Sachbuch im Mai - Und die nächste Opfergruppe

Nach dem Rassismus kommt jetzt der „Klassismus“. Er beschreibt die Diskriminierung gegenüber Einkommensschwachen. 14 Autoren schreiben in einem Sammelband dagegen an – mit mäßigem Erfolg.

Debatten-Deutschland entdeckt den „Klassismus“ für sich / Eva Z. Genthe
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Gerade eben noch schien die Zurückweisung von Zumutungen des identitätspolitischen Aktivismus aus der Mitte der Gesellschaft heraus entschiedener zu werden. Von Zumutungen wie der, „alle Weißen“ seien Rassisten und Rassismus sei in „weißen“ Gesellschaften „strukturell“. Oder der, dass man willentlich oder fahrlässig Gefühle verletze, wenn man sich für das Sprechen über Herkunfts- oder Geschlechtsidentitäten nicht der exakt richtigen, aktuellen Formulierungen bediene.

Gerade eben noch schien das so. Nun aber zieht schon der nächste identitätspolitische Duft durch den Debattenraum. Die Klasse – und die Diskriminierung aufgrund der Klasse: der „Klassismus“. Olaf Scholz hofft tatsächlich schon, über diesen Begriff die soziale Erdung für eine SPD zurückzugewinnen, die auch längst auf jene kulturell-identitätspolitischen Abwege geraten ist.
Vergessen, ein „blinder Fleck“, sei in diesem Land die Diskriminierung aufgrund der „Klasse“, aus der man stamme, so heißt es in einem gerade erschienenen, viel beachteten Sammelband zum Thema. 14 Autorinnen und Autoren, erfolgreiche junge Schriftsteller, schreiben gegen dieses Vergessen an – überwiegend autobiografisch und autofiktional über ihre eigene „Unterklasse“-Herkunft.

Täglich grüßt der böse Kapitalismus

Die Herausgeber Maria Barankow und Christian Baron behaupten im Vorwort eine vorherrschende Haltung von Kälte und Ungerührtheit der Mehrhabenden gegenüber den Wenigerhabenden in diesem Land. Und wir lebten – man kennt das – in einer neoliberalen „marktkonformen Demokratie“ und „im Kapitalismus“. Nein, muss man gleich einwenden, wir leben in einem Sozialstaat, in einer sozialen Marktwirtschaft und in einer rechtsstaatlichen Demokratie. 
Von systemischer „Ausbeutung“ ist dann weiter die Rede, von nach wie vor unversöhnlich sich gegenüberstehenden Interessen von Kapital und Arbeit und natürlich ständig von „Armut“ in diesem Land.

Im Vergleich zu den Nachkriegsjahrzehnten sinkt heute die Aufstiegsmobilität – das scheint soziologisch gesichert. Vorschläge sind willkommen, wie man das ändern kann. Finden tut man sie in diesem Buch nicht. Was die Einkommensentwicklung im Land betrifft, gibt es allerdings doch eine deutliche Mobilität nach oben – wie der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gerade auch für Geringverdiener zeigt.

Gegenbeweise ihrer eigenen Thesen

In dieser neuen Klassendebatte fand jüngst die junge Autorin Sophie Passmann, sie benenne einen Skandal der Chancen­ungleichheit, als sie feststellte, das „Arbeiterkind“, das zur Uni gehe, bekomme nach der Regelstudienzeit kein Bafög mehr. Hier liegt der Fall ähnlich wie bei Julia Friedrichs, die in ihrem aktuellen Buch „Working Class“ nah an die Lebenslagen einiger Menschen mit niedrigem Einkommen herangeht und dann etwas wie dies beklagt: „Sie haben Angst, sich politisch zu engagieren. Die Musikschullehrerin hat an einem Streik nicht teilgenommen, aus Sorge, in der Zeit eine Schülerin zu verlieren.“ Ist man hartherzig, wenn man sich darüber nicht mitempören mag?

