Reisen mit der deutschen Bahn - Nachtzug nach Berlin

Auf der Rückfahrt von Frankreich merkt unser Autor, dass in Deutschland so gut wie nichts mehr funktioniert. Doch immerhin kommt er im überfüllten Zug mit Amerikanern, Griechen und Abiturienten aus Berlin-Wedding ins Gespräch über die schöneren Länder, die man gerade bereist hatte. Nächstes Jahr kauft er sich einen Interrail-Pass.

So ruhig geht es in deutschen Nachtzügen schon lange nicht mehr zu / dpa
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Autoreninfo

Finn Job ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Im August 2022 erschien sein erster Roman „Hinterher“ (Wagenbach).

Foto: Timo Lindeman

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Es ist in Ordnung, auf dem Fußboden eines völlig überfüllten Regionalzugs zu schlafen, wenn man achtzehn ist und etwas von der Welt sehen will. Mir zumindest hat das nicht viel ausgemacht. Es machte mir nichts aus, über den Balkan zu trampen und London im Fernbus zu erreichen. Es machte mir nichts aus, mich in New York einzig von Hotdogs zu ernähren, sieben Stunden in Amman auf einen Anschlussflug zu warten und in einem überfüllten Krakauer Schlafsaal zu nächtigen. Man muss nicht schlafen, wenn man jung ist, muss nichts essen, wenn man in den frühen Morgenstunden Masada besteigt.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich sehr protestantisch erzogen wurde. Ich habe die nötige Strenge gegen mich selbst. Aber selbst ich wurde älter und empfindlicher, gewöhnte mich schließlich an weiche Bettwäsche und besseren Wein, vielleicht sogar an Zimmerservice. Die Umgewöhnung vollzieht sich ganz von selbst, für den Reisenden kaum spürbar. Irgendwann ist es undenkbar geworden, ein Hostel zu buchen, undenkbar, einen Flug schon um vier Uhr morgens zu nehmen. Die Ansprüche steigen, ohne dass man es bemerkt. Und das ist kein Problem, denn für gewöhnlich hat man mit siebenundzwanzig mehr Geld als mit achtzehn, und es ist gar nicht lange her, da konnte man mit relativ wenig erstaunlich gut reisen, zumindest, wenn man sich nicht allzu dumm anstellte.

Doch die fetten Jahre sind vorbei, die Flüge nach Paris kosten fünfmal so viel wie im letzten Jahr. Nun gut, dann fahre ich eben mit der Bahn, dachte ich mir. Paris dieses Jahr nicht zu sehen, ist keine Option, dachte ich mir. Ich fuhr also nach Paris und kam nur eine Stunde zu spät an. Wenn man den Nachrichten Glauben schenkt, gibt es Leute, die Schlimmeres erleben. Paris war schön wie eh, und fast hätte ich vergessen, dass ich über Nacht zurückfahren würde. Der erste Zug hatte wieder nur eine Stunde Verspätung. Kein Problem, dadurch verkürzt sich der Aufenthalt am Frankfurter Hauptbahnhof, dachte ich mir. Man muss dieser Tage optimistisch bleiben, denn alles andere wäre grob fahrlässig.

Das Schlimmste am Reisen ist die Rückfahrt nach Deutschland

Ich biss gerade in einen labbrigen Big Tasty Bacon, verglich ihn mit meinem letzten Tartare de Bœuf an der Place du Temple und beobachtete zwei Frankfurter Junkies, wie sie sich sehr langsam um eine Zigarette prügelten, als die Anzeige verkündete, dass der Anschlusszug vierzig Minuten später kommen würde. In der Pariser Mansarde war es so heiß gewesen, dass ich die ganze Woche nie länger als zwei Stunden hatte schlafen können. Nun war es bereits weit nach Mitternacht, und ich lief durch den Bahnhof, immer auf und ab, um nicht einzunicken. Es war viel kälter als in Frankreich, und die Leute sahen viel trauriger aus als die in Paris. Das Schlimmste am Reisen ist die Rückfahrt nach Deutschland. Das hatte ich schon als Kind so empfunden.

Aus den vierzig Minuten wurden fünfzig, aus den fünfzig sechzig und schließlich waren es hundertdreißig. Natürlich wurde die Zahl immer erst im allerletzten Moment nach oben korrigiert, damit die Horden von Rucksacktouristen, verarmten Rentnern und Familien mit kleinen Kindern nicht auf die Idee kämen, das Gleis zu verlassen und sich irgendwo aufzuwärmen. Schließlich kam der Zug.

„It’s always like that“

Ich stieg ein, doch nichts war frei. Ich lief weiter, lief von Wagen zu Wagen, und hunderte müder Reisender taten es mir gleich. Schließlich fand ich doch noch ein Abteil mit zwei freien Plätzen. Am Fenster schlief ein Paar, eigentümlich ineinander verrenkt, und zwei vielleicht siebzehnjährige Jungen in kurzen Sporthosen, die gerade wahrscheinlich zum ersten Mal allein verreist waren, begrüßten mich mit einem murmelnden „Morgen“. Ich versuchte vergeblich, meinen Koffer zu verstauen, stellte ihn sodann zwischen meine Beine, durchsuchte mein Telefon nach den ruhigsten Liedern von Françoise Hardy und wollte gerade versuchen, ein wenig zu schlafen, als mein Blick durch die verglaste Tür glitt. Auf dem Gang vor unserem Abteil drängten sich verschiedenste Menschen aneinander vorbei. Der Zug war hoffnungslos überfüllt, fuhr noch immer nicht los, und irgendwo weinte ein Baby.

