Gecancelter Rassismus-Vortrag - „Das ist dreifache Diskriminierung“

Die Stadt Hannover sagt den Vortrag des Historikers Helmut Bley über Kolonialgeschichte Afrikas ab. Eine Initiative hatte kritisiert, dass ein weißer Mann auftritt. Ob das schon immer so war und was Cancel Culture mit unserer Gesellschaft macht, darüber spricht er im Interview.

​Ein Denkmal zur Erinnerung an den von deutschen Kolonialtruppen begangenen Völkermord an den Herero und Nama in Namibia / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Helmut Bley wurde 1976 an die Universität Hannover auf eine C4-Professur für Neuere und Afrikanische Geschichte berufen. Seit 2003 ist er emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der afrikanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert, auf der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs sowie der Geschichte des Weltsystems seit der Frühen Neuzeit.


Herr Bley, die Stadt Hannover hat eine Diskussionsveranstaltung über die Kolonialzeit abgesagt. Eine Anti-Rassismus-Initiative hatte sich im Vorfeld gegen die Teilnahme von Ihnen als renommiertem Afrika-Experten ausgesprochen. Was sagen Sie zu der Entscheidung?

Die Entscheidung der Sachbearbeiterinnen der Antirassismus- und Demokratiebewegung war ein grobes Einknicken und ein Fehler gegenüber dieser völlig geschlossenen, fast fanatischen identitätspolitisch geprägten Gruppe. Das war der Fehler. Aber dass im Rathaus eine Sachbearbeiterin wegen der Nähe der Gruppe zu den Grünen einknickte und das als ihre Klientel verstand, war bekannt und ist aus meiner Sicht natürlich unverzeihlich. Die Kooperation bestand mit einer anderen Abteilung, und zwar mit der Abteilung „Wissenschaftsstadt Hannover“ – die hatte mich eingeladen und war jetzt empört. Die Abteilung hat sofort eine neue Einladung zum November, für den Wissenschaftstag in Hannover, ausgesprochen. 

Insgesamt ist die Empörung in der Stadt groß. Eine grundsätzliche Sorge verbreitet sich, dass diese Identitätspolitik einen Trend setzt, den wir gerade in Amerika und Kanada noch viel stärker sehen. Dieser könnte die Gesellschaft weiter spalten und im Grunde die demokratischen Grundlagen aushöhlen. 

Die Initiative wollte nicht mit Ihnen über Rassismus diskutieren, weil Sie nicht schwarz sind. Das ist doch vielmehr diskriminierend. 

Ja, natürlich. Wolfgang Thierse hat das als „umgekehrten Rassismus“ bezeichnet. Selbstverständlich ist das Rassismus. Es ist Altersdiskriminierung, es ist Geschlechterdiskriminierung – es ist eine dreifache Diskriminierung, wie jemand in einem Leserbrief geschrieben hat. 

Sehen Sie sich durch die Absage ihres Vortrages als Opfer von Cancel Culture?

Ja, das ist nun insgesamt missglückt. Ich habe sofort nach der Vorbesprechung mit den beiden verantwortlichen Referentinnen gesprochen und dann einen Vorspruch für diesen Vortrag geschrieben. Dieser wurde dann ins Rathaus geschickt und an Freunde. Sie haben den Vorspruch für den Newsletter eines Vereins für Erinnerungspolitik weitergegeben, und von dort ist er dann in den Medien gelandet. Inzwischen habe ich einen Termin beim ZDF. Also, ich bin schon lange kein Opfer mehr. Man konnte sich wirklich wehren, auch durch die Unterstützung von Freunden und Kollegen. Wir sind in der Offensive.  

Sie haben gesagt, dass dieses Verhalten allerdings in eine größere Problematik eingebettet sei: „Eine massive Zensurbewegung, die nur Betroffene für berechtigt hält, über ein Problem zu sprechen.“ Können Sie diesen Punkt noch weiter ausführen und sagen, was das für unsere Gesellschaft bedeutet? 

Das ist für mich der zentrale Punkt. Wenn man nicht mehr in der Lage sein soll, sich in andere Kulturen einzudenken und damit zu befassen, dann gefährdet man nicht nur das Zusammenleben, sondern auch die Wissenschaftsfreiheit und die Errungenschaft der Aufklärung. Und genau das spaltet wiederum die Gesellschaft und beinhaltet eine antidemokratische Tendenz. Ich selber sage voraus, dass diese wohlmeinenden links-identitären Gruppen im Grunde das Feld für die Rechtspopulisten erweitern. Damit erreichen sie das Gegenteil von dem, was sie eigentlich erreichen wollen. 

Heute zählen nicht mehr die besseren Argumente, sondern nur noch die richtige Moral. Was heißt das für unsere Debattenkultur? Kann so überhaupt noch Diskussion geführt werden? 

Nein, der Beamte im Rathaus hat gesagt, dass das Diskursverweigerung gewesen sei – ohne Diskurs kann man nicht diskutieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Moralisch angeblich, selbstdefiniert, auf der richtigen Seite zu stehen, das ändert nichts an der Verpflichtung, in der Gesellschaft seine Position mit anderen auszutauschen. Dieser Sog ist wirklich sehr gefährlich. 

