Radiohead-Jubiläum: 25 Jahre „OK Computer“ - Ein Triumph düsterer Hellsichtigkeit

Vor genau 25 Jahren erschien die LP „OK Computer“ der britischen Alternativ-Rockband Radiohead. Vielen gilt sie als Meilenstein und eines der zehn besten Alben der Popgeschichte. Und tatsächlich markiert das Album eine Zäsur. Vor allem aber erweist es sich nach einem Vierteljahrhundert als hellsichtige und prophetische Dekonstruktion der Werte unserer selbstverliebten Gesellschaft.

Kein entspannter Dudel-Pop für den Feierabend: Thom Yorke bei einem Konzert 1996, ein Jahr später erscheint „OK Computer“ / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Wir schreiben das Jahr 1997. Vor acht Jahren ist die Mauer gefallen. Die Welt ist offen. Alles scheint möglich. Der Politologe Francis Fukuyama hat das Ende der Geschichte ausgerufen. Es scheint nur noch eine Richtung zu geben: schöner, weiter, liberaler, moderner, wohlhabender, friedlicher. Mobiltelefone halten Einzug in das Straßenbild. Das Internetzeitalter beginnt.

Und auch politisch stehen die Zeichen auf Fortschritt: Seit vier Jahren regiert der Demokrat Bill Clinton im Weißen Haus. In Großbritannien wird Tony Blair zum Premierminister gewählt. Der junge Rechtsanwalt gilt vielen als Hoffnungsträger, ist er doch dabei, die Idee der Sozialdemokratie von stickigem Gewerkschaftsmief und lähmender Sentimentalität zu befreien. „Cool Britannia“ heißt der Slogan der Stunde. Politik meets Pop. In Deutschland schickt sich ein gewisser Gerhard Schröder an, Blairs Stil und Programmatik erfolgreich zu kopieren. Cool Germany statt bleierner Kohljahre. Eine neue Politikergeneration hebt an, unsere Gesellschaften endgültig bunter, flexibler, gerechter und fortschrittlicher zu machen.

Kontrast zur heilen Welt der Fortschrittsgläubigen 

Den Sound der Jahre liefern Britpop-Bands wie Oasis und Blur. Noel Gallagher, mit seinem Bruder Liam Kopf von Oasis, sucht bewusst die Nähe zu Blairs New Labour. Man gibt sich rebellisch, subversiv und hedonistisch. Doch die Subversion ist angepasste Subversion. Es ist Rebellion im Rahmen des Gewünschten. Alles soll im neuen, coolen Großbritannien nach Aufbruch, Reform und Zukunft schmecken – und die Popmusik orchestriert den Soundtrack dazu.

In diese heile Welt fortschrittsgläubiger Spießer und sozialdemokratischer Künstler platzt am 13. Juni 1997 die neue Platte von Radiohead: „OK Computer“. Radiohead ist zu diesem Zeitpunkt keine Unbekannte. Mitte der 1980er Jahre in Abingdon von Thom Yorke, Ed O'Brien, Phil Selway, Colin Greenwood und dessen Bruder Jonny unter anderem Namen gegründet, benennt sich die Band 1992 in Radiohead um. Im selben Jahr hat sie ihren ersten großen Hit: die Single „Creep“. Der Song wird für Radiohead das, was ein paar Jahre zuvor „Smells like Teen Spirit“ für Nirvana war: ein großer Erfolg, der drohte, die Band für immer festzulegen. Jahrelang weigern sie sich, das Lied auf Konzerten zu spielen. Die erste LP „Pablo Honey“ verkauft sich mäßig.

Zwei Jahre später erscheint „The Bends“, das in Großbritannien immerhin auf Platz vier der LP-Charts landet (in Deutschland lediglich auf Platz 73). Darauf der Song „My Iron Lung“, in dem es heißt: „This, this is our new song, just like the last one, a total waste of time”. Klarer lässt sich kaum ausdrücken, was man vom Zeitgeist, der Musikindustrie und dem Publikum denkt, das beides am Laufen hält. Doch dann kommt „OK Computer“.

