Die Pandemie schlägt zurück - Weltbürger aus der Zukunft 

Nichts wird mehr so sein, wie es war, Corona ist der größte Einschnitt der letzten Jahrzehnte. So kann man vielfach lesen. Doch wie tief ist dieser Einschnitt wirklich? Welche Macht hat die Pandemie? Und wie reagiert die Politik darauf?

Die Pandemie läutet ein neues Zeitalter ein – die Moderne 2.0 / dpa
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Autoreninfo

Christian Illies lehrt Philosophie in Bamberg und ist Autor von „Philosophische Anthropologie im Biologischen“.

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„Unser bisheriger Lebensstil wird nicht zurückkehren“ meint der Historiker Niall Ferguson. Und in der Tat hat das Virus für viele viel verändert. Der Gastwirt muss endgültig sein Lokal schließen, eine Familie zerbricht an den Spannungen der Lockdownsituation, und am Grab des Coronatoten kann die Mutter nicht einmal ihre Tochter in den Arm nehmen. Auch der Schuldenberg, dessen Stellen vor dem Komma man kaum zählen kann, wird uns noch lange lähmen, ebenso wie manche Regelung oder politische Entscheidung sich als überraschend zählebig erweisen könnten.

Aber ändert sich wirklich so viel Grundsätzliches? Die Reden vom Epochenbruch scheinen zu vollmundig wie auch Giorgio Agambens dunkle Befürchtungen nicht eintrafen, wir kämen zu einer Diktatur des permanenten Ausnahmezustandes. Wenn sich die Viruswolken über dem Schlachtfeld der Weltgeschichte verzogen haben, werden wir vermutlich weitgehend die alten politischen Verhältnisse, Probleme und Spannungen erblicken unter einer Sonne, die weiter unbarmherzig Wälder und Felder verdorren lässt. Und auch der alte Adam wird vermutlich wieder in Gestalt des konsumgierigen globalen Freizeitwesens massenweise und distanzlos in Shoppingmals drängen.

Die Pandemie ist ein geschichtlicher Einschnitt

Aber doch ist die Pandemie ein geschichtlicher Einschnitt: Denn sie zeigt uns jetzt schon eine Zukunft, auf die wir uns hinbewegen. Nicht weil die Weltgeschichte durch die Krankheit eine unerwartete Wende genommen hätte, sondern weil längst stattfindende Prozesse teilweise beschleunigt werden – wie das Homeoffice, den Bedeutungsverlust der USA, der Gleichschaltung Honkongs durch China –, und weil jetzt auch Dinge geschehen, die eigentlich nur mögliche Zukunftsszenarien darstellen – wie die starke staatliche Kontrolle des Verhaltens aller Bürger. Wie die Glaskugel eines Hellsehers gewährt die Covid-19-Tröpfchenwolke einen schemenhaften Blick in die Zukunft, im Guten wie im Schlechten.

Die Pandemie gewährt diesen Blick nach vorne, weil sie selbst ganz ein Kind unserer Zeit und ihrer Entwicklungen ist. In der Pandemie steigern sich alle Kräfte, die unsere Moderne kennzeichnen. Ein Wesensmerkmal der Moderne ist die geballte ökonomische Macht, die sich auch an den ungeheuren Geldmengen zeigt, die durch die Pandemie in Bewegung gesetzt wurden.  

Beschwörung der wissenschaftlich-technischen Macht

Aber auch neuste Techniken und kaum erprobte Möglichkeiten werden durch die fast unbegrenzt zur Verfügung gestellten Ressourcen vorangetrieben oder überhaupt erst eingeführt. Und die wissenschaftlich-technische Macht wird durch die Pandemie beschworen, ein weiteres Merkmal der Moderne.

Covid-19 trat von Anfang an in naturwissenschaftlich-technischen Begriffen und Kategorien auf, anders als etwa die Anschläge auf das World-Trade-Center, die in der oft archaischen Sprache und Logik terroristischer Anschläge und religiöser Fanatismen erlebt wurde – selbst wenn solche Fundamentalismen ebenfalls ein modernes Phänomen sind. Die Pandemie fordert als Antwort fortschrittlichste Mittel wie eine High-Tech Medizin mit Intensivbetten, Beatmungsgeräten und das leistungsfähige Gesundheitssystem der Gegenwart, wie sie auch alle Hoffnungen auf einen hypermodernen RNA-Impfstoffs aus dem Labor richtet.

