Psychologie - Der Terror der Geschwätzwissenschaften

Wir leben in einer Gesellschaft, die alles durchpsychologisiert und psychopathologisert. Doch unter dem Deckmantel der Wissenschaft wird viel zeitgeistiger Unsinn verkauft

Kraft tanken beim „Waldbaden“: Der Zeitgeist und die Psychotherapie bringen immer neue absurde Disziplinen hervor / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. med. Burkhard Voß ist Neurologe und Psychiater und Autor von „Deutschland auf dem Weg in die Anstalt“ (Solibro Verlag).

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Ja, es gibt, sie, die Krachmacher, die Lauten, die Rüpel, die Handyterroristen, Kampfradler, aggressiven Huper und lethargisch-ignoranten Nichtblinker, dickfelligen Eltern und Hundebesitzer, die ein Restaurant im Nullkommanichts in eine Mischung aus Kita für schwer erziehbare Kinder und Hundezwinger verwandeln. Wir haben sie langst, die Rüpelrepublik, die schon 2011 in einer Ausgabe des Spiegels zum Hauptthema gemacht wurde.  Doch immer stärker nervt auch eine seit Jahren stetig größer werdende Gruppe der Gesellschaft, die sich hyperreflexiv und dauersensibel von allem genervt fühlt, sei es durch Zigarettenqualm, Parfümduft, Kindergeschrei, Klartext, Vogelgezwitscher oder den Ehepartner.

Geradezu die Hölle auf Erden ist natürlich der Arbeitsplatz, von Burn-out ganz zu schweigen. Auch erklären sie andauernd, warum etwas wann genau nicht geht. Der Grund ist natürlich, dass ihnen das „nicht guttut“. Ihre eigene Befindlichkeit ist ihnen sehr wichtig, die der anderen, nun ja, man muss schon Prioritäten setzen. Sowieso scheint sich alles nur noch um subjektives Fühlen und Erleben zu drehen. Dass „postfaktisch“ 2016 zum Wort des Jahres gewählt wurde, geschah nicht aus einer Laune heraus. Wie fühlt sich das an, fühle ich mich da wohl, was macht das mit mir, möchte ich das jetzt wirklich? Das sind wohl die Maximen der Wellness-Ära.

Dauerreflexive und Hypersensible 

Es ist sicher kein Zufall, wenn die Kolumnistin und Bestsellerautorin Amelie Fried von einer „Wohlfühldiktatur“ spricht. Unter Psychologen und Therapeuten ist sie mit dieser Meinung aber ganz klar in einer Außenseiterposition. Denn diese stricken in ihrer Ratgeberliteratur die Märchen von Burn-out, Achtsamkeit als Lebenschance und Depression als unvermeidbarem Tribut an die Leistungsgesellschaft ständig weiter. Womit wir bei den psychotherapeutischen Krankheitserfindern sind, die mit immer aberwitzigeren Kreationen, wie einer Gesamtschulphobie eine ganze Gesellschaft mit System erst durchpsychologisieren und dann psychopathologisieren. Doch dies funktioniert nicht nur in eine Richtung, auch umgekehrt wirken Zeitgeistverirrungen auf die Psychologie ein.

Wie postmoderne Philosophie, bei der nur noch subjektive Sichtweisen gelten oder Gender-Mainstreaming, bei dem das natürliche Geschlecht nicht mehr existiert, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese reichen auch schon vollkommen aus, um die Normalität Stück für Stück abzutragen. Was das dann für eine Gesellschaft bedeutet, kann noch nicht genau prognostiziert werden. Eines kann man aber schon jetzt sagen: Das Ergebnis wird den Dauerreflexiven und Hypersensiblen ganz bestimmt nicht gefallen.

Keine Therapie ist die beste Therapie

Denn in einer Gesellschaft, in der sich jeder seine Privatwirklichkeit zurechtzimmert und immer größere Gruppen nicht mehr miteinander reden können, wird es immer nerviger werden. Doch beim rein Nervigen bleibt es nicht. Im übertragenen Sinne ist es wahrlich nicht übertrieben, es als Terror zu bezeichnen, wenn einem in einer vermeintlich freien Gesellschaft gebetsmühlenartig Partialsichtweisen aufgedrängt werden, die einer kritischen Überprüfung nicht nur nicht Stand halten, sondern dann auch noch als angeblich herrschende Meinung ausgegeben werden. Ein Beispiel ist die Dauerberieselung über die psychologische Betreuung bei Opfern von Naturkatastrophen, Entführungen, Kriegserlebnissen etc., obwohl man genau weiß, dass der weitaus überwiegende Teil auch ohne psychologische Betreuung damit fertig wird. So haben Untersuchungen nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 ergeben, dass die Opferangehörigen am besten mit dem Verlust umgehen konnten, die KEINE Therapie in Anspruch genommen hatten.

