Oswald Spengler - Vor Kaiserreichen sei gewarnt

Oswald Spenglers einfluss­reiches Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ erschien vor hundert Jahren. Hat es uns heute noch etwas zu sagen?

Erschienen in Ausgabe
Der Untergang ist kein Privileg des Abendlands – und unvermeidbar, denn er gehorcht welthistorischen Gesetzen / Jan Robert Dünnweller
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es war das meistgelesene Sachbuch der Weimarer Republik: Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. Erschienen vor hundert Jahren, im letzten Kriegsjahr 1918, ging es schon 1922 in die 47. Auflage. Bis 1938 wurden insgesamt über 200 000 Exemplare verkauft. Kein Werk hat das Denken dieser Zeit mehr geprägt.

Gelesen haben sie es alle: Für Thomas Mann war es ein „Buch voller Schicksalsliebe und Tapferkeit der Erkenntnis“, später diskreditierte er Spengler als „Defätisten“. Der Soziologe Georg Simmel sah in dem Bestseller die „wichtigste Geschichtsphilosophie seit Hegel“. Der Theologe Friedrich Gogarten jubelte, nun sei der Zeitpunkt gekommen, „wo das Vertrauen auf die Entwicklung und die Kultur den Todesstoß bekommt“. Der Schriftsteller André Malraux, Kulturminister unter Charles de Gaulle, würdigte noch 1974 „Spenglers enormen Beitrag zur Geistesgeschichte“. Egon Friedell nannte Spengler den „vielleicht stärksten und farbigsten Denker, der seit Nietzsche auf deutschem Boden erschienen ist“, würdigte die „funkelnde und gefüllte Geistigkeit“ im „Untergang“ und begriff seine eigene Kulturgeschichte doch als Konterpart: mit mehr Metaphysik und weniger Materialismus – so Friedells Lektüreeindrücke.

Der Erfolg beruhte auf einem Missverständnis

Martin Heidegger empfand Spenglers „laute Gespreiztheit“ als „einfach lächerlich“, was ihn allerdings nicht davon abhielt, seine Technikkritik im Wesentlichen an derjenigen Spenglers anzulehnen. Für Kurt Tucholsky war Spengler der „Karl May der Philosophie“, und Walter Benjamin beschimpfte ihn als „trivialen Sauhund“. Der Philosoph Max Scheler konnte sich den Erfolg des Buches „nur aus der Niederlage Deutschlands im Kriege“ erklären. Allein der Titel des Werkes traf den Nerv der Zeit, das Bewusstsein eines allgemeinen Niedergangs. Doch Spenglers Werk war keine Reaktion auf die Niederlage Deutschlands. Dagegen spricht schon die Chronologie. Immerhin begann Spengler bereits 1911 mit Vorarbeiten zu seinem Buch. 1914 war das Manuskript weitestgehend abgeschlossen. Noch im Vorwort vom Dezember 1917 zeigte sich der Autor von einem deutschen Sieg überzeugt.

Der Erfolg des „Untergangs“ beruhte also auf einem großen Missverständnis. Das wird auch klar, sobald man in das Buch hineinschaut. Nicht der Untergang des Kaiserreichs war für Spengler ein Symptom der Krise, sondern dessen erwarteter Aufstieg zur Weltmacht. Denn nach dem Sieg, so Spengler im Oktober 1914 an seinen früheren Kollegen Hans Klöres, „wird ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen, der Kunst, Adel, Kirche, Weltanschauung zu einem Materialismus auflöst“. Vor allem aber: Der kulturelle Untergang ist nichts spezifisch Okzidentales, im Gegenteil. Weltkulturen sind für Spengler wie Organismen. Sie werden groß, gedeihen, erblühen, erreichen eine Phase maximaler Entfaltung und vergehen danach schrittweise. Der Untergang ist somit kein Privileg des Abendlands. Und vermeidbar ist er auch nicht, denn er gehorcht welthistorischen Gesetzen.

