„Othering“ - Vom Anerkennen des Anderen

Andere als anders wahrzunehmen, das sei diskriminierend, so die Logik der Neuen Linken und der Philosophin Myisha Cherry. Dabei gehört Anderssein zum Menschsein und man kann es natürlich wertschätzen. Dies einfach auszublenden, ist schlicht großer Unsinn

Unterschiede gibt es viele. Und man kann sie wertschätzen, statt sie zu verbieten / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Die Hölle, das sind die Anderen“, heißt es bei Jean-Paul Sartre. Die Hölle sind die Anderen bei Sartre jedoch nicht, weil sie wirklich anders, also fremd sind. Der Andere ist vielmehr die Hölle, weil er ein Dritter ist. Oder anders: Das Höllische am Anderen ist nicht sein Anderssein, sondern seine schlichte Existenz. Dadurch, dass der andere existiert, konfrontiert er mich mit mir selbst, mit meinen Lebenslügen, meinem Scheitern. Das macht den Anderen zur Qual. Soweit zumindest Sartre. Aus heutiger Sicht wirkt Sartres Analyse etwas überzogen und arg dramatisch. Aber immerhin spürt man bei Sartre noch den unbedingten Willen, wirklich radikal zu denken.

Radikal sein, will sicher auch die Harvard-Philosophin Myisha Cherry. Nur mit dem Denken, da klappt es nicht so ganz. Zumindest wenn man ihren Artikel von letzten Dienstag in der Süddeutschen Zeitung zum Maßstab nimmt. Dort nämlich beschäftigt sie sich mit dem sogenannten „Othering“, was man etwas frei mit „Andersmachen“ übersetzen könnte. Das „Andersmachen“ ist in der Logik der Neuen Linken, also von Gender-, Post-Colonial- und Critical-Whiteness-Theoretikern, so ziemlich das Schlimmste, was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann. Denn Andere als Andere wahrzunehmen, so das unterkomplexe Argument, ist Diskriminierung und also menschenverachtend.

Normen des Normalseins

Dass wir in einer globalisierten Welt dem Anderen zwangsläufig permanent begegnen und in der Wertschätzung des Anderen auch etwas Großartiges liegt, ist dabei auch Frau Cherry aufgefallen. Das Andere sei nun einmal eine Tatsache, räumt die Philosophin daher ein. Eine Bedrohung für jedes politische oder moralische Anliegen läge jedoch darin, wie wir andere sehen und behandeln. Und hier kommt das Othering ins Spiel, das Andersmachen. Indem wir nämlich Andere als Andere betrachten, so Cherry, schließen wir sie aus. Andere als Andere anzusehen, bedeutet Normen des Normalseins zu erstellen und dadurch diejenigen zu diskriminieren, die diese Normen nicht erfüllen. Durch das Andersmachen, so Cherry, schließt man daher nicht nur aus der eigenen Gruppe aus, sondern aus der Menschheit an sich.

Das ist natürlich ein grandioser Unsinn, zeigt jedoch, wie man in Teilen des akademischen Milieus fühlt – von Denken kann hier eher nicht die Rede sein. Denn der Andere bekommt seine Würde als Anderer erst dadurch, dass ich ihn als Anderen wahrnehme und auch so bezeichne. Kindisch und intellektuell ungenügend ist es jedoch, die Andersartigkeit im Namen der Diversity zu feiern, zugleich aber die Wahrnehmung dieser Andersartigkeit als diskriminierend, inhuman und – darum geht es ja im Kern – rassistisch zu brandmarken. Kindisch ist es, weil eine erwachsene, ausgereifte Persönlichkeit ihr Anderssein verarbeiten können sollte. Intellektuell ungenügend ist das Ganze, weil vom Andersseins auf Ausschluss aus der ganzen Menschheit geschlossen wird. Das aber ist falsch.

Kulturen sind regionale Normierungssysteme

Der Grund: Die Normalität, die jede Gruppe, Sippe oder Kulturgemeinschaft für sich behauptet, ist immer eine lokale Normalität. Dass in weniger globalisierten Zeiten, Menschen ihre jeweilige Kultur als die einzig wahre Menschheitskultur wahrgenommen haben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kulturen eben regionale Normierungssysteme sind.

Wenn ein Kulturkreis, eine Nation oder eine lokale Kultur sich als „wir“ begreift, so schließt dieses „wir“ zwar andere aus der jeweiligen Gemeinschaft aus, aber natürlich nicht aus der Menschheit an sich. Im Gegenteil, denn Menschheit bedeutet eben Pluralismus der Normen, Werte und Lebensformen.

Der westliche Mensch in seinem Individualisten will außergewöhnlich sein und ganz einzigartig. Wenn andere ihn jedoch als Anderen wahrnehmen, so empfindet er das als größtmögliche Kränkung. Man will nicht normal sein, aber als normal behandelt werden.

Frau Cherry hat, wie sie selbst schreibt, auf diesen Widerspruch keine Antwort. Ihre Lösung liegt daher darin, der Normalität des Durchschnittsspießers die Exzeptionalität des multikulturellen Universalisten entgegenzustellen. Oder anders: Die Normen eines exklusiven akademischen Milieus sollen zur Norm für alle werden.Das ist nicht nur Ausdruck einer intellektuell verbrämten Ignoranz, sondern auch gefährlich. Denn es gibt keine universale Normalität und sie ist auch gar nicht erstrebenswert.

Normalität ist immer regional. Wer universale Normalität anstrebt, wird regionale beseitigen also Kulturen nivellieren. Das Ergebnis wäre eine Brave New World normativ globalisierter Lemminge. Und diese Welt wäre dann die wahre Hölle, eben weil es keine Anderen mehr gäbe.

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