Die Moderne – orientierungslos, widersprüchlich und selbstzerstörerisch

Die Moderne ist aber nicht nur höchst rational und effizient, sondern in unheimlicher Gleichzeitigkeit oft orientierungslos, widersprüchlich und selbstzerstörerisch. Anders als es der Vernunftoptimismus annahm, sind deswegen Vorhersagen oft kaum möglich. Auch diese dunkle Seite der Moderne erleben wir während der Pandemie in aller Schärfe: In derselben Zeitung können wir oft nebeneinander beruhigende wie beunruhigende Zahlen lesen, oder Zahlen, die kaum zu deuten sind.

Wir können von wissenschaftlichen Ergebnissen hören und deren Wert in Frage gestellt finden, oder stoßen auf den Rat einiger Experten, den Mundschutz anzulegen, während andere diesen für überflüssig erklären. Selten war sich die Wissenschaft so uneins, selten zeigte sich auch ihre ambivalente Haltung zur Politik so deutlich. Wie in einem Zeitraffer macht die Pandemie sichtbar, dass manche Sicherheiten und Stabilitäten verschwimmen und vieles fluide erscheint.

Die „permanente Liminalität“

Die Soziologen Arpad Szakolczai und Bjørn Thomassen sehen in dieser „permanenten Liminalität“, also in ständigen Übergangen das entscheidende Kennzeichen der Moderne. Wie anschaulich wird uns das vor Augen geführt in den Wellen wandelnder Empfehlungen und Regelungen, Meinungen, Einschätzungen und Prognosen. Und selbst die Wirklichkeit des ganzen Geschehens scheint für viele kaum fassbar.

Die Pandemie ist zugleich medial omnipräsent und in Bildern gestapelter Särge manchmal bedrohlich real, andererseits oft derart unsichtbar, dass viele Menschen niemanden kennen, der erkrankt ist und lautstark die Existenz des Virus bestreiten. Wie passend ist da, dass Viren ohnehin als Inbegriff liminalen Seins gelten können. Nicht nur, weil sie sich mit ständigen Mutationen der Bindungsstellen an der Oberfläche dem Zugriff entwinden, weswegen wir jedes Jahr neue Grippeimpfungen benötigen, sondern auch, weil das Virus selbst ein Grenzgebilde zwischen Lebewesen und bloßem Molekül darstellt, das nur auf Kosten anderen Lebens existiert. 

Die Pandemie fordert uns heraus

Die Pandemie fordert uns so heraus. Durch ihre Vorwegnahme von Zukünftigen verlangt sie eine geistige Reaktion, ein Nachdenken darüber, wohin wir eigentlich gehen wollen. Obgleich vieles noch unsicherer geworden ist, müssen wir uns fragen, wie wir diese unterschiedlichen Entwicklungen einschätzen, wo wir sie als Wegbahner besserer Möglichkeiten und wo als Gefahr oder Menetekel einer bedrohlichen Globalisierung und Lebensform sehen, die wir lieber begrenzen sollten. Denken beispielsweise wir an das jetzt flächendeckend eingeführte Homeoffice in fast allen Bereichen bis hin zu ärztlichen Sprechstunden und Online-Lehre.

Martin Rees, Hofastronom der englischen Königin und emeritierter Professor für Kosmologie und Astrophysik in Cambridge, prognostizierte gerade in der Times, dass die Krise dringend erforderliche Reformen im Universitätsbereich beschleunige, die endlich das Studium flexibler mache, etwa durch einen verstärkten Online-Unterricht. Andere dagegen sehen gerade in der Online-Lehre das Ende aller wirklichen Lehre durch den Verlust direkten Austauschs und einen weiteren Schritt in Richtung Funktionalisierung der Bildung zur reinen Wissensvermittlung an den Universitäten.

Absperrung Menschen als sinnbildlicher Höhepunkt

Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was als Kernbestand an unmittelbarer Lehre bewahrt werden sollte und nicht einfach nur diese Entwicklung zu akzeptieren. Ähnliches gilt für die Grenze zwischen den Sphären des Privaten und Öffentlichen, die sich im Moment noch weiter verschieben, als vielleicht uns und anderen gut tut. Und wie gehen wir damit um, wenn wir anderen Menschen und der Natur immer seltener unmittelbar begegnen, sie dafür mittelbar fast unbegrenzt zugänglich sind? Schon lange ist es so, dass Alte und Sterbende abgeschoben werden und immer mehr in Einrichtungen vereinsamen; das Sterben ist zu einem medizinischen, kaum mehr menschlichen Geschehen geworden ist.

Diese Entwicklung erfährt durch die Isolation und Absperrung Menschen in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen einen sinnbildlichen Höhepunkt. Wollen wir diese Absonderung vieler Menschen? Aber im Lockdown erleben wir das Zugleich von Atomisierung und Entfremdung des einzelnen und unsere neue mediale Vernetzung und Verbindung mit anderen in nie gekannter Intensität. Wie damit umgegangen werden kann, ist vor allem eine Frage an den Einzelnen, der hier selbst aktiv Korrektive suchen muss.  