Der Gesamteindruck ist auch in diesem Band, dass hier keine neuen, uns völlig unbekannten Ungerechtigkeiten entdeckt werden. Und auch, dass es sich beim Entdeckten immer um Ungerechtigkeiten handelt, ist nicht sicher.
Die Autorinnen und Autoren, von Baron selbst über Lucy Fricke und Olivia Wenzel bis Arno Frank und Kübra Gümüsay, sind allesamt Gegenbeispiele ihrer Rede von einer Ausweglosigkeit aus dem stählernen Klassengehäuse. Sie sind allesamt sehr präsente und gehörte Figuren, mit stipendiengepolsterten schriftstellerischen Lebenswegen – was ja wunderbar ist. Man will niemandem in diesem Buch persönlich zu nahe treten. Aber sie selbst werden sehr persönlich – und man kann dann doch nicht anders, als ihren Ton im Ganzen larmoyant zu nennen. 

Hauptsächlich Selbstbeschäftigung

Es scheinen oft sehr persönliche Probleme zu sein, um die es geht – etwa, wenn immer wieder von einer anhaltenden Scham bei Gelegenheit von Stehempfängen die Rede ist. Dass man sich mit Sekt und Fingerfood immer noch falsch fühle – weil man von unten komme und in Armut aufgewachsen sei. Dass die Unsicherheit bei solchen Gelegenheiten nie ganz weggehe. Darf man noch fragen, inwiefern das die Schuld der Gesellschaft ist, Beweis für „Klassismus“ – und nicht möglicherweise ein jeweils individuelles Problem, so wie jeder welche zu bewältigen hat? Als kämen persönliche Unsicherheiten nur über die Berufe oder Einkommensverhältnisse der Eltern in die Welt.

Gelegentlich hat man auch in dieser Textsammlung das Gefühl, dass es eher die Akteure innerhalb der Debatte und nicht die „Klassisten“ da draußen sind, die sich bestimmten sozialen Situationen mit einer gewissen Überheblichkeit nähern. Dass der „Klassismus“ eher in ihrem eigenen Blick steckt als in einem angeblich gesellschaftlich grassierenden. Sophie Passmann hat in ihrem Bestseller „Komplett Gänsehaut“ gerade tatsächlich über die eigene Millennialgeneration gesagt: „Wir würden niemals bei Primark einkaufen, weil wir behaupten, fast fashion zu hassen. Dabei hassen wir nur arme Menschen, die bei Primark einkaufen müssen.“ Für die Überwindung des „Klassismus“ scheint nicht zuletzt ein Selbstgespräch unter grünen Linken oder linken Grünen vonnöten.

Blanke Rhetorik

Sympathisch sticht Clemens Meyer aus all dem heraus. Der hat keine politische Agenda, sondern einen poetischen Blick und kommt ohne Anklage aus. Und hat wie in seiner großartig verfilmten Erzählung „In den Gängen“ die Würde derer, über die er schreibt, auch hier verlässlich in seinen guten literarischen Händen. Die politische Agenda kommt in den anderen Texten – vielleicht mit Ausnahme noch von Katja Oskamps leisem Stück über ein junges schwules Paar – dem eigentlich Literarischen in die Quere.

Wird nun unter diesem Blickwinkel des „Klassismus“ heute wirklich der entstandene Gegensatz zwischen einer traditionellen und der identitätspolitischen Linken aufgelöst, wie es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung jüngst hieß? Weil Klasse und Armut beide Seiten interessieren? Nein. Und zwar deshalb nicht, weil das Soziale hier nur im rhetorischen Modus nachträglicher persönlicher Empörung über die eigenen Lebenslagen zur Sprache kommt – und nicht politikfähig über die Analyse von Strukturen und Vorschläge zu ihrer Verbesserung. 

Es ist auch eigentlich nicht links, lediglich von einer (in diesem Band behaupteten) „Verachtung“ für Arme wegkommen zu wollen, hin zu Anerkennung und Respekt für schwierige Lebenslagen. Sondern es ist links, diese Lagen ändern und persönliche Entfaltung ermöglichen zu wollen.

Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Claassen, Berlin 2021. 224 Seiten, 20 €

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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