Ralf Schuler verlässt „Bild“ - „Ich bin nicht bereit, für eine politische Bewegung und unter ihrer Flagge zu arbeiten“

Mit Ralf Schuler verlässt einer der renommiertesten Politikjournalisten des Landes die „Bild“. Als Leiter der Parlamentsredaktion stand er zuletzt wie kein zweiter für die politische Berichterstattung des Boulevardblattes. In einem Brief an Springer-Chef Mathias Döpfner und „Bild“-Chefredakteur Johannes Boie, der Cicero exklusiv vorliegt und dessen Echtheit Schuler auf Nachfrage bestätigt, findet der Journalist klare, aber auch nachdenkliche Worte. Schuler kritisiert einen zu unkritischen Umgang des Konzerns mit der LGBTQ-Bewegung und eine Richtungsentscheidung der Führungsetage, sich auf die Seite der Queer-Aktivisten zu schlagen.

Verlässt Springer im Streit um den LGBTQ-Kurs des Konzerns: Ralf Schuler, Leiter der Parlamentsredaktion der „Bild“ / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Wer beim Springer-Verlag anheuert, unterschreibt nicht nur einen Arbeitsvertrag. Er gibt auch ein Bekenntnis ab. Als einziger unabhängiger Verlag des Landes besitzt Springer eine Art Unternehmensverfassung, Essentials genannt. Diese wurden 1967 von Axel Springer selbst formuliert und gelten in aktualisierter Version bis heute.

Es sind kurze, einprägsame Sätze: „Wir treten ein für Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und ein vereinigtes Europa.“ – „Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel.“ – „Wir befürworten das transatlantische Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa.“ – „Wir setzen uns für eine freie und soziale Marktwirtschaft ein.“ – „Wir lehnen politischen und religiösen Extremismus und jede Art von Rassismus und sexueller Diskriminierung ab“. Diese Essentials sind wichtig, um nachfolgenden Brief und den Abschied von Ralf Schuler von der Bild besser nachvollziehen zu können. 

Schuler will nicht unter der Flagge einer politischen Bewegung arbeiten

Am Mittwoch wurde bekannt, dass Schuler – Leiter der Parlamentsredaktion der Bild und seit 1994, zunächst als freier Mitarbeiter, mit Unterbrechungen für den Springer-Verlag tätig – das Unternehmen in wenigen Monaten verlassen wird. Seine Kündigung habe er laut eines Berichts von Medieninsider bereits eingereicht. Mit Schuler verlässt damit demnächst einer der renommiertesten Politikjournalisten das Landes seine langjährige Wirkungsstätte. Cicero liegt in dem Zusammenhang ein Brief Schulers an den Springer-Chef Mathias Döpfner und Bild-Chefredakteur Johannes Boie vor, in dem der Journalist seine Kündigung ausführlich begründet.

Auf Cicero-Nachfrage bestätigt Schuler die Echtheit dieses Schreibens, das die Beteiligten am 6. Juli 2022 per Mail erhalten haben. Weiter kommentieren wollte Schuler den Vorgang gegenüber Cicero allerdings nicht: „Ich äußere mich zu interner Kommunikation nicht“, so Schuler. Und weiter: „Ich kann nur auf das verweisen, was ich in der öffentlich bekannten Redaktionssitzung von Bild im Dialog mit Mathias Döpfner gesagt habe: Ich bin nicht bereit, für eine politische Bewegung, welcher Art auch immer, und unter ihrer Flagge zu arbeiten. Das habe ich früher nicht getan und tue ich heute erst recht nicht.“ Im Zuge dessen verweist Schuler auch auf seine DDR-Vergangenheit und die Erfahrungen, die er damals machen musste (s. Brief und Podcast-Link). 