Profunde Sozialkritik trifft musikalischen Expressionismus

Schon das zweite Stück des Albums ist mehr als ein Statement. „Paranoid Android“ ist nur oberflächlich betrachtet ein Song. Eigentlich handelt es sich um Musikfragmente, die mal nebeneinanderstehen, mal ineinander verwoben sind. Dazu säuselt Thom Yorke in seinem entrückt-klagenden Falsett: „Please could you stop the noise? I'm trying to get some rest”. Und: „When I am king, you will be first against the wall with your opinion”. Denn: „Ambition makes you look pretty ugly kicking and squealing Gucci little piggy”.

Die Stimme mag paranoid sein, die Gesellschaft jedoch besteht aus Androiden, gesteuert, gelenkt und programmiert von einer Propaganda, die diese Programmierung als Freiheit erleben lässt: „The yuppies networking, the panic, the vomit“.

Vor der Arbeit an „OK Computer“ hatte Yorke Noam Chomskys und Edward S. Hermans „Manufacturing Consent“ gelesen. Die Autoren analysieren darin dezidiert die Mechanismen moderner Propaganda in kapitalistisch geprägten Demokratien, der Manipulation der öffentlichen Meinung, das Herstellen eines angeblichen Konsenses, in dessen Namen dann zwischen legitimen und nicht legitimen Ansichten unterschieden wird.

Abarbeiten am Doppeldenk der westlichen Leistungsgesellschaft

Deutlich wird die Chomsky-Lektüre in den großartigen „Let Down“ und „Karma Police“: „Karma police, arrest this girl, her Hitler hairdo is making me feel ill.” Die Botschaft ist unmissverständlich: „This is what you'll get when you mess with us.” Das Ergebnis: „Let down and hanging around, crushed like a bug in the ground, let down and hanging around, shell smashed, juices flowing, wings twitch legs are going.”

Nein, Radiohead liefern keinen entspannten Dudel-Pop für den Feierabend. Hier werden textlich und musikalisch Grenzen markiert. Am deutlichsten wird das bei „Fitter Happier“. Ein Popsong im engeren Sinne ist der Track schon nicht mehr. Das Stück setzt ein mit einer Computerstimme, die Werbeslogans und Alltagsphrasen unserer Leistungsgesellschaft rezitiert: „Fitter happier, more productive, comfortable, not drinking too much, regular exercise at the gym (3 days a week).“ Doch langsam kippt der Text ins subtil Bedrohliche, flankiert von einem entsprechenden Sound: „At a better pace, slower and more calculated, no chance of escape, now self-employed, concerned (but powerless), an empowered and informed member of society.” Aber die informierten Mitglieder unserer Gesellschaft sind nichts anderes als abgerichtete Nutzer einer Konsum- und Medienmatrix: „Ruhig, fitter, gesünder, produktiver“.

Seit ihrer ersten Platte arbeiten sich Radiohead an dem Doppeldenk ab, das sich in westlichen Gesellschaften breit gemacht hat. Meinungskorridore für mehr Demokratie, Uniformität für mehr Vielfalt, Waffen für Frieden. Und keiner lacht. Warum auch? Die Experten sagen ja, das sei so richtig und notwendig.

In OK Computer verbindet sich diese Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des sich abzeichnenden digitalen Kapitalismus zu einer paranoiden Stimmung, die alle Songs durchzieht und musikalisch getragen wird von Strukturen und einem Klangbild, das sich endgültig von jedem Britpop verabschiedet hat. Ein fantastisches Stück Musik. Für viele Fachleute eines des zehn besten Alben der Popgeschichte. Das mag sein. Oder auch nicht.

Mit Sicherheit aber ist „OK Computer“ eine Zäsur. Nicht nur musikalisch, sondern auch in seiner düsteren Hellsichtigkeit.

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