„Jesus Christ“, murmelte es links von mir mit einem amerikanischen Akzent. Das Paar war aufgewacht. „What is wrong with Germany?“

Die Jungen lachten. „It’s always like that.“

Nein, ich würde ihr nicht verraten, wer Ferda Ataman war

Vor unserem Abteil stand ein Vater mit zwei schlafenden Kindern auf dem Arm, und ich öffnete ihnen die Tür, ließ ihn umständlich über meine Beine und meinen Koffer steigen und neben mir Platz nehmen.

„Believe me, I know situations like that. I’m from Greece“, sagte er in die Runde. Alle lachten.

„But you don’t have to wait more than two hours for a train there“, fuhr er fort. „I didn’t pay for four tickets to get just one seat. My wife is in another wagon … I thought Germany was a rich and well organised country.“

Ich überlegte, ob ich ihm erklären sollte, wie sich die Prioritäten der Deutschen in letzter Zeit gewandelt hätten und ob ich ihm verraten sollte, dass man Indonesier einfliegen ließ, damit diese antisemitische Großveranstaltungen organisierten, dass man gerade das Kanzleramt um vierhundert Büros erweiterte, obwohl es schon jetzt achtmal so groß wie das Weiße Haus war, dass man allerlei sinnlose Stellen für gleichermaßen minderbemittelte wie bösartige Geisteswissenschaftler erfand, weil Demagoginnen wie Ferda Ataman auf dem ersten Arbeitsmarkt sonst nicht vermittelbar wären. Ich überlegte, ob ich dem Griechen erklären sollte, dass kein Geld mehr übrig war, um in die Infrastruktur zu investieren, dass man mitten in einer historischen Energiekrise die letzten Atomkraftwerke abschaltete, ganz einfach, weil die Bevölkerung neuerdings Politiker liebte, die ihnen erklärten, wie schrecklich alles werden würde, und dass sie schlechte Menschen seien, die am besten den Rest ihres Lebens frieren sollten. Doch in diesem Moment wachte die Tochter des Griechen auf – sie saß auf seinem rechten Knie und schlang ihre kleinen Arme um seinen Hals. Und als ich ihre verschlafenen Äuglein blinzeln sah, verschwand ganz plötzlich meine Wut. Nein, ich würde diesen kleinen unschuldigen Menschen nicht mit dem deutschen Wahn verstören. Sie lächelte mich an. Nein, ich würde ihr nicht verraten, wer Ferda Ataman war.

„Well, I’m from California“, erklang es vom Fenster her. „We care for people, especially for kids.“ Der Amerikaner schob seine Basecap zurück und machte Anstalten, das Abteil zu verlassen.

Der Grieche war natürlich viel zu höflich, um dieses Angebot anzunehmen, doch der Amerikaner insistierte, und nachdem ich einige schuldbewusste Blicke mit den jungen Deutschen gewechselt hatte – warum waren wir nicht auf diese Idee gekommen? –, einigten wir uns darauf, abwechselnd auf den Gang zu gehen, damit die Kinder würden schlafen können.

Vielleicht wird doch noch alles gut

Schließlich fuhren wir los. Die absurde Situation, in der wir waren, löste unsere müden Zungen; gemeinsam echauffierten wir uns über Deutschland und verglichen den Notstand mit den schöneren Ländern, die wir gerade bereist hatten. Ich erfuhr, dass die Amerikaner die Woche in Zürich verbracht, die Griechen Nizza und Paris bereist und die Deutschen – Weddinger Abiturienten – sich Florenz, Venedig und Wien angesehen hatten. Nur die Kinder schliefen, und nach einigen Stunden – wir waren erst auf der Höhe von Fulda – war ich an der Reihe, aufzustehen. Ich ging in den Gang und stellte mich ans Fenster. In einigen Abteilen waren neun Personen untergebracht, viele schliefen auf dem Boden. Ein junger Brite flirtete mit einer jungen Ukrainerin. Sie küssten sich, noch bevor sie die Zeit fanden, einander ihre Namen zu nennen.

Es störte mich immer weniger, dass wir kaum vorankamen, überall erblickte ich junge, aber auch ältere Menschen, die für wenig Geld Europa sehen wollten, die sich nicht von den Widrigkeiten entmutigen ließen, die freundlich zueinander waren, obwohl sie gute Gründe hatten, wütend zu sein.

Mein Rücken schmerzt, doch das ist mir egal. Und sowie ich diesen Text in mein Telefon tippe, sehe ich die Sonne über den Feldern, über den Windrädern aufgehen. Vielleicht werde ich durch den Schlafmangel allmählich verrückt, doch gerade will ich nirgendwo anders sein. Vielleicht wird doch noch alles gut. Und nächsten Sommer kaufe ich mir einen Interrail-Pass. Ganz sicher mache ich das.

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