Döpfner schlägt sich auf die Seite der Trans-Aktivisten

Was Schuler konkret meint, ist eine interne Debatte bei Springer, die sich um die Frage dreht, wie sich der Konzern journalistisch mit der LGBTQ-Bewegung und dem von der Bundesregierung geplanten Selbstbestimmungsgesetz auseinandersetzen sollte – und damit auch, welche Aufgabe der Journalismus mit Blick auf zeitgeistige Strömungen eigentlich hat. Stein des Anstoßes war ein Anfang Juni von der Welt veröffentlichter Gastbeitrag, in dem eine Autorengruppe um den Münchener Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte unter anderem eine transaffirmative Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beklagte, weil dort, so der Vorwurf, zu positiv über Transsexualität berichtet werde. 

Der Beitrag wurde anschließend, intern wie extern, derart heftig diskutiert, dass sich Springer-Chef Döpfner entschied, einen von ihm als Reaktion verfassten Brief an die Mitarbeiter auch als Beitrag zu veröffentlichen. Doch statt die Lanze zu brechen für einen offenen Diskurs über das Thema, wie man es vom Springer-Chef eher erwartet hätte, positionierte sich Döpfner überdeutlich gegen den ursprünglichen Gastbeitrag und damit auch gegen die Autoren, die ihn verfasst haben. „Unser Haus steht für Vielfalt“, schrieb Döpfner. Und fügte hinzu: „Statt des freiheitlichen Geistes des ,jeder soll nach seiner Façon selig werden‘, raunt es hier vom Schutz der ,sittlichen Überzeugungen der Bevölkerung‘.“ Der Text habe „einen Sound, der für jeden freien toleranten Geist unangenehm ist“. 

Der Kulturkampf ums Geschlecht wird bereits handfest ausgetragen

Doch beim Beitrag allein wollte es Döpfner offenbar nicht belassen. Wie aus dem Brief Schulers an Döpfner und Boie hervorgeht, ist es in der Sache bereits zu einer „Richtungsentscheidung des Medienhauses“ gekommen, wonach sich der Konzern bei den derzeitigen Debatten auf die Seite der LGBTQ-Aktivisten schlagen will. Damit würde sich Springer allerdings auch mit einer Bewegung gemein machen, die in Teilen zunehmend radikal auftritt, Menschen, die öffentlich am binären Geschlechtersystem festhalten, diskreditiert, und versucht, die Debatte übers Geschlecht und das Selbstbestimmungsgesetz im Keim zu ersticken, in dem etwa Kritiker eines transaffirmativen Klimas im Land pauschal als „transphob“ etikettiert werden.
 

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Zudem werden Feministinnen wie Alice Schwarzer, die weiterhin auf Basis der biologischen Geschlechter für Frauenrechte eintreten wollen und die Parole „Transfrauen sind Frauen“ ablehnen, aus den Reihen der Queer- und Trans-Aktivisten als „Terfs“ beschimpft, was für „Trans-Exclusionary Radical Feminists“ steht. Dieser Kulturkampf ums Geschlecht (s. aktuelle Cicero-Titelgeschichte) geht mittlerweile so weit, dass beim jüngsten Dyke-March in Köln, einer von Lesben ins Leben gerufenen Veranstaltung, eine Gruppe Lesben angegriffen wurde. Ihr Vergehen aus Sicht der Angreifer: Diese hatten ein Transparent mit der Aufschrift „Lesbe, homosexuell, nicht queer“ enthüllt sowie eine Regenbogenflagge dabei, auf der „LGB“ stand, was für Lesben, Schwule und Bisexuelle steht. Eine Frau wurde bei dem Angriff verletzt. 

Cicero veröffentlicht Schulers Brief in Gänze

Dass sich nun ausgerechnet der Springer-Konzern, der laut Essentials für Freiheit und Demokratie eintritt, einem offenen und kritischen Dialog verweigern will, so jedenfalls der Vorwurf, und sich stattdessen auf eine Seite schlägt, stößt nicht nur Schuler sauer auf. In Teilen der Belegschaft, so hört man, gibt es große Zweifel bis klare Ablehnung, was den Kurs in der Sache betrifft. Gar von einem „Trauma“ bei manchen Springer-Journalisten ist die Rede, die sich vom Vorstoß Döpfners überrumpelt fühlten und Zweifel haben, inwieweit Springer noch den liberalen Geist atmet. Selbst renommierte Journalisten sollen sich deshalb weigern, sich an der Diskussion um LGBTQ zu beteiligen. Und die Frage drängt sich auf, ob der Richtungsentscheid der Springer-Führungsetage überhaupt in Einklang steht mit den von Axel Springer festgeschriebenen Werten. 