Hannover hat mit Belit Onay seit 2019 einen grünen Oberbürgermeister. Hat die Absage dieser Diskussionsveranstaltung auch etwas damit zu tun? Sind die Grünen in Fragen des angeblichen Rassismus zuweilen übervorsichtig?

Das kann sein. Belit Onay hat sich mir gegenüber nicht geäußert, es hat nur ein höherer Beamter mit mir gesprochen – das war mehr eine bürokratische Haltung. Wenn sich zwei Abteilungen streiten, werden sie sich nicht äußern. Nein, er hat sich also zurückgehalten. 

Kritisieren Sie das? 

Ich glaube es wäre in diesem Fall angemessen gewesen, aber ich weiß, Belit Onay hält sich in diesen Fragen zurück. Alle Fraktionen des Rates haben sich geäußert. Am kühlsten und fast ablehnensten die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Frau Clausen-Muradian. Hilfreich hingegen war, dass in der CDU ein Deutsch-Afrikaner den Posten eines Ratsherrn bekleidet, und der hat gesagt, dass diese Art der Diskriminierung und des Umgangs die Integration gefährde. Das muss man stärken, das ist eine durchaus positive Entwicklung. 

Helmut Bley / Dominique Gillissen 

Sie beschäftigen sich seit sechs Jahrzehnten mit der Kolonialgeschichte in Afrika, sind ein Fürsprecher der Aufarbeitung dieser Geschichte. Hatten Sie in Ihrer Arbeit schon früher Probleme wegen Ihrer Hautfarbe?

Nein, nicht wegen meiner Hautfarbe. Es gab allerdings früher in den 1960iger Jahren, als ich den Genozid an den Herero in meinem Buch über Namibia, als erster nach dem Zweiten Weltkrieg, aufgearbeitet habe, eine Spiegel-Geschichte. Der Hass in den Leserbriefen, der dort auf mich einstürmte, war eindrucksvoll. Ich habe diese Briefe drei Monate nicht lesen können. Zurück zu Ihrer Frage: Ich habe auch mit afrikanischen Kollegen Freundschaften aufgebaut, und wir tauschen uns aus. Wir haben immer eine gute Beziehung gehabt und können auch mal in scherzhafte Bezüge gehen. 

Ist das ein Thema, wenn Sie in Afrika arbeiten? Oder ist das nur ein Problem, das sich Studenten an westlichen Universitäten ausgedacht haben? 

Es gibt eine Tendenz, die als Panafrikanismus daherkommt und die die Schuldfrage an Europa so formuliert: „Ihr habt elf Millionen Sklaven nach Amerika verschifft. Wir sind Opfer“ – was ja auch eine Katastrophe und ein Skandal war. Die Wirklichkeit ist, dass noch einmal zusätzlich elf Millionen Sklaven durch die Sahara an das Osmanische Reich verkauft worden sind. Fast das dreißigfache an Menschen, die aus Afrika heraustransportiert worden sind, wurden in Afrika selbst versklavt. Das heißt, viele Afrikaner sind als Sklaven von afrikanischem Adel oder Herrschern eingesetzt worden – oder sind Opfer anderer afrikanischer Herrschaft. Und das wird durch das panafrikanische Opferdenken, „Wir sind Opfer“ des transnationalen Sklavenhandels, total ausgeklammert. Das wollen sie nicht wissen. 

Auch Amanda Gormans Gedichtübersetzung ins Niederländische wurde zum Opfer von Cancel Culture. Die schwarze Aktivistin Janice Deul war empört darüber, dass eine weiße Autorin das Gedicht übersetzen sollte. Die hat den Auftrag nach der Kritik zurückgegeben. Ihnen ist eine ähnliche Situation widerfahren. Wie gehen Sie damit um? 

Genau das ist das Gefährliche. Erstmal ist es absurd, dass eine erfahrene Übersetzerin und Schriftstellerin, nur weil sie weiß ist, kein Gedicht einer afroamerikanischen Dichterin übersetzen soll. Das ist schon ein Skandal als solches. Der andere Skandal ist der Shitstorm, der sie erreicht, und die Macht der Medien, Menschen über virtuelle Shitstorms zu isolieren. Auch die jungen Frauen, die mich hier beleidigt haben, sind ja auf Facebook aktiv. Sie treten öffentlich gar nicht auf. Das ist eine gefährliche Entwicklung, da sie die Menschen mundtot macht. Das ist eine reale Gefahr. Das sind Minderheiten, die andere Menschen mundtot machen. In Kanada und den USA ist das ja noch viel schlimmer. Wir sind ja gerade erst in den Anfängen. Wobei auch die schon drastisch sind. 

Was erwarten Sie dann in Zukunft? 

Ich begrüße eine medienstarke Abwehrbewegung, und wir können nur hoffen, dass wir diesen Dammbruch zurückdrängen können. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, da man die gesamte Entwicklung in die Öffentlichkeit bringen muss. 


Die Fragen stellte Sina Schiffer 

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