Spenglers Hauptwerk versteht sich als Universalgeschichte

Geboren wird Spengler 1880 in Blankenburg im Harz als Sohn eines Postsekretärs. Seine Mutter Pauline war die ältere Schwester der berühmten Balletteuse Adele Grantzow. Ab 1899 studiert er Mathematik, Naturwissenschaft und Philosophie, erst in Halle, dann in München und Berlin. Nach Promotion und Staatsexamen ging er auf Wunsch der Mutter in den Schuldienst. Dort hielt es ihn nicht lang. Eine kleine Erbschaft ermöglichte ihm ab 1911 ein Leben als unabhängiger Literat in München-Schwabing. Es ist die zweite Marokkokrise im selben Jahr, der „Panthersprung nach Agadir“, die zum Schlüsselerlebnis wird. Spengler – nicht nur er – sah im diplomatischen Einlenken Deutschlands und dem Verzicht des Reiches auf Ansprüche in Marokko eine nationale Schande. Er begann nach den Gründen zu suchen und fand sie in der Weltgeschichte. Deren Gesetze galt es also zu erforschen. Acht Wochen nach „Agadir“, wird er später behaupten, sei der „Untergang“ fertig gewesen.

Ein sicheres Zeichen, dass eine Kultur ihre Endphase in Gestalt der Zivilisation erreicht hat, ist laut Spengler das Entstehen von Weltstädten

Spenglers Hauptwerk versteht sich als Universalgeschichte. Sein Ziel ist es, historische Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten und durch Kulturvergleiche zu bestimmen. Insgesamt unterscheidet Spengler acht Weltkulturen: die babylonische, ägyptische, chinesische, indische, mittelamerikanische, antike, abendländische und die „magische“ Kultur, zu der er die arabische, jüdische und byzantinische zählt. Diese Kulturen stellen für Spengler jeweils organische Ganzheiten dar, die durch ein sie bestimmendes Formprinzip gekennzeichnet sind, das ihre Künste, ihre Literatur, ihre Mythen, Religionen und Wissenschaften prägt.

Diese „Geschichtsmorphologie“ wirkt heute kurios, war jedoch Spenglers ganzer methodischer Stolz. Dabei ist seine auf biologischen Bildern beruhende zyklische Kulturtheorie bei weitem nicht so originell, wie von ihm behauptet. Schon 1856 hatte etwa der Münchner Altphilologe Ernst von Lasaulx den Gedanken entwickelt, dass das Leben der Völker „nach bestimmten biologischen Gesetzen verläuft, in Kindheit, Jugend, Mannesalter, Greisenalter“. Der Name Lasaulx taucht nirgendwo in Spenglers Werk auf. Gleiches gilt für Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, den Doyen der deutschen klassischen Philologie. Der hatte aufgrund von Kulturvergleichen 20 Jahre vor Spengler die Vorstellung eines kontinuierlichen Verlaufs der Weltgeschichte zurückgewiesen und den Glauben an einen ewigen Fortschritt als Wahn bezeichnet.

Spengler war sozusagen der erste Globalisierungskritiker

Dass Spengler sein Epigonentum bewusst war, wird im schon erwähnten Vorwort deutlich. In einer Mischung aus Chuzpe und gespielter Bescheidenheit schreibt er: „Ein Gedanke von historischer Notwendigkeit, ein Gedanke also, der nicht in eine Epoche fällt, sondern der Epoche macht, ist nur in beschränktem Sinne das Eigentum dessen, dem seine Urheberschaft zuteilwird. Er gehört der ganzen Zeit.“ Das gilt insbesondere für die zwei Schlüsselbegriffe in Spenglers Werk: Kultur und Zivilisation. „Kultur“ steht dabei für das Wertvolle, Lebendige, Ursprüngliche und Unverbrauchte, „Zivilisation“ für alles Erstarrte, Tote, Technokratische und Sterile.

Jede große Weltkultur durchläuft, so Spengler, „die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ Am Anfang sind Kulturen noch dumpf, verworren, suchend. Je reifer eine Kultur jedoch wird, „desto männlicher, herber, beherrschter“ ist sie, „desto gewisser ist sie im Gefühl ihrer Kraft, desto klarer werden ihre Züge“. Im Herbst ihres Lebens dann erfahren Kulturen eine letzte Verfeinerung, die aber schon ihre Zerbrechlichkeit anzeigt. In Europa entspricht diese Phase dem Barock. Schließlich, „im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der Seele“. Die Kultur erhebt sich zu einem rückschauenden Klassizismus, dann zu einer ihre Vergangenheit verklärenden Romantik. „Endlich verliert sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust am Dasein.“ Dieser Punkt ist in der abendländischen Geschichte im 19. Jahrhundert erreicht, mit dem Sieg von Technik, Industrialisierung, Kapitalismus. Aus diesem Grundschema ergibt sich die eigentliche Fragestellung: „Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts geringeres als das Problem der Zivilisation.“

