„Fiktionen“ von Markus Gabriel - Wie entwirklicht ist die Wirklichkeit?

Der Philosoph Markus Gabriel analysiert die Unterschiede zwischen Schein und Sein. In einer Welt voller Lügen ist dieses Buch eine gute Hilfestellung.

Einhörner hinter dem Mond? Der Begründer des Neuen Realismus legt ein Standardwerk vor / Jill Senft
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Den Philosophen und Vielschreiber Markus Gabriel muss es dreimal geben. In Variante eins schreibt der emsige Professor an der Universität Bonn dicke Bestseller. Sie tragen einprägsame Titel wie „Warum es die Welt nicht gibt“ oder „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“. In Variante zwei ist er ein recht redseliger Zeitzeuge, der von Corona bis Digitalisierung einen Bauchladen voll intellektueller Krämerware vor sich herträgt. Und in Variante drei schließlich ist er ein exzellenter Philosoph, der sich auf abgehobene Weise mit Fragen von Ontologie und Erkenntnistheorie beschäftigt. 

Klingt abgefahren, doch von der philosophischen Grundausstattung her wäre eine solche Mehrfachexistenz des Philosophen gar kein Problem: Bereits 2013 hat der Erfinder des sogenannten „Neuen Realismus“ in seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ behauptet, dass es nach seinem Erkenntnisstand eventuell auch Einhörner auf der Rückseite des Mondes geben könne; warum dann also nicht auch einen dreifachen Gabriel?

Klingt kompliziert? Ist es auch.

Philosoph Nummer drei jedenfalls, und das ist für diese kleine Rezension ausschlaggebend, hat jetzt ein Buch unter dem Titel „Fiktionen“ vorgelegt. Ein Grundlagenwerk, das in nicht ganz leicht zugänglicher Sprache nicht weniger als eine realistische Philosophie der Fiktionalität auf mehr als 600 Seiten unterbreiten möchte. Warum es derlei gerade jetzt braucht? Weil im Spannungsverhältnis von Schein und Sein einiges durcheinandergeraten zu sein scheint. Wo mancherorts nur noch Lügen, Bots und Fake News die Welt dominieren, machen sich andernorts fleißige Faktenchecker auf die Suche nach ein bisschen Restrealität. Das moderne Subjekt steht derweil staunend daneben und taumelt in einer zunehmend ortlosen Welt ohne Horizont herum. 

Dass derlei Bilder trügerisch sind, beweist der Shootingstar der deutschen Philosophie, indem er Bewusstsein und Wahrnehmung fein säuberlich seziert und uns als die Wahrnehmenden in ein neues Verhältnis zu den wahrgenommenen Objekten um uns herum verstrickt. Klingt kompliziert? Ist es auch. Doch wer bei diesem Buch durchhält, wird am Ende mit neuer Bodenhaftung belohnt. Ralf Hanselle

Markus Gabriel: Fiktionen. Suhrkamp, Berlin 2020. 636 Seiten, 32 €.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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