Die Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin, überschreitet diese aber bei Weitem. Kein anderes Gebiet ist so eng mit dem Zeitgeist und seinen Verirrungen in Wechselwirkung. An so manche Erkrankung und Hypothese wurde über Jahre geglaubt, bis sie dann revidiert oder als schlichtweg falsch bezeichnet wurde. Exemplarisch sei hier das Sissy-Syndrom genannt, bei dem besonders aktiven und leicht untergewichtigen Frauen eine Depression unterstellt wurde. Sieht man von den bedeutsamen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Alzheimer, bipolare Erkrankungen ab, so passen viele psychische Störungen wie ein Schlüssel in das kulturelle Schloss.

Psychokitsch und Modediagnosen 

Wer ist schuld an Psychokitsch und Modediagnosen? Ganz wesentlich Psychoanalyse, postmoderne Philosophie und Gender Mainstreaming. Die Psychoanalyse entlehnt viel aus der griechischen Mythologie und noch viel mehr aus autobiografischen Erlebnissen ihres Erfinders Sigmund Freud. Was Freud neurotisch verarbeitete, müsste auch bei allen seinen Mitmenschen so ablaufen – so seine Lehre. Die analytische Theorie ist ein Nebenfluss des magischen Denkens. Mit ihr kann letztlich alles psychopathologisiert werden. Man kann sie mit einer Auffassung vergleichen, die von einer Gruppe primitiver Stammesangehöriger entwickelt wurde, welche ein Auto mit laufendem Motor auffinden, einen überzeugenden Zusammenhang zwischen dem Treten auf das Gaspedal und dem Vorwärtsfahren entdecken und unter der Motorhaube, die sie nicht öffnen können, einen großen Hamster in einem Rad postulieren, welcher als Antrieb fungiert. Von Kolben und Zylindern können sie nichts wissen. So wurde die Psychoanalyse, wie der Marxismus, zum ideologischen Dinosaurier des 19ten und 20ten Jahrhunderts. 

Die postmoderne Philosophie hat sich verabschiedet von Empirie und Fakten. Gender-Mainstreaming schließlich meint, dass es ein biologisches Geschlecht gar nicht gäbe und letztlich alles eine Frage von Machtverhältnissen und Diskurs sei. Geschlechter gäbe es viele, und jeder könne sich völlig losgelöst von der Biologie eines aussuchen. Nach der derzeitigen Gender-Ideologie soll es über 60 Geschlechtsidentitäten beziehungsweise soziale Konstrukte geben. Ich fragte mal einen Ordinarius für Psychopharmakologie, was für ein Zeug man eigentlich nehme müsste, um auf so etwas zu kommen. Er grübelt heute noch… Inzwischen gibt es mindestens 173 Gender-Professuren in den geisteswissenschaftlichen Bereichen an deutschen Unis und Fachhochschulen, die nahezu ausschließlich mit Frauen besetzt sind. Die davon ausgehenden Diskussionen sind häufig datenfrei und von blinden Flecken geprägt.

Naturwissen- oder Geschwätzwissenschaften? 

Das passt auch zu der ideologischen Agitation, die mit widersprüchlichen Zielen verbunden ist. Denn wie lässt sich die Gleichheit von Mann und Frau mit einer besonderen Frauenkultur vereinbaren? Was hat das Ganze mit Medizin zu tun? Jede Menge. Das Geld, das in diese Pseudowissenschaft fließt, fehlt den Wissenschaften, die diesen Namen auch verdienen. So auch der Medizin. Denn die Gender-Professuren sind streng zu trennen von den Forschungen der geschlechtsspezifischen Medizin. Nicht nur beim Herzinfarkt, sondern bei immer mehr Erkrankungen wird entdeckt, dass geschlechtsspezifische Einflüsse eine wesentliche Bedeutung für Symptomatik und Behandlung haben.

Das Arbeiten nach naturwissenschaftlichen Kriterien ist hier eine Selbstverständlichkeit. Das Gegenteil ist bei den Genderforscherinnen in den Geisteswissenschaften der Fall. Dort werden Sätze rausgehauen wie: „Naturwissenschaften konstruieren Wissen, dass dem gesellschaftlichen System zuarbeitet“ oder „Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft ist ein verdeckter männlicher Habitus“.  Doch dabei bleibt es nicht. Genderforscherinnen brüten fleißig weiter und fordern beispielsweise, dass Fotos der Hirschbrunft aus der Werbebroschüre für den Nationalpark Eifel herausgenommen werden müssten, da sie stereotype Geschlechterrollen fördern.

Auch sollten geschlechtergerechte Verkehrszeichen entworfen werden, neben dem Ampelmännchen sollte es ein Ampelweibchen mit einem Zopf geben. Im Berliner Politikbetrieb wird darüber ernsthaft diskutiert. Über die Wiedergabe sekundärer Geschlechtsmerkmale lag noch ein Hauch von Contenance. Man kann sich darüber amüsieren. Aber das Amüsement hört spätestens dann auf, wenn für diesen geisteswissenschaftlichen Unsinn Geld ausgegeben wird. Seid politisch, schärfte der US-amerikanische Kardiologe Bernard Lown („Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken“) seinen Studenten ein. Er hat Recht. Denn nur so können wir langfristig bestimmen, wo unser Geld hinfließt. Ob in Naturwissenschaften oder in Geschwätzwissenschaften.   

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