Blick in die Glaskugel

Auch wichtige Fragen an die Politik werden in der Glaskugel sichtbar. In der Pandemie haben wir vor Augen, wie das Zusammenspiel von Experten und Politik aussehen kann. Sind sie Berater, werden sie funktionalisiert für politische Interessen, oder rücken sie in die Rolle von Entscheidern auf?

Die Pandemie zeigt einerseits in ganzer Schärfe, dass wissenschaftliche Fakten entscheidend sind und die modische Verabschiedung von jedem Wahrheitsanspruch fatal ist. Aber die Situation macht auch deutlich, dass Fakten allein keine Orientierung geben können, sondern von einer ausdrücklichen Reflexion über die angestrebten Ziele begleitet und geleitet werden müssen.

Welche Ziele hat die Politik?

Bleibt dunkel oder unausgesprochen, welche Ziele die Politik verfolgt und welches Gemeinwesen sie anstrebt, so ruft das Widerstand wach und verstärkt bei vielen den Verdacht, sogenannte Fakten seien bloße Machtinstrumente verborgener Absichten. Auch das erleben wir in der Pandemie eindringlich. Covid-19, der unheimliche Grenzüberschreiter, bestimmt heute zahlreiche Lebensbereiche so tiefgehend, dass er nach einer Deutung und Komplexitätsreduktion geradezu ruft.

Erklärungen, aber auch Vermutungen und Verdächtigungen sprießen daher wild aus dem Boden und ziehen die Linien zwischen Gut und Verteufelung tiefer und tiefer in das soziale Gefüge. Gerade Politiker können aus der Pandemie lernen, wie wichtig es ist, ihre Entscheidungen sorgsam zu treffen, transparent zu kommunizieren und zu rechtfertigen, weil nur so stabiles, langfristiges Vertrauen zu gewinnen ist.

Die Pandemie toppt die Globalisierung

Die Pandemie lässt sich so als Zuspitzung vieler moderner Entwicklungen sehen. Vieles, was um uns bereits in Gärung war, ist plötzlich erfahrbare Realität. Vor allem ist die Pandemie ganz global, globaler als wir es sind. Der Soziologe Ulrich Beck nannte die Gegenwart eine „Zweite Moderne“, weil sie traditionelle, auch nationale Grenzen hinter sich lasse und eine immer stärkere Globalisierung und Annäherung an eine Weltgesellschaft zeige. Das Virus hat es bereits ganz erreicht. In kürzester Zeit hat es sich bei allen Völker und Nationen eingebürgert, findet sich unter Premierministern wie Migranten, und geht in chinesischen Großstädten und brasilianischen Favelas ein und aus wie im Weißen Haus in Washington.

Wenn es schon heute einen wirklichen Weltbürger gibt, dann das geschlechts- und ortlose Covid-19. Aber dieser Weltbürger sieht so anders aus, als wir alle dachten, er ist eine Karikatur des Erhofften; als hätte sich diesmal das weltgeschichtliche Ereignis schon beim ersten Mal als Tragödie und als Farce ereignet. Als dieser Weltbürger fordert uns Covid-19 eindringlich auf, die Grundfrage nach den Grenzen sinnvoller Globalisierung zu stellen. Wir erleben nationale Abschottungen, grenzüberschreitende Gefahren aber auch eine weltweite Hilfe und einen Austausch von Wissen.

Staatengemeinschaften als Retter

Die Leistungsfähigkeit dezentraler Gesundheitssysteme in der Krise hat beispielsweise gezeigt, welche Bedeutung entschlossenes Zusammenwirken hat, aber auch wie bedeutsam das Subsidaritätsprinzips ist, nachdem Staaten oder Staatsgemeinschaften nur dort die Dinge global oder zentral regeln sollten, wo die Möglichkeiten unterer Ebenen nicht ausreichen. Es lohnt ohne naiven Fortschrittsglaubens abzuwägen, welche grenzen und Bahnen wir der Globalisierung setzen und wo sie gefährlich, wo segensreich und wo sie notwendig ist. 

Glaskugeln lassen nur eine mögliche Zukunft aufschimmern, da sind sie wie der Geist der kommenden Weihnacht, der dem verbitterten Scrooge in Charles Dickens Weihnachtsgeschichte erscheint. Aber wenn man Glaskugeln gegen die Sonne hält, dann funktionieren sie auch als Brenngläser, mit dem sich mancherlei entzünden lässt. Im Moment sind es oft die Gemüter, aber vielleicht gelingt es uns, im Brennpunkt der pandemischen Glaskugel unser Nachdenken darüber zu entfachen, welche Moderne wir eigentlich wollen und was für uns Menschen gut ist.

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