Ein sicheres Zeichen, dass eine Kultur ihre Endphase in Gestalt der Zivilisation erreicht hat, sei das Entstehen von Weltstädten. Sie bestimmen zunehmend den Gang der Geschichte, das Ländliche werde abgewertet, die Zivilisation urban. Daher gilt: „Weltgeschichte ist Stadtgeschichte.“ Der permanente Drang der Zivilisation nach Ausdehnung, Wachstum und Unterwerfung, der sich im Ausbreiten der Weltstädte zeigt, manifestiert sich für Spengler vor allem im Imperialismus. Wendet die lebendige Kultur sich nach innen, so richtet sich die tote Zivilisation nach außen, sie wird expansiv: „Imperialismus ist reine Zivilisation.“ So tötet das Zivilisatorische nicht nur die eigene, sondern auch noch fremde Kulturen. Wer die weltweiten Kollateralschäden der Globalisierung betrachtet, wird Spenglers Diagnose teilweise nachvollziehen können. Spengler, könnte man sagen, ist einer der ersten Globalisierungskritiker.

Kein Grund für abendländische Überlegenheitsfantasien

Wogegen der Kulturphilosoph am schärfsten polemisiert, sind die unterschiedlichen Varianten eines universalen Fortschrittsoptimismus. Geschichte, hämmert Spengler seinen Lesern ein, kenne keinen Fortschritt. Kulturen kommen, Kulturen vergehen. Der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts, sei es in seiner marxistischen oder technisch aufgeklärten bürgerlichen Form, ist bei ihm Symptom des Niedergangs: „Die Menschheit hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat.“

Da die Weltgeschichte bei Spengler kein Telos hat, gibt es auch keinen Königsweg dorthin. Das bedeutet zugleich, dass alle Weltkulturen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Auch die abendländische Kultur ist eine unter anderen. Für Überlegenheitsfantasien gibt es keinen Grund. Die Geschichte des Abendlands wird nicht endlos sein, „sondern ein in Hinsicht auf Form und Dauer streng begrenztes und unausweichlich bestimmtes Einzelereignis“. Es war diese Botschaft, die seine Zeitgenossen so erschütterte. Spenglers pluralistischer Kulturrelativismus ist angesichts der Debatten um einen möglichen Kampf der Kulturen, etwa bei Samuel Huntington, hochaktuell und zugleich eine Mahnung. Denn die insbesondere bei Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur so beliebte Annahme vom Sieg einer liberalen Universalkultur ist aus seiner Sicht absurd und gefährlich.

Und wenn Spengler doch recht hatte?

Auch Thesen vom Ende der Geschichte, wie sie von dem Politologen Francis Fukuyama vertreten wurden, zeigen aus Sicht Spenglers ein tiefes historisches Unverständnis, charakteristisch für die abendländische Zivilisation in ihrer Spätphase. Dann nämlich geht ihr genau das verloren, was sie vor anderen Kulturen auszeichnet: das historische Denken, also „die Einsicht in den historisch-relativen Charakter seiner Ereignisse“. Besonders bemerkenswert sind aus heutiger Sicht Spenglers Überlegungen zur „zweiten Religiosität“. Darunter versteht er eine Rückkehr der Religion in der Phase der Zivilisation, die auf den Formeln und Symbolen der schon verschwunden geglaubten alten Religiosität aufbaut und eine angeblich authentische Volksreligiosität synthetisch wiederzubeleben versucht. Selten wurde das Entstehen des modernen Fundamentalismus hellsichtiger beschrieben: „Zuerst verliert sich der Rationalismus, dann kommen die Gestalten der Frühzeit zum Vorschein, zuletzt ist es die ganze Welt der primitiven Religion, die vor den großen Formen des Frühglaubens zurückgewichen war und nun in einem volkstümlichen Synkretismus, der auf dieser Stufe keiner Kultur fehlt, mächtig wieder hervordringt.“

Seit Jahrzehnten gehört es zum guten Ton, sich über Spengler zu amüsieren und jede Form von Kulturpessimismus abzukanzeln. Theodor W. Adorno mahnte jedoch anlässlich von Oswald Spenglers 70. Geburtstag: „Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten.“

Illustrationen: Jan Robert Dünnweller

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.














 

 

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