Beginn des Ramadans - Die Coronakrise als Chance für den Islam

Am heutigen Freitag beginnt der muslimische Fastenmonat Ramadan. Die Coronakrise gibt Muslimen die Chance, mit ihrer Religion selbstbestimmt und mündig umzugehen und sich als verantwortungsbewusster Teil Deutschlands zu zeigen, schreibt Ahmad Mansour.

Der Fastenmonat Ramadan beginnt am 23. April und endet am 23. Mai / dpa
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Autoreninfo

Ahmad Mansour ist Psychologe und Autor. Als Islamismus-Experte beschäftigt er sich mit der Radikalisierung und Unterdrückung im Namen der Ehre und mit Antisemitismus in der islamischen Gemeinschaft. Zusammen mit anderen hat er 2018 die Initiative „Säkulärer Islam“ gegründet. 

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Ahmad Mansour ist ein deutsch-israelischer Psychologe und Autor. Die von ihm gegründete Initiative Mind Prevention realisiert Projekte zur Förderung der Demokratie, gegen Extremismus, religiösen Fundamentalismus, Antisemitismus und Unterdrückung im Namen der Ehre. Zu diesen Themen hat der Islamismus-Experte mehrere Bestseller geschrieben, darunter „Klartext zur Integration“ (2018) und „Generation Allah“ (2015).

Die Sehnsucht nach Normalität ist auch bei uns Muslimen groß – besonders im Fastenmonat Ramadan. Beim traditionellen Fasten ist das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Familie besonders stark, selbst bei denjenigen, die ihren Glauben ansonsten eher nicht praktizieren. Der Einkauf im Laden um die Ecke und die Zubereitung der aufwendigen Gerichte für das Fastenbrechen nach Sonnenuntergang gehören dazu. Ebenso der Brauch, das Festmahl gemeinsam mit vielen Familienmitgliedern und Freunden einzunehmen.

In Coronazeiten stehen wir Muslime nun vor einer riesigen Herausforderung. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt. Weltweit mussten und müssen Christen, Juden und andere Religionsgemeinschaften ihre religiösen Rituale quasi „neu erfinden“, um sich, ihre Familie und die Gesellschaft vor einer Ansteckung mit Covid-19 zu schützen. Es ist viel, was von den Gläubigen verlangt wird.

Herausforderung und Chance

Zum einen belastet die physische Trennung von der Großfamilie, zum anderen sind Orte des Gebets und der Zusammenkunft wie Moscheen, Kirchen, Synagogen sowie Kulturstätten geschlossen. Hinzu kommen die unklare Zukunftsperspektive und die akuten Sorgen, die viele jetzt haben. Noch schwerer als muslimische Migranten-Familien haben es die Geflüchteten im Ramadan. Besonders die vielen jungen Männer wollen jetzt alleine, getrennt von der Familie, gerne mit Freunden ein Stück Heimat gemeinsam auf den Tisch und in den Mund zaubern.

Doch all das muss jetzt aufgegeben werden. Wir müssen jetzt alle auf Normalität verzichten, aus Solidarität, aus Nächstenliebe. Das ist nicht leicht. Doch genau diese Krise ist ein guter Zeitpunkt, unsere Religion neu zu verstehen und zu praktizieren. Corona sorgt dafür, das gerade jetzt die Sehnsucht nach Spiritualität und Zusammenhalt wächst. Es ist eine Zeit, die Verantwortung für sich selbst und andere verlangt.

Neue Verantwortung im Umgang mit der Religion

Übertragen wir Muslime dies auf unseren Umgang mit unserer Religion. Lassen wir uns endlich mündig eigene Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Wir brauchen keinen Imam in Saudi Arabien, der uns sagt, dass wir jetzt in Gemeinschaft beten sollen. wir brauchen auch keine Fatwa von religiösen Autoritäten, um aus gesundheitlichen Gründen vom Fasten befreit zu werden.

Wir brauchen nicht den Imam aus der Türkei, nicht den selbsternannten Gelehrten, nicht den Radikalen. Es ist an der Zeit, uns von der Abhängigkeit von jenen zu befreien, die meinen, im Namen Allahs sprechen zu dürfen. Es ist an der Zeit, die Religion zu individualisieren und uns mit eigenem Verstand und kritischem Geist mit den Texten des Korans auseinanderzusetzen. Wir können uns von einem patriarchalischem Gottesbild lösen und das werden, was schon die Aufklärung für uns Menschen wollte: mündige Bürger und Gläubige, die sich nicht scheuen, mit Gott zu streiten und Texte neu zu interpretieren.

Lassen Sie uns endlich Teil von Deutschland werden

Die Religionsfreiheit, die wir alle in Deutschland genießen, ist nur im Rahmen des geltenden Rechts möglich, und ich hoffe, dass die Mehrzahl der Muslime, auch hier in Deutschland, den Schutz der Allgemeinheit und deren Gesundheit vor religiöse Rituale stellen wird. Deshalb appelliere ich an meine muslimischen Mitbürger: Lassen Sie uns endlich Teil von Deutschland werden, indem wir nicht nur als Gemeinschaft, sondern auch als Individuum unsere Bürgerpflicht erfüllen, vorbildlich agieren, unsere religiösen und traditionelle Rituelle erst einmal hinten anstellen und diesen Monat nutzen, um die Gesundheit aller zu schützen.

Die nächsten Tage und Wochen werden entscheidend sein. Wir Muslime sollten verantwortlich handeln und das Fastenbrechen nur mit der im Haushalt lebenden Kernfamilie vollziehen. Wir sollten beim Einkaufen und auf der Straße Abstand voneinander halten, die Hygienevorschriften strikt befolgen und auf den Gang in die Moschee vorerst verzichten.

Das Virus unterscheidet nicht zwischen Muslimen, Christen, Juden

Und wir sollten diese große Krise auch dazu nutzen, die Kontrolle über unsere Religion zu übernehmen. Das Virus unterscheidet nicht zwischen Muslimen, Christen, Juden, Atheisten, Frauen, Männer, Arm und Reich. Der Kampf gegen die Pandemie und für unsere aller Freiheit ist nur gemeinsam zu gewinnen.

Wir sollten unsere Schubladen neu sortieren, in die wir Menschen vorschnell sortieren: in Freund und Feind, Gut und Böse, Mächtig und Schwach, Himmelsreiter und Höllenschmorer. Nun ist die Gelegenheit, unsere Prioritäten neu zu setzen. Vielleicht wird eine israelische „zionistische“ Firma den Impfstoff gegen Covid-19 als erstes herstellen und dadurch Millionen Leben retten. Vielleicht werden muslimische Patienten von einer Ärztin behandelt und gerettet, obwohl das dem patriarchalischen Weltbild vieler Muslime widerspricht.

Und vielleicht wird der „ungläubige“ Nachbar, der Atheist, ihren Vater oder Großvater vor der Ansteckung mit dem Virus bewahren, indem er auf der Straße oder im Supermarkt Abstand von ihm hält. Religion ist kein höheres Gut als die Mitmenschlichkeit. Religion ist Menschlichkeit. Eines wird angesichts der Coronakrise mehr als je offenbar: Alle Menschen sind gleich.

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