Kürzlich hatte bereits die Journalistin Judith Sevinç Basad die Bild verlassen und in einem öffentlichen Brief an Döpfner harsche Kritik geäußert. Sie schrieb unter anderem: 

„Der Grund für meine Kündigung ist am Ende der Umgang von Axel Springer, also auch Ihr Umgang, mit der woken Bewegung. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr über die Gefahren berichten kann, die von dieser gesellschaftlichen Bewegung ausgehen. Und ich habe das Gefühl, dass der gesamte Verlag in dieser Sache nicht mehr hinter mir steht. Keine Thematik hat mich als Journalistin so sehr um den Verstand gebracht wie der Aktivismus einer kleinen Minderheit, die offiziell behauptet, für Diversität zu stehen, aber eine im Kern radikale Ideologie verfolgt.“

Nach Basad wird nun auch Schuler das Unternehmen verlassen, wobei seine Kündigung den internen Streit bei Springer nochmal auf eine ganz andere Ebene hebt. Als Leiter der Parlamentsredaktion stand er zuletzt nämlich wie kein zweiter für die politische Berichterstattung des Boulevardblattes, das nach wie vor – gedruckt wie online – die größte journalistische Reichweite im Land hat. In seinem Brief an Mathias Döpfner und Johannes Boie findet er für seinen Abschied klare, aber auch nachdenkliche Worte. Cicero hat sich entschieden, Schulers Brief in Gänze zu veröffentlichen: 

Sehr geehrter Herr Dr. Döpfner, lieber Johannes,

der Abschied von BILD und vom Haus Axel Springer fällt mir nicht leicht. Ich habe dem Verlag viel, sehr viel zu verdanken. Und es gibt wohl kein Medienhaus, mit dem ich mich so lange und umfassend identifizieren konnte. Meine ersten Kontakte zur WELT stammen aus den 80er Jahren, als meine Großmutter bei Westbesuchen Manuskripte und Fotos über die Grenze schmuggelte. Es ging um die brutalen Zustände in Ceausescus Rumänien, das ich zu dieser Zeit intensiv bereiste. Die Texte brauchte die WELT natürlich nicht, man hatte ja eigene Korrespondenten, ließ an die Westberliner Verwandten per Deckadresse aber dennoch einen Scheck mit 100 DM Informationshonorar schicken. 100 DM – ein Vermögen!

Dass ich dennoch gehe, hängt leider auch mit Richtungsentscheidungen des Medienhauses zusammen, die ich nicht mittragen kann und möchte. Ich kann nach wie vor alle fünf Unternehmensgrundsätze aus vollem Herzen unterschreiben. Es sind durchweg Freiheitsrechte, von denen es etwa beim Existenzrecht Israels schmerzhaft genug ist, dass man sie überhaupt noch immer postulieren muss. Das Existenzrecht jedes souveränen Staates ist ganz selbstverständlich unverhandelbar und sollte unantastbar sein. Dass es das doch nicht ist, zeigt der Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Auch dass wir uns gegen „religiösen Extremismus und jede Art von Rassismus und sexueller Diskriminierung“ wenden, ist gut und wichtig. Jedwede Diskriminierung ist von Übel. Sich gegen Diskriminierung zu wenden, bedeutet aber nicht, sich die Agenda der LGBTQ-Bewegung zu eigen zu machen, wie wir es derzeit tun. Im Geiste Axel Springers treten wir selbstverständlich im besten freiheitlich-bürgerlichen Sinne für die Rechte des Einzelnen ein, diskriminierungsfrei zu leben, solange er niemandes Freiheit beschneidet.

Das bedeutet aber ausdrücklich nicht, dass wir „fest an der Seite der LGBTQ-Community im eisenharten Kampf für Menschenrechte und gegen Diskriminierung“ stehen, wie es ein stellvertretender BILD-Chefredakteur im täglichen Briefing dieser Tage schrieb. Vom stalinistischen Schwulst der Formulierung einmal abgesehen, stehe ich keiner politischen Bewegung „fest zur Seite“ und halte dies auch ganz grundsätzlich NICHT für die Aufgabe von Journalisten.

Anstatt Stimme der Massen und der Vernunft zu sein, haben wir jüngst in einem Kommentar die freie Wahl der Geschlechter als eine Frage des Respekts bezeichnet und mussten zwei Tage später (vom gleichen Autor übrigens) gegen die wissenschaftsfeindlichen Auswüchse der gleichen Regenbogen-Community kommentieren, die einen schlichten Bio-Vortrag an der Humboldt-Universität verhinderte. Und das, obwohl die Militanz dieser Community von Anfang an bekannt war und ist. Im 21. Jahrhundert verhindern die Ritter des Regenbogens an einer traditionsreichen Forschungsstätte einen Vortrag, der im Grunde biologisches Abitur-Wissen vermitteln wollte.

Ganz gleich, ob die Abteilung People & Culture ein munteres Eigenleben führt oder gezielt eine Konzern-Strategie umsetzt: Es ist nicht meine. Axel Springer produziert plump-alberne Aufkleber, als sei die sexuelle Orientierung eine Art hipper Lifestyle („oh deer – I’m queer“) und macht sich zum Banner-Träger einer Bewegung, die einen festen Gesellschaftsentwurf mit Sprach- und Schreibvorschriften anstrebt und glaubt berechtigt zu sein, der Mehrheitsgesellschaft einen politischen Kanon bis hin zum Wechsel des Geschlechtseintrags oder Quotierungen diktieren zu können. Es kann auch nicht sein, dass Aktivisten im vorpolitischen Raum – etwa durch Ausladung von Axel Springer von einer Job-Messe – Druck im Sinne ihrer Agenda machen und der Queer-Beauftragte der Bundesregierung öffentlich „Hinweise“ gibt, welchen Wissenschaftlern in der WELT besser kein Forum zu bieten sei. Dass da nicht bei allen Demokraten die Alarmglocken läuten, verwundert mich bis heute. Es sind viele kleine Dinge, die sich hier zu einem unguten Bild formen.

Kurz: Die Regenbogen-Fahne ist nicht nur ein Zeichen von Toleranz und Empathie, wie wir es  gern hätten, sondern auch das Banner einer Bewegung, mit der man sich kritisch auseinandersetzen kann und muss, mit der man sich aus meiner Sicht aber keinesfalls gemein machen darf. Es mag sein, dass unternehmensstrategische Erwägungen da zu anderen Schlüssen führen. 

Vielleicht bin ich auch aus biografischen Gründen besonders sensibel, wenn sich wieder jemand aufmacht, unter den Schlagworten Diversity und Vielfalt ideologische Gesellschaftsentwürfe anzustreben. Kurz: Ich verteidige jederzeit die Freiheit des Einzelnen, schließe mich aber keinen Kampfgruppen welcher Couleur auch immer an und möchte unter der Regenbogen-Fahne genauso wenig arbeiten, wie unter den Flaggen anderer Bewegungen.

Dabei geht es nicht nur um das Thema der sexuellen Identität, sondern es geht im viel größeren Sinne darum, ob die Marke BILD als klassische Boulevard-Marke im besten Sinne Massenmarke bleibt oder sich laustarken Micro-Milieus oder internationalen Wirtschaftseliten verpflichtet fühlt. Ich hielte das für eine tödliche Bedrohung des Markenkerns.

An meiner Wehmut beim Abschied ändert das gleichwohl nichts.

Ralf Schuler

6. Juli 2022

Hören Sie auch den Cicero-Podcast mit Ralf Schuler. Darin geht der Journalist unter anderem ausführlich auf seine DDR-Vergangenheit ein. 
 

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