierenden Medien“ zum Ausdruck brächten. Und dieser Zustand sei nichts anderes als demokratiegefährdend.

Als Belege dienen beiden Autoren dabei nicht nur die Berichterstattung zur Flüchtlingskrise und Corona-Pandemie, sondern vor allem die Debatte über Waffenlieferungen in die Ukraine. Während die Meinung der Deutschen hierzu zweigeteilt sei, würden die „Leitmedien“ im Rahmen einer „Selbstangleichung“ alle in dasselbe Horn blasen. Andersdenkende würden in sozial-medialen „Schauprozessen“ verheizt, und so würde der demokratische Diskurs in der Substanz beschädigt.

Precht und Welzer schreiben damit am Ende über sich selbst, und es ist kein Wunder, dass der Brief gegen Waffenlieferungen, den sie vor ein paar Monaten unterschrieben haben, das Material für das erste Kapitel liefert. Zwei bisher medial Überverwöhnte fanden sich erstmals selbst auf der Seite der „wüsten Geräusche“ wieder. Man blickt auf ein gewisses Maß an Befangenheit durch Selbstbetroffenheit. 

Presse ist nicht dem Volk verpflichtet

Aber das kann die Substanz der Argumente nicht entkräften. Es ist verdienstvoll, dass zwei namhafte Intellektuelle dem medialen Sektor die Leviten lesen. Sie erinnern daran, zwischen Kommentar und Meinung zu unterscheiden, die Erregungsflammen des digitalen Raumes nicht aus wirtschaftlichem Kalkül anzufachen und sich um die Qualität der Argumente zu kümmern, nicht um die soziale Vernichtung von Personen.

„Die vierte Gewalt“ hätte daher ein großes Buch werden können, ein Plädoyer für staatsbürgerliche Zivilisierung – wenn da nicht die ganzen Widersprüche wären: Es gebe zwar keine „Wahrheit“ – und dennoch soll der Journalismus ihr verpflichtet sein; sie kritisieren die inhaltliche „Selbstangleichung“ der Medien – und bezeichnen es zugleich als „lumpige Farce“, dass NZZ oder Cicero im Rahmen der Flüchtlingskrise auch den Nicht-Einverstandenen eine Stimme gaben; und sie werfen den Leitmedien eine „Repräsentationslücke“ vor – und zugleich, dass diese bloß als „Gefühlsverstärker“ agierten, sodass „Menschen zu Arschlöchern“ geformt würden.

Entscheidender ist anderes. Woher kommt eigentlich das normative Gebot, die „Leitmedien“ müssten Volkes Stimme zum Ausdruck bringen? Das gilt nicht einmal für die Politik. Es genügt ein Blick ins Grundgesetz. Und schon gar nicht lässt sich dies so mit Habermas begründen, in dessen Furche die Autoren wandern. Denn die deliberative Demokratie lebt von der Qualität der Beiträge und der kurativen Funktion Informierter. Die Presse soll berechtigte Interessen und gute Argumente „repräsentieren“ und nicht „das Volk“. Eine „Repräsentationslücke“ kann daher auch ein Gebot der Stunde sein. Das gilt immer dann, wenn „das Volk“ außer Rand und Band ist. Dank neuer Medien könnte das ein Dauerzustand werden.

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp, Berlin 2022. 108 Seiten, 18 €

Richard David Precht und Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 288 Seiten